„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung 
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Es gibt Stellen, an denen Mauthner zeigt, daß er verstanden hat, was Rekursivität ist. So ist Rekursivität für ihn – ähnlich wie bei Tomasello (vgl. meine Posts vom 25.04.2010 und vom 06.06. und 07.06.2012) – eine Grundvoraussetzung der menschlichen Sprache, die nur entstehen konnte, weil „jeder einzelne dem nächsten seine eigenen Wahrnehmungen und seine eigenen Willensakte zutraute.“ (Vgl. Mauthner 2/1906, S.36)

An anderer Stille kritisiert Mauthner die psychologischen Versuche mit ihren „Spekulationen über mikroskopische und chemische Nervenuntersuchungen“, die vergessen haben, daß sie bei allem Bemühen um „Präzisionsmechanik“ und empirische Objektivität letztlich immer von „uralten Selbstbeobachtung(en)“ ausgehen; Selbstbeobachtungen, die man auch den menschlichen Versuchspersonen zubilligen muß, bei denen der Experimentator nicht verhindern kann, daß sie mitdenken und so die Ergebnisse einerseits ermöglichen, aber zugleich subjektiv verfälschen: „Er (ein gewisser Hugo Münsterberg – DZ) braucht zu seinen Versuchen zwei Psychologen, einen experimentierenden und einen reagierenden Herrn; er sieht nicht, daß der experimentierende Herr gar nicht zur Sache gehört, daß der Versuch einzig und allein am reagierenden Herrn ausgeführt wird, und daß das Ergebnis völlig wertlos wäre, eine unbenannte Zahl, ohne die Selbstbeobachtung des reagierenden Herrn.“ (Mauthner 2/1906, S.242)

Mit dieser Einsicht in die rekursive Struktur psychologischer Experimente – die Versuchsperson hat Vermutungen darüber, was der Experimentator beabsichtigt, und der Experimentator ist andererseits davon abhängig, daß die Versuchsperson ihre subjektiven Erlebnisse sorgfältig registriert und zu Protokoll gibt (also sich selbst beobachtet), damit die gemessenen Daten einen Sinn erhalten – befindet sich Mauthner auf der Höhe der Problematik der aktuellen Neurophysiologie mit ihren hochartifiziellen Apparaturen.

Aber sein dogmatisches Festhalten an einer Sprachkritik, die die Sprache u.a. auch mit der Logik gleichsetzt, verleitet Mauthner dazu, das, was er hier als eine selbstverständliche Fähigkeit des Menschen konstatiert, nicht nur zur Welt, sondern auch zu sich selbst in ein Verhältnis zu treten, an anderer Stelle wieder rigoros in Abrede zu stellen.

Kommt Mauthner also immer wieder darauf zurück, daß wir schon aufgrund der Außenweltfixiertheit der Sinnesorgane bzw. der Sprache über unsere Innenwelt nichts sagen und damit auch nichts wissen können, so konstatiert er jetzt sogar eine logische Unmöglichkeit der Selbstthematisierung und damit eben auch der Selbstbeobachtung: „Zerfällen wir das Innenleben in ein vorstellendes Wesen und ein vorgestelltes, wo dann das vorstellende die Seelensubstanz wäre und das vorgestellte die seelischen Äußerungen, so ist das ein logisches Wortgefecht. Denn entweder ist das Vorgestellte und das Vorstellende ein und dasselbe oder nicht. Ist es ein und dasselbe, so ist die Zerfällung undurchführbar; ist es aber nicht dasselbe, so haben wir gar zweierlei Seelen anzunehmen, eine vorstellende, die doch nur eine sprachliche Zusammenfassung der seelischen Äußerungen ist, und eine vorgestellte, die weder in der Sprache, noch in der Vorstellung, noch sonst irgendwo ist. Diese Konstruktion müßte zur Aufstellung noch einer dritten Seele führen. Es kann nicht ein Ding zugleich Subjekt und Objekt sein ...“ (Mauthner 2/1906, S.322f.)

Eine logische Aufspaltung ein und desselben Subjekts in das Objekt seiner selbst ist aber nur dann unmöglich, wenn wir dieses Objekt als ein zweites ‚Ding‘ verstehen, das dem Subjektding gegenübersteht, die dann beide wiederum, um die Einheit des ursprünglichen Subjektdings sicherzustellen, von einem dritten Subjekt umfaßt werden müßten. Es gibt aber keinen logischen Grund, warum wir uns das Subjekt und das Objekt als zwei verschiedene und dennoch identische ‚Dinge‘ vorstellen sollten.

Mauthner selbst spricht in seinem dritten Band „Zur Grammatik und Logik“, in dem Kapitel zur Syntax (Stuttgart/Berlin 2/1913, S.185-223), nicht vom „Objekt“, sondern vom „Prädikat“. Was er also als logisch unmöglich bezeichnet, die Aufspaltung desselben Subjekts in Subjekt und Objekt, meint nichts anderes als das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat. Mit dem Prädikat bezeichnen wir lediglich einen Aspekt, eine Eigenschaft des Subjekts. Die Subjekt-Prädikatstruktur von Sätzen ermöglicht genau das, was wir mit Mauthner zu Beginn des Posts als „Selbstbeobachtung“ beschrieben haben. Wir nehmen an uns selbst Eigenschaften wahr und machen darüber Aussagen. Das ist logisch einwandfrei und überhaupt nicht unmöglich. Das, was Mauthner als logische Aufspaltung zwischen Subjekt und Objekt bezeichnet, ist nichts anderes als eine simple Prädikation.

Wenn sich Mauthner an dieser Stelle so vehement gegen eine Aufspaltung von Subjekt und Objekt wendet, so hat das seinen Grund in seiner dogmatischen Fixierung auf die Außenwelt. Wenn Sinnesorgane und Sprache ausschließlich auf die Außenwelt gerichtet sind und deshalb auch keine sinnvollen Aussagen über die Innenwelt möglich sind, dann läuft natürlich jeder Versuch, etwas über ‚sich‘ auszusagen, auf eine Projektion in die Außenwelt hinaus. Jede Selbstbeobachtung und jede Selbstaussage wird sofort zu einem Außenweltding und auf diese Weise ‚objektiviert‘. In der Außenwelt können aber nicht zwei Dinge gleichzeitig dasselbe Ding sein.

Wenn man aber mit Plessner von einer Doppelaspektivität von Innen und Außen ausgeht, so ist dasselbe Subjekt (Innen) aus einer anderen Perspektive immer zugleich auch Objekt (Außen). Die logische Ur-Teilung ist keine an der Sache selbst, sondern besteht nur in der Perspektive auf diese Sache. Selbstbeobachtung ist also möglich. Und Rekursivität.

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