„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgeschichte (S.93-112), Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg (S.113-131), ‚Heinrich von Ofterdingen‘ als Nachrichtenfluß (S.132-159), Weltatem. Über Wagners Medientechnologie (S.160-180), Die Stadt ist ein Medium (S.181-197), Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät (S.198-213), Signal-Rausch-Abstand (S.214-231), Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing (S.232-252), Unconditional Surrender (S.253-271), Protected Mode (S.272-284), Es gibt keine Software (S.285-299), Il fiore delle truppe scelte (S.300-326)

1. Seele
2. Technik und Geld
3. Intelligente Infra-Struktur
4. Statistisches Generieren von ‚Sinn‘
5. Software oder nicht Software?

Trotz Kittlers genauer Beobachtungen zur Differenz von Wort und Sound, von Literatur und Medien, bleiben seine Äußerungen zum Verhältnis von Technik und Geld ambivalent. In seinem Aufsatz „Der Gott der Ohren“ (1982) hebt Kittler noch das enge Bündnis zwischen beiden hervor, indem er zum einen die Produktion von LPs als eine „Kapitalmaschine“ beschreibt, deren „Geldströme()“ von dem „decodierten, deterritorialisierten Strom des Wahns“ gespeist werden, „dessen unmittelbare Realisierung der elektrische ist.()“ (Vgl. Kittler 2013/1982, S.60-75: 62)

Mit der unmittelbaren Realisierung dieser Kapitalmaschine in Form von Elektrizität beschreibt Kittler einen Kreislauf von digitalisierter Technik und digitalisiertem Geld, wie ich ihn hier schon anhand von Christina von Brauns „Der Preis des Geldes“ (2/2012) diskutiert habe. (Vgl. meine Posts vom 25.11., 05.12. und vom 15.12.2012) Den mit dem nominalistischen Geld verbundenen Nihilismus bringt Kittler auf eine kurze und bündige Formel: „Denn wo Geld und Wahnsinn sind, fallen alle Einschränkungen.“ (Kittler 2013/1982, S.66)

In seinem Aufsatz „Weltatem. Über Wagners Medientechnologie“ (1986) scheint Kittler das aber anders zu sehen: „Der Ring der Nibelungen steht für Macht, nicht für Geld.() Und die einzige Macht, die nicht zugrunde geht, wenn am Ende der Tetralogie Dämmerung über die Götter kommt, ist eine technische.“ (Kittler 2013/1986, S.161) – Damit ist gemeint, daß „der große Ingenieur Alberich“ (Kittler 2013/1986, S.161), Wagners „Medientechniker“ (Kittler 2013/1986, S.167), als einziger die Götterdämmerung überlebt.

Technik und Geld werden hier voneinander unterschieden, in dem Sinne, daß Technik eine ‚Macht‘ sei und Geld irgendwie nicht. Eine seltsame, nicht so recht überzeugende Differenzierung. Das hat möglicherweise etwas mit Kittlers Entgegensetzung von Literatur und Sound zu tun. Die Alphabetisierung thematisiert Kittler nur als eine im Vergleich zum Sound minderwertige Medientechnologie, die das reale Rauschen nicht einzufangen vermag. Der Leser mußte sich von den Buchstaben in einem Roman ‚gemeint‘ fühlen (vgl. Kittler 2013/1985, S.100), um ihrer seriellen Abfolge einen inneren Phantasiefilm hinzufügen zu können, der sich dann vor unserem geistigen Auge abspulte wie ein Kinofilm: „Der Buchstabe wurde übersprungen, das Buch vergessen, bis irgendwo zwischen den Zeilen eine Halluzination erschien – das reine Signifikat der Druckzeichen.“ (Kittler 2013/1985, S.99)

Elektrische Film- und Tontechniken hingegen nehmen dem menschlichen Zuschauer und Zuhörer diese Phantasiearbeit ab, weshalb sie auch für „Dumme“ nachvollziehbar sind. (Vgl. Kittler 2013/1985, S.102, und Kittler 2013/1986, S.162) Kittler greift hier ironisch eine Argumentationsfigur auf, die seit Platon und Rousseau immer wieder neu eingeführte Medien wie eben das Alphabet und den Buchdruck, und in deren Nachfolge wieder andere das Kino und das Fernsehen, verdächtigt haben, den Menschen daran zu hindern, selber zu denken.

Was Kittler hier übersieht, ist die zeitliche Nähe der Erfindung des Alphabets und der Einführung des Geldes um 800/700 vor unserer Zeitrechnung, wie sie Christina von Braun beschrieben hat. Und Christina von Braun beschreibt auch, wie mit dem Alphabet, also mit der Vokalisierung, der ‚Sound‘ selbst in die Schrift Eingang gefunden hatte; gewissermaßen ‚geschrieben‘ wurde, wie Kittler doppeldeutig sagen würde. Kittler würde das natürlich bestreiten. Denn das Alphabet ‚schreibt‘ nicht das ‚Rauschen‘, wie die technischen Medien, sondern nur den ‚Laut‘ bzw. den ‚Klang‘.

Aber damit entgeht Kittler genau die Technizität, die schon dem Alphabet eigen ist und die zur Erfindung des nominalistischen Geldes führte, das schließlich wiederum in die modernen Technologien mündete. Diese Technizität besteht nämlich genau in der Entkörperlichung des Menschen, wie sie Kittler so genau mit den elektrischen Medien thematisiert, die die menschlichen Sinnesorgane überwinden und auf diese Weise überflüssig machen, indem sie sich, als ‚Sound‘, direkt in unserem Gehirn implementieren. (Vgl. Kittler 2013/1982, S.60-75)

Möglicherweise ist das der Grund, warum Kittler mit dem Verhältnis von Technik und Geld nicht so recht etwas anfangen kann. Ihm entgeht bei seiner genealogischen Herleitung von Seele und Geist aus einem kulturellen Prozeß der ‚Einfleischung‘ einer „Lüge“, die verschleiert, daß es andere sind, die an unserer Stelle sprechen, daß es sich hier längst nicht mehr um eine „Priestermoral“ handelt, sondern schlicht um den „Schleier des Geldes“. (Vgl. Kittler 2013/1979, S.35f. und meinen Post vom 05.12.2012)

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