„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne 
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Es sind vor allem zwei begriffliche Entscheidungen, die Mauthners obsessive Sprachkritik prägen: bei der einen Entscheidung handelt es sich darum, der Beschreibung der Sinnesphysiologie den Begriff der Zufallssinne zugrundezulegen, und bei der anderen Entscheidung handelt es sich darum, bei der Erklärung des menschlichen Verhaltens nicht auf Augenhöhe der menschlichen Phänomene zu bleiben, sondern alles auf atomare bzw. molekulare Bewegungen und Schwingungen zurückzuführen. Mit dieser begrifflichen Vorentscheidung werde ich mich im nächsten Post befassen.

Beide Begriffsentscheidungen – so viel will ich hier schon mal vorwegnehmen – machen Mauthners Sprachkritik prinzipiell unverträglich mit einer ästhesiologischen Sichtweise auf den Menschen, wie sie Plessner mit seiner „Einheit der Sinne“ (1923) systematisch entwickelt hat. (Vgl. meine Posts vom 13.07.2010 bis 15.07.2010) Es fällt direkt ins Auge, daß Mauthners Interesse an den ‚Zufallssinnen‘ zu keiner geistigen Einheit der Sinnesphysiologie führen kann; so wenig wie sein Interesse an atomaren Bewegungen das Ganze des menschlichen Verhaltens in den Blick zu bekommen vermag.

Mauthner führt das einheitliche Wahrnehmungserlebnis der Außenwelt zwar letztlich auf das Gedächtnis und seine assoziativen Mechanismen zurück (vgl. Mauthner 2/1906, S.273, 455, 463 u.ö.), aber auch hier bezeichnet er das Wort „Gedächtnis“ vor allem als ein „Gespenst“, weil die einzige Wirklichkeit des Gedächtnisses auch hier nur in den jeweiligen konkreten Erinnerungsakten besteht. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.221) Immerhin haben wir es hier mit einem Gespenst zu tun, das wir „nicht entbehren“ können, „wie anderswo nicht das Gespenst ‚Wille‘, nicht das Gespenst ‚Vorstellung‘.“ (Vgl. ebenda)

So ist für Mauthner jede Anthropologie vor allem des Anthropomorphismus verdächtig. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.36, 121, 176, 336) Jedes Mensch-Weltverhältnis, das nicht auf die zugehörigen atomaren Bewegungen zurückgeführt wird, sondern auf Verstehen und auf Intentionalität basiert, ist ihm bloß anthropomorphistisch. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.36) Und da wiederum alles vermeintliche Verstehen mit dem Wortaberglauben des Sprechens verbunden ist, bezeichnet Mauthner das Sprechen sogar als „Anthropotoxin“, als „Menschengift“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.176) Was immer Mauthner also mit seiner Sprachkritik beabsichtigt haben mag: eine Anthropologie, also ein besseres Verständnis des Menschen gehört nicht dazu.

„Zufallssinne“ nennt Mauthner die fünf klassischen Sinnesorgane, weil sie nur auf einen beschränkten Bereich der Außenweltmaterie ansprechen und weil sie dabei nicht nach einem rationalen Plan entstanden sind, sondern aus den Zufällen der biologischen Evolution hervorgegangen sind: „Der Begriff der Zufallssinne ist nichts weiter als der vorläufige Ausdruck für die trübe Gewißheit, daß unsere Sinne sich entwickelt haben, allmählich entstanden sind und zufällig entstanden sind, daß also ganz sicher Kräfte in der Wirklichkeitswelt wirken, die niemals Sinneseindrücke bei uns hervorrufen können, und daß darum – weil nichts im Denken sein kann, was nicht vorher in den Sinnen war – unser Denken schon deshalb allein niemals auch nur zu einem ähnlichen Bilde von der Wirklichkeitswelt gelangen kann. Der Begriff der Zufallssinne ist der vorläufig letzte Ausdruck der Resignation.“ (Mauthner 2/1906, S.360)

Mauthner bezeichnet die Zufallssinne auch als Sinnestore, durch die die Wirklichkeit bzw. nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit eindringt. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.74, 236, 248, 273, 276, 322, 325ff., 345, 349f., 352, 448 u.ö.) Die fünf ‚Löcher‘ der Zufallssinne bilden ein „Sieb“, und den Teil der Wirklichkeit, der durch dieses Sieb hindurchgelangt, bezeichnet Mauthner auch als „Durchfall“. (S.343ff.)

Hauptkennzeichen dieser Sinnestore ist es, daß sie ausschließlich nach außen gerichtet sind. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.235f., 248f., 252f., 295, 321f. 324ff., 345, 349f., 352, 448 u.ö.) Da aber in unserem „Verstand“, „Intellekt“, „Gedächtnis“ etc. – was sowieso alles dasselbe ist, nämlich Sprache – nichts sein kann, was nicht vorher in unseren Sinnen gewesen ist (vgl. Mauthner 2/1906, S.248, 273f., 276, 324, 336, 342, 360, 409, 448, 451f.u.ö.), können wir von unserer Innenwelt bzw. von unserer Seele, für die wir keine Sinnesorgane haben, auch nichts wissen. Es macht also keinen Sinn, über diese Innenwelt bzw. Seele irgendetwas sagen zu wollen: „Weil sich aber unsere Sinnesorgane nicht nach innen wenden lassen, weil wir keine Sinnesorgane für unsere ‚Seele‘ haben, darum wird es niemals eine Wissenschaft von der Seele geben können, darum bestrebt sich die neuere Psychologie physiologisch zu werden. Physiologie kann aber niemals Psychologie sein.“ (Mauthner 2/1906, S.235)  – Unsere Worte enthalten ausschließlich über die fünf Sinnestore vermitteltes Außenweltwissen.

Mauthner wäre nicht Mauthner, wenn er nicht trotz dieser weitgehenden Festlegung auf den Außenweltcharakter unserer Sinnesorgane an verschiedenen Stellen auch wieder das Gegenteil behaupten würde. So ‚erinnert‘ er uns z.B. daran, daß unsere Nerven ja nicht nur das Gehirn und die klassischen fünf Sinnesorgane Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Getast miteinander verbinden, sondern auch nach innen, zu den Eingeweiden hinführen: „Man braucht sich nur zu erinnern, daß es außer den Nerven, welche von äußeren Organen ausgehend, die sogenannten fünf Sinne im Gehirn bedienen, noch andere Nervenkomplexe gibt, welche das Herz und die Blutgefäße, den Magen und die Eingeweide und die Lungen bedienen und welche mitunter wirre, mitunter entzifferbare Mitteilungen ins Gehirn senden. Es ist nicht zu zweifeln, daß der ‚Seelenzustand Furcht‘ zuerst in diesem inneren Sinne sehr körperlich war, bevor er ein uns wohl erinnerliches Gefühl wurde und als solches in das Denken oder die Sprache überging.“ (Mauthner 2/1906, S.325)

Nun könnte man diese Stelle auch so auslegen, als gehörten die inneren Organe für Mauthner noch zur Außenwelt, während die eigentliche Innenwelt das Gehirn selbst wäre, für das wir tatsächlich keine Sinnesorgane haben. Dann wäre es aber schön gewesen, wenn Mauthner seine Leser auch auf diese Differenzierung der Außenwelt hinweisen würde. Mit einer Formulierung an einer ganz anderen Stelle scheint Mauthner tatsächlich so eine Differenzierung anzudeuten. Er spricht dort vom Unterschied „zwischen dem Empfinden oder der Einwirkung der Außenwelt und dem Wollen oder der Reaktion auf die Außenwelt“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.253) An dieser Stelle deutet Mauthner sogar an, daß die menschliche Seele auf der Grenze zwischen diesen beiden Richtungen, nach innen und nach außen, anzusiedeln sei.

Aber alles das muß sich der Leser mühsam zusammenlesen und zusammendenken, weil die betreffenden Stellen irgendwo im Buch verstreut sind. An anderen Stellen kommt Mauthner plötzlich durch „genaueste() Selbstbeobachtung“ zu der Einsicht, daß sogar die klassischen fünf Sinnestore nicht alle ausschließlich nach außen gerichtet sind: „Beim Geruchssinn z.B. ist es äußerst merkwürdig, daß wir den wahrgenommenen Geruch nach außen verlegen. Denn es ist zweifellos, daß nur die unmittelbare Einwirkung riechender Stoffteilchen auf die Nasenschleimhaut dort einen Geruch erzeugen kann. ... Bei genauester Selbstbeobachtung bin ich aber endlich doch zu der vollen Sicherheit gekommen, daß wir Gestank und Geruch innerhalb unseres Körpers, auf unserer Nasenschleimhaut empfinden, daß wir die Eindrücke nicht nach außen projizieren. Und ich behaupte, es ist nur eine sprachliche Gewohnheit, wenn wir von riechenden oder stinkenden Gegenständen reden. ... Habe ich damit recht, so ist es nicht wahr, daß unsere Sinne die Eindrücke nach außen werfen, daß sie uns eine Außenwelt schaffen ...“ (Mauthner 2/1906, S.349f.)

Wenn man diese Stelle liest, erzeugt sie natürlich eine gewisse Erwartungshaltung. Nimmt Mauthner jetzt alle seine bisherigen Behauptungen zurück? – Aber nein! Das hat er nicht nötig. Seine Methode, die von ihm verwendeten Begriffe mal enger mal weiter zu fassen und ganz nach Belieben dem jeweiligen Gedankengang im Buch anzupassen, erlaubt es ihm, die Außenweltfixiertheit der Sinnesorgane in die Tätigkeit des Verstandes bzw. der Sprache zu verlegen. Die „Raumvorstellung“, so Mauthner munter, „entsteht nicht durch die Sinne selbst, sondern durch unseren Verstand, durch die Sprache“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.350)

Es bleibt also alles beim Alten mit der Außenweltfixiertheit. Daß die Lage bei den Sinnesorganen vielleicht doch etwas differenzierter ist, als bisher behauptet, ändert für Mauthner nichts am Sachverhalt: über die Innenwelt können wir nichts wissen. Daß aber angeblich nichts im Verstand und in der Sprache sein könne, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei und es nun nach seinen eigenen Worten auch aus dem Inneren stammende Sinneseindrücke geben muß, wird von Mauthner nicht weiter reflektiert. Es wird eben gleich wieder alles nach außen projiziert. Ein Innenweltraum kann sich nicht eröffnen, weil Verstand und Sprache ihm dazu gar keine Zeit lassen.

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