„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 20. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

I. Emergenz einer historischen Sensibilität: Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität (S.9-25), Nietzsche (1844-1900) (S.26-40), Lullaby of Birdland (S.41-59), Der Gott der Ohren (S.60-75), Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennezwerk der Jahrhundertwende (S.76-90)

1. Verdopplungen und Tautologien
2. Phantasmen statt Phänomene; Imagination statt Bewußtsein
3. Wahnsinn als Wahrheit der technischen Welt
4. Expressivität

In meinem Post vom 17.11.2013 hatte ich schon angemerkt, daß Kittler von Verdopplungen und Tautologien spricht, weil er die rekursive Kompetenz des ‚sogenannten‘ Menschen ignoriert. Das zeigt sich auch in seiner Feststellung, daß niemand „bei seinen eigenen Worten“ weinen könne. (Vgl. Kittler 2013/1979, S.43)

Damit widerspricht sich Kittler gleich auf doppelte Weise: zum einen, weil er kurz vor der Feststellung dieser angeblichen Unmöglichkeit die Geschichte wiedergibt, wie Goethe auf dem Kickelhahn beim Wiederlesen seines Gedichts „Wandrers Nachtlied“, das er fünfzig Jahre zuvor geschrieben hatte, in Tränen ausbricht (vgl. Kittler 2013/1979, S.41f.); zum anderen weil er noch im selbem Satz, in dem er diese Feststellung trifft, anfügt, daß es gar keine eigenen Worte gibt. Was allerdings, wie ich zugeben muß, auf absurde Weise wieder logisch ist: wenn es gar keine eigenen Worte gibt, kann man selbstverständlich auch nicht bei ihnen weinen. Welchen Sinn macht so ein Unsinn eigentlich?

Der Übergang zum mit dieser Feststellung eigentlich gemeinten Kontext ist also ziemlich mißlungen. Kittler will nämlich offensichtlich darauf hinaus, daß es Bewußtseinzustände und Zustände jenseits des Bewußtseins gibt, in denen ein Bei-sich-sein des Bewußtseins nicht möglich ist: „Denn der Satz ‚Ich ruhe‘ ist eine pragmatische Paradoxie. Kein Mund kann ihn sprechen, weil Schlaf und Tod das Sprechen ausschließen, so wie das Sprechen Schlaf und Tod ausschließt.“ (Kittler 2013/1979, S.43)

Gegen diese Feststellung gibt es keinen Einspruch; auch wenn man vielleicht nicht unerwähnt lassen sollte, daß man ‚Leute‘ schon hat im Schlaf sprechen hören, – wenn auch nicht ausdrücklich im Sinne von: „Ich spreche jetzt!“. Meyer-Drawe beschreibt das Einschlafen und das Aufwachen als einen „Vollzug“, ‚bei dem‘ wir zwar dabei sind, der aber ‚ohne uns‘ geschieht. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012) Das von Meyer-Drawe gemeinte ‚Dabei-sein‘ bezieht sich hier auf die bloß körperliche Anwesenheit beim Einschlafen und Aufwachen. Die Abwesenheit, das ‚ohne-uns‘, bezieht sich auf das Selbstbewußtsein. Eben das Selbstbewußtsein aber ist es, daß ein ‚Dabei-sein‘, also Rekursivität, ermöglicht. Genau deshalb ist es ja das Selbstbewußtsein.

Dennoch gibt es – wie ja auch Meyer-Drawe andeutet – auch ein Dabei-sein des Körpers, wie es Plessner als Lachen und Weinen beschrieben hat, die ‚uns‘, also unserem Selbstbewußtsein, zu Hilfe kommen, wenn wir die Kontrolle über uns und über eine Situation verlieren. (Vgl. meine Posts vom 31.12.10 bis 01.01.2011) Den Zusammenhang dieser rekursiven Mechanismen beschreibt Plessner als Körperleib.

Wir können also sehr wohl bei unseren eigenen Worten weinen. Goethe ist da keine Ausnahme. Manche nennen das despektierlich mal ‚Selbstmitleid‘, mal ‚Selbstverliebtheit‘. Es wird Zeit, beides moralisch und intellektuell ernstzunehmen.

Hinter den Worten ‚Selbstmitleid‘ und ‚Selbstverliebtheit‘ verbirgt sich die von Kittler immer wieder totgesagte Seele mit ihrem Noli-me-tangere und ihrer Expressivität, wie sie Plessner beschrieben hat. Es gibt tatsächlich auch bei Kittler Stellen, an denen er bis zu dieser Expressivität vorstößt. So spricht er von ‚Brüchen‘ und ‚symbolischen Diskordanzen‘ in den ‚Diskursordnungen‘, wie sie in den „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul Schreber“ sichtbar werden. (Vgl. Kittler 2013/1984, S.76) Damit wertet er Schreber selbst auf als jemanden, der nicht einfach nur wiederholt und verdoppelt, was ihm Paul Flechsig, sein Nervenarzt, in seinen „Privatvorlesungen“ über Hirnkrankheiten erzählt. (Vgl. Kittler 2013/1984, S.85)

Schreber ist also durchaus dazu in der Lage, trotz seiner ‚Geisteskrankheit‘, also in einem Zustand, der das normale Bewußtsein entmachtet, ‚bei sich‘ zu sein und sich seine eigenen Gedanken über das zu machen, was ihm der Neurologengott Flechsig weißzumachen versucht. Kittlers Hinweis auf Brüche und Diskordanzen entspricht Plessners Hiatus, mit dem dieser die Expressivität des Menschen begründet. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) An der Grenze zwischen Innen und Außen bricht sich der Intentionsstrahl des Menschen, und so wird sich dieser Mensch allererst seines Wollens (und Weinens und Lachens) bewußt. Es entsteht Selbstbewußtsein. Er ist ‚dabei‘, weil er ‚bei sich‘ ist. Von nun an, so Plessner, ist es sein ganzes Streben, vor sich selbst und vor anderen wie sich selbst verständlich zu werden: Expressivität.

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