„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 10. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Die Frage nach dem Wahrheitswert von Fallbeispielen versucht Karl Binneberg mit dem Kriterium des „reflexiven Gleichgewichts“ zu beantworten. Hierbei geht es um das Gleichgewicht zwischen Bild und Sache, also zwischen der Beispielerzählung bzw. der Falldarstellung und ihrer Analyse und Interpretation. Grundsätzlich haben wir es hierbei mit einem Plausibilitätskriterium zu tun: der Zuhörer hört der Beispielserzählung gewissermaßen an, ob sie realitätshaltig ist. Das entspricht dem von Holzkamp beschriebenen „Versuch der Selbstsubsumtion“. Hier erweist sich jeder einzelne Fall als solcher vor dem Hintergrund des Erfahrungswissens der Zuhörer als „aufklärungsbedürftig“ (Holzkamp 1995, S.440).

Unglaubwürdig im Sinne Binnebergs wird eine Falldarstellung dann, wenn der Interpretationsaufwand hinsichtlich des Beispiels zu aufwendig wird. Widerlegbar wird eine Falldarstellung allerdings nur durch innere Widersprüche in der Darstellung selbst oder durch eine andere Falldarstellung, – nicht aber durch eine Theorie oder durch unter standardisierten Bedingungen durchgeführte Experimente. Hier gibt die Falldarstellung vielmehr Anlaß zu deren Kritik und zu einem Überdenken der Gültigkeit von Theorien bzw. zu einer Neuinterpretation experimenteller Ergebnisse.

Im folgenden Beispiel für eine Falldarstellung berichtet Hans Freudenthal davon, wie sein Enkel (4;4 Jahre) zum ersten Mal Zahlenverhältnisse erkennt:
„13.8.74 bei der Mahlzeit, bei ihm zu Hause. Ein rechteckiger Tisch: Er gegenüber der – jüngeren – Schwester, sein Vater gegenüber seiner Mutter, sein Großvater gegenüber seiner Großmutter. Plötzlich beim Nachtisch – abgestreifte Johannisbeeren – erhebt er in größter Aufregung das Löffelchen und ruft aus: ‚So viel sind wir.‘ Es waren in der Tat sechs Johannisbeeren auf dem Löffel. Ich fragte ‚Warum?‘, und er antwortete erst: ‚Ich sehe es so‘, um fortzufahren: ‚Zwei Kinder, zwei Erwachsene, zwei Oma und Opa!‘ Vielleicht lagen die Johannisbeeren in derselben Konfiguration der Würfelsechs auf dem Löffel, wie wir am Tisch saßen, aber das konnte ich nicht sehen ...“ (Freudenthal in: „Plädoyer für eine pädagogische Kasuistik“ (1997), S.121)
Freudenthal interpretiert den von ihm beobachteten Lernfortschritt seines Enkels dahingehend, daß diesem hier zum ersten Mal die Zahl als „mentales Objekt“ bewußt geworden ist. D.h., daß sein Enkel zwar noch nicht zählen gelernt hat, – aber er hat die Zahl als Phänomen entdeckt. Oder um es mit Günther Buck auszudrücken: Freudenthals Enkel ist in der Lage, quantitative Proportionalitätsanalogien zu sehen. Daß Piaget zur Entwicklung mathematischer Fähigkeiten bei Kindern zu ganz anderen, dazu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen ist, kümmert Freudenthal überhaupt nicht. Vielmehr nimmt er diesen von ihm beobachteten zufälligen Einzelfall zum Anlaß, Piagets experimentell kontrollierte Untersuchungen in Zweifel zu ziehen.

Zum Schluß möchte ich hier noch zwischen drei verschiedenen Arten von ‚Fallbeispielen‘ unterscheiden. Ich unterscheide zwischen erlebten und konstruierten Falldarstellungen und literarischen Beispielerzählungen. Erlebte Falldarstellungen, wie die eben von Freudenthal vorgetragene, haben eine Verständnis erzeugende Qualität, im Sinne von Günther Bucks ursprünglicher Induktion. Konstruierte Falldarstellungen wie die von Jürgen Henningsen sind von praktischen und theoretischen Erläuterungen durchsetzt. In diesem Sinne konstruiert sind auch Graphiken und schematisierte Darstellungen aller Art, die ich, wenn es sich dabei nicht um Statistiken handelt, aufgrund ihres bildlichen Charakters den konstruierten Falldarstellungen zuordnen möchte. Sie setzen entweder schon ein gewisses Verständnis voraus oder müssen durch begleitende Erläuterungen immer wieder Verständnis sicherstellen und dienen vor allem der nachträglichen oder begleitenden Veranschaulichung. Literarische Beispielerzählungen, wie z.B. der „Emile“ von Jean-Jacques Rousseau oder „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil haben wiederum eine ursprünglich induktive und deshalb Verständnis erzeugende Qualität.


In der heutigen empirisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft geht es viel zu wenig um das, worum es in der Pädagogik letztendlich geht: um den Menschen. Dem Menschen wiederum geht es nie nur um das Einsammeln ‚objektiver‘ Daten, sondern um Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. Diese liegen aber nicht in der Reichweite von unsere körperlichen Organe verlängernden und darin von ihnen abstrahierenden Meßinstrumenten oder von soziale Kontexte reduzierenden und darin ebenfalls von ihnen abstrahierenden Medientechnologien. Sinn- und Bedeutungszusammenhänge entspringen vielmehr einer die biologische Natur des Menschen gleichzeitig übersteigenden wie in dieser ‚Natur‘ wurzelnden Geschichte des menschlichen Bewußtseins. Goethe hatte noch um einen anderen, einen humanen Sinn der Wissenschaften und darin eingeschlossen auch der Naturwissenschaft gewußt. So resümiert z.B. sein Wilhelm Meister:
„... ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen.“ (Vgl. Goethe, Werke, Bd.8, 1981/1994, S.120f.)
Download

Montag, 9. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Klaus Holzkamps grundsätzliche Kritik des Induktionsprinzips ist an der Vorstellung einer regelgeleiten Erfahrung (Vorrang des Allgemeingültigen) und eines regelgeleiteten Lernens orientiert. Diese zunächst wissenschaftstheoretisch begründete und in diesem Sinne berechtigte Voreingenommenheit für die Theorie verstellt aber den Blick auf grundlegende Momente des Erfahrungs- und Lernphänomens, wie sie Günther Buck in seinem Buch „Lernen und Erfahrung“ (3/1989) beschreibt.

Günther Buck setzt genau dort an, wo Holzkamp die Grenze seiner wissenschaftstheoretischen Bemühungen sieht: bei der Frage nach dem Anfang und ersten Grund des Wissens, also bei der heuristischen Frage, woher die Ideen kommen, die unseren Theorien zugrundeliegen, nach denen wir die Realität experimentell modellieren. Und in genau diesem Sinne versteht er ‚Induktion‘, nämlich als die lateinische Version des griechischen ‚epagoge‘ (έπαγωγή), das Buck mit „Hinführung“ übersetzt. (Vgl. Buck 3/1989, S.97ff.)

Gemeint ist die Hinführung gleichermaßen zu einem Früheren, nämlich zu einem Vorverständnis hinsichtlich des noch Unbekannten, wie auch zu einem Späteren bzw. Neuen, das wir noch nicht verstanden haben. Es geht also um eine Hinführung zu einem schon Verstandenen und zu einem noch nicht Verstandenen. Beides bezeichnet Buck als Induktion bzw. als epagoge. Und das Medium, das diese ‚Induktion‘, wie wir es im folgenden nennen wollen, ermöglicht, ist Buck zufolge das Beispiel, als „Anfang und erster Grund, von dem aus Wissen und Überzeugung (πιστις) zustande kommen.“ (Vgl. Buck 3/1989, S.97)

In diesem Sinne erfüllt das Beispiel vor allem zwei Funktionen, eine praktische bzw. pragmatische, also der Verständigung dienende Funktion und eine heuristische, dem Finden neuer Ideen dienende Funktion. Am Anfang sowohl der pragmatischen wie der heuristischen Funktion stehen also weder etwas Allgemeines noch etwas Besonderes und ihr jeweiliger induktiver oder deduktiver Ableitungszusammenhang, sondern etwas Konkretes und Individuelles, von dem her wir auf etwas kommen: bei dem, wie Buck sich ausdrückt, etwas ‚beiherspielt‘ (vgl. Buck 3/1989, , S.161), also eben das Beispiel.

Wie funktioniert also das Beispiel? Es funktioniert, so Günther Buck, vor allem analogisch. ‚Analogisch‘ meint hier allererst: es funktioniert nicht aufgrund einer Regel, die uns von einem Fall bzw. Beispiel zu einem anderen Fall bzw. Beispiel führt oder die uns von einem konkreten Fall zu einer allgemeinen Einsicht führt. Solche Regeln können zwar nachträglich rekonstruiert werden: aber der Sprung vom einen Zustand zu einem anderen Zustand geschieht regellos. Die übliche Reaktion auf eine Beispielerzählung ist dann auch, daß dem Zuhörer ein anderes, dazu passendes Beispiel einfällt, wodurch er dann auch gleichzeitig signalisiert, daß er verstanden hat. Diese Ebene des Verstehens ist fundamental für das Verstehen von Beispielen: Wir verstehen nicht aufgrund einer expliziten Regel, sondern aufgrund des Auffindens neuer, zum ersteren passender Beispiele!

Jürgen Henningsen hält in seinem Aufsatz „Kasuistik: Beispielerzählen in der Streitsituation“ (1982) fest, daß diese Art, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, die normale Umgangsweise unter pädagogischen Praktikern ist. Indem sich z.B. Lehrer gegenseitig über Vorkommnisse in ihren Unterrichtsstunden informieren, lernen sie dazu: sie üben sich in einem genaueren Blick für pädagogische Situationen und den Umgang mit ihnen.

Neben dem Nutzen für die Pragmatik profitiert die Heuristik von der analogischen Struktur von Beispielen. Da sich Beispiele nicht auf eine Regel zurückführen lassen, sind sie an den Rändern ‚unscharf‘, d.h. sie sind vieldeutig und vielfach anwendbar und interpretierbar. Der „Gang von Beispiel zu Beispiel“ bzw. von „Analogie zu Analogie“, wie Günther Buck sich ausdrückt – Jürgen Henningsen spricht vom „Hüpfen“ von „Verwendungsbeispiel zu Verwendungsbeispiel“ (Henningsen 1982, S.212f.) –, ermöglicht es dem Forscher, auf neue Ideen zu kommen.

In diesem Sinne funktionieren Beispiele nicht anders als die natürliche Sprache. Die natürliche Sprache funktioniert nur deshalb als Verständigungsmedium, weil sie nicht eindeutig festgelegt ist, – weil die Wörter einer Sprache nicht eindeutig definiert sind wie wissenschaftliche Begriffe. Beispiele wecken im Forscher Assoziationen, Erwartungen, Horizonte, Ahnungen, von denen aus er dann zu neuen Begriffen gelangen kann. Und auch die wissenschaftlichen Begriffe selbst funktionieren nicht ohne den Hintergrund einer natürlichen Sprache.

Der innovative, heuristische Charakter interdisziplinärer Forschung ist allgemein unbestritten. Auch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen haben wir es letztlich nicht mit logischen, sondern mit analogischen Beziehungen zu tun. Problematisch wird die interdisziplinäre Vorgehensweise deshalb immer dann, wenn wir anders als bei Beispielerzählungen, wo wir um deren pragmatische Dynamik sehr wohl wissen und deshalb der wissenschaftliche Status disziplinärer Begriffsbildung nicht gefährdet ist, mit den interdisziplinären Begriffsbildungsprozessen ungeachtet ihrer analogischen Struktur unmittelbar einen wissenschaftlichen Anspruch erheben und sie keinem disziplinären Eignungstest mehr unterziehen.  Die disziplinäre Tauglichkeit interdisziplinär ausgetauschter Begrifflichkeiten bleibt immer problematisch.

Mit diesem Problem haben wir es insbesondere in der Pädagogik schon seit Johann Friedrich Herbarts Zeiten zu tun, der nicht umsonst schon vor 200 Jahren das Fehlen ‚einheimischer‘ pädagogischer Begriffe beklagt hatte.

Bezogen auf die didaktische und heuristische Funktion von Beispielen spricht Buck nun von epagogischen und von apagogischen Analogien. Epagogische Analogien sind ursprüngliche Induktionen, mit deren Hilfe wir von Beispielen auf andere Beispiele kommen. Hierzu bedarf es ausschließlich der Beispielerzählung. Der Versuch einer kommentierenden Erläuterung von seiten des Erzählers zeigt im Grunde schon, daß die Beispielerzählung nicht funktioniert hat: den Zuhörern ist dazu nichts eingefallen! Die epagogische Analogie dient gleichermaßen der Lehre wie der Grundlagenforschung.

Darüberhinaus nennt Buck noch die apagogischen Analogien, die er auch im Unterschied zur ursprünglichen In-Duktion als Ab-Duktionen bezeichnet. Gemeint sind veranschaulichende Induktionen, wie z.B. Allegorien oder auch Graphiken. Sie funktionieren nicht von sich aus! Sie bedürfen der Kommentierung bzw. der Erläuterung. Eine Allegorisierung der Gerechtigkeit als blinder Frau mit Schwert und Waage bedarf der zusätzlichen Erläuterung, um den nicht Eingeweihten die Allegorie verstehen zu lassen.

Um noch einmal den Unterschied zwischen Günther Buck und Klaus Holzkamp zu zeigen, verwende ich deshalb selbst noch einnmal zwei Graphiken, in denen es um deren unterschiedliche Lernbegriffe geht. Diese Graphiken sollen selbst wiederum als Beispiele für eine Mischform aus Epagogik und Apagogik dienen: epagogisch bzw. induktiv funktioniert der Verweis auf den Motorschaden. Er soll dazu motivieren, sich an eigene Erfahrungen mit Motorschäden, aber auch an problematische pädagogische Situationen und letztlich überhaupt an Situationen zu erinnern, in denen es in Form eines Aha-Erlebnisses gelungen ist, ein Problem zu lösen. Dies bedarf keiner weiteren Erläuterung.


In der den Graphiken zugrundeliegenden Beispielgeschichte geht es um einen gerissenen Keilriemen und die Gefahr eines in der Folge auftretenden Motorschadens. Die Frage ist, wie die Kühlung des Motors sichergestellt werden kann. Das Beispiel mit dem Keilriemen dient selbst als Erläuterung der dazugehörigen Graphik, die nur apagogisch bzw. abduktiv funktioniert. Ohne diese Verbindung mit der Beispielgeschichte – und sicher auch ohne meine gleichzeitigen Erläuterungen dazu –, bliebe die Graphik unverständlich. Dennoch kann sie die von mir behandelte Problematik veranschaulichen.

Bei Buck (Abb. I) geht es nun darum, daß wir vom gerissenen Keilriemen zum Nylonstrumpfersatz nicht aufgrund theoretischen Nachdenkens kommen, sondern aufgrund einer sprunghaften Verbindung zwischen dem aktuellen Problem und nicht aktuellem Hintergrundwissen, zu dem eben auch Nylonstrümpfe gehören. Durch unsere Problemlösung wird nicht etwa unser Wissen über Motoren erweitert – daran, daß Motoren der Kühlung bedürfen, ändert sich durch unsere Entdeckung, daß man auch Nylonstrümpfe nehmen kann, gar nichts –, sondern wir haben uns lediglich im Reparieren von Motorschäden geübt.

Diese praktische Übung im Problemlösen vermehrt unsere Kompetenzen, nicht aber unser Wissen! Ein Nachweis für das Vorhandensein dieser Kompetenzen besteht nicht darin, daß wir ein Prinzip für die originelle Reparatur des Motors benennen können, sondern daß wir aufgrund der neugewonnenen Flexibilität im Umgang mit Problemen mit künftigen Motorschäden besser umgehen können.

Ganz anders Holzkamp (Abb. II): Zwar ist bei ihm wie bei Buck von einem qualitativen Lernsprung die Rede. Außerdem hat der authentische Bericht über so einen qualitativen Lernsprung motivierende Wirkung auf andere Menschen, die, so Holzkamp, ihre eigenen Lernerfahrungen damit vergleichen können und dadurch in die Lage versetzt werden, gleichermaßen die Plausibilität des gehörten Berichts zu beurteilen wie auch daran ihre bisherigen Erfahrungen eventuell neu einzuschätzen. Holzkamp nennt das die „Selbstsubsumtion“ eigener Erfahrung unter den dargestellten Fall. (Vgl. „Lernen“ (1995), S.440) So werden die Zuhörer zu Mitforschern, an deren Urteil sich die Realitätshaltigkeit des berichteten Falles erweist.

Dennoch haben wir es nach Holzkamp bei diesem qualitativen Lernsprung nicht mit einer induktiven, sondern primär theoretischen Lernleistung zu tun. In dem Moment, wo unsere bisherigen Lernprinzipien versagen, suchen wir nach einem neuen Lernprinzip, das uns eventuell weiterhilft. Dies geschieht zwar auch durch einen Sprung, wie bei der Analogie, aber dieser Sprung bringt uns auf eine neue Ebene des Wissens, und damit haben wir es mit einem Wissensfortschritt zu tun.

Im Buckschen Sinn funktioniert die Analogie also eher pragmatisch und didaktisch. Die Holzkampsche Sicht verdeutlicht eher die heuristische Funktion von Beispielgeschichten, die uns auf neue Prinzipien bzw. Ideen bringen. Beide Sichtweisen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander, wie ja auch Günther Buck immer wieder auf beide Funktionsweisen der analogischen Struktur von Beispielen verweist.

Download

Sonntag, 8. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Grundsätzlich unterscheide ich zwischen Forschung und Lehre als den zwei wesentlichen Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns. Auf beiden Ebenen haben wir es mit Problemen der Verständigung zu tun: auf der Ebene (a) wissenschaftlicher Forschung als über die Forschung im engeren Sinne hinausgehende Momente des wissenschaftlichen Diskurses über und der Publikation von aus der Forschung hervorgegangenen Daten und Ergebnissen, und auf der Ebene (b) der wissenschaftlichen Lehre als die Notwendigkeit der Darstellung und der Vermittlung nicht nur von Forschungsergebnissen, sondern auch grundlegender wissenschaftlicher Prozeduren und Haltungen.





Diese beiden Ebenen zugehörigen Verständigungsprobleme möchte ich hier als Momente der vor allem der Forschungsebene zuzuordnenden Pragmatik und der vor allem der Lehre zuzuordnenden Ebene der Didaktik beschreiben.

Pragmatische und didaktische Verständigungsprobleme beziehen sich immer auf das problematische Verhältnis von Theorie und Praxis. In ihnen geht es um Fragen nach der Bedeutung und nach der Brauchbarkeit wissenschaftlicher Forschung. Darüber hinaus geht es in ihnen aber auch ganz grundlegend in Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Problemen um die Frage der Nützlichkeit und der Begrenztheit von Wissenschaft im allgemeinen und von Technologien im besonderen.

Im engeren Sinne wissenschaftlicher Forschung stellt sich als methodisches Problem vor allem die Frage nach einer rationalen Verknüpfung von Theorie und Empirie. Empirie im weiteren Sinne umfaßt so heterogene Methoden wie das Experiment, die Statistik, die Feldforschung, die Hermeneutik, das Interview etc. Empirie im engeren Sinne eines empirischen Wissenschaftsverständnisses basiert vor allem auf dem Prinzip der Induktion, das eigentlich nur das Experiment und die kontrollierte Beobachtung meßbarer Phänomene zuläßt. Zu diesem Empirieverständnis nimmt der Psychologe Klaus Holzkamp in seiner wissenschaftstheoretischen Monographie „Wissenschaft als Handlung“ (1968) Stellung. In der Tradition von Popper beschreibt Holzkamp das Induktionsprinzip als von beobachtbaren und meßbaren Vorgängen abgeleitete Theorieentwicklung, die zu einem wissenschaftlichen Fortschritt in der Erklärung und Vorhersagbarkeit dieser Vorgänge führt. Am Anfang stehen dabei immer die beobachteten oder experimentell konstruierten Einzelfälle, und am Ende die daraus ableitbaren, Voraussagen ermöglichenden Verallgemeinerungen.

Holzkamp wendet gegen dieses Induktionsprinzip ein, daß es genau genommen eine Tautologie darstellt, die zu keinem Theoriegewinn führen kann. Angeblich soll das Induktionsprinzip Voraussagen von bekannten Gegebenheiten auf unbekannte Gegebenheiten ermöglichen. Tatsächlich handelt es sich hier aber um eine rein logische Bestimmung, in der lediglich unter der Voraussetzung gleicher Bedingungen auf das Eintreffen bestimmter Ereignisse geschlossen wird. Das ist eine logische Selbstverständlichkeit, die nichts zu der Klärung beiträgt, ob denn im gegebenen Fall tatsächlich die gleichen Bedingungen vorliegen.

Im Grunde haben wir es also mit einem infiniten Regreß zu tun, in dem das Induktionsprinzip auf sich selbst angewendet wird: Gemäß den Bestimmungen des Induktionsprinzips schließe ich unter der Voraussetzung gleicher Bedingungen von bestimmten Ereignissen auf das Eintreten anderer Ereignisse; um aber festzustellen, ob im gegebenen Fall die gleichen Bedingungen auch vorliegen, steht wiederum nur das Induktionsprinzip zur Verfügung.

Ein anderes Argument Holzkamps lautet, daß jedes empirische Ereignis unendlich viele Deutungen zuläßt. Ein trauriges Beispiel hierfür liefert der offensichtlich langsam zuendegehende Neuro-Hype, wo Neurophysiologen aufgrund dürftigster und auf problematische Weise gewonnener Daten über Gehirnprozesse weitreichende Aussagen über die Lernfähigkeit und den moralische Charakter von Menschen machen. (Vgl. meine Posts vom 05.06. und vom 06.06.2013)

Es läßt sich eben nicht ohne weiteres vom Nachweis eines bestimmten Ereignisses – selbst unter kontrollierten Laborbedingungen – auf die Richtigkeit einer bestimmten Theorie schließen. Der Wahrheitswert einer Theorie läßt sich nur sehr indirekt aus ihrer größeren Reichweite – daß sie mehr Phänomene zu erklären vermag als andere – und aus ihrer größeren Einfachheit erschließen. Nur so läßt sich auch ein wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt begründen.

Gegen das Induktionsprinzip mit seinem empirischen Primat setzt Holzkamp nun den Primat der Theorie: Experimente sind nur sinnvoll und wahrheitsfähig aufgrund einer ihnen vorausgehenden und ihnen zugrundeliegenden Theorie. Wir haben es also statt mit einem Induktions- mit einem Realisationsprinzip zu tun. Experimente realisieren eine bestimmte Hypothese und bestätigen so unter Zuhilfenahme des Exhaustionsprinzips – d.h. des Ausschlusses von ‚Störfaktoren‘ – dessen Allgemeingültigkeit. Also: erst kommen die allgemeingültigen bzw. theoretischen ‚Sätze‘, und dann kommen die experimentellen ‚Sätze‘, die ohne den Theoriebezug sinnlos sind.

Was Holzkamp in seinen wissenschaftstheoretischen Analysen nicht klären kann, ist, nach seinem eigenen Eingeständnis, wie jemand allererst auf Ideen kommt. Das ist das Problem der Heuristik. Hier spricht Holzkamp von einem Primat der subjektiven Wahrheit vor intersubjektiv begründeten, allgemeingültigen Wahrheitsansprüchen. Die „mangelnde Intersubjektivität der subjektiven Wahrheit“ ist hier, so Holzkamp, „nicht ein Ausdruck ihres illusionären, sondern ein Ausdruck ihres individuellen Charakters“. (Vgl. Holzkamp 1968, S.247) Forscher halten am Glauben an ihren subjektiven Wahrheiten berechtigter Weise auch dort fest, wo alle intersubjektiv anerkannten ‚Wahrheiten‘ ihnen widersprechen. Täten sie das nicht, gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt.

Holzkamp wendet sich nicht nur gegen das empirische Induktionsprinzip als wissenschaftliche Methode. Er bestreitet auch seine alltägliche Gültigkeit in unserer Lebenswelt. Das „Einleuchtende“ (Holzkamp 1968, S.88ff.) am Induktionsprinzip unterliegt nach Holzkamp einer Selbsttäuschung. Wo wir glauben, allein aufgrund einer einzelnen Erfahrung zu neuen Einsichten und Erkenntnissen gekommen zu sein, oft begleitet von einem Überraschungseffekt, haben wir diese Erfahrung sinnvollerweise doch nur machen können vor dem Hintergrund vorausgehender Vorurteile, Meinungen etc.

Download

Samstag, 7. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns   
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Ich habe mich schon in früheren Posts zum Thema ‚Kasuistik‘ geäußert. (Vgl.u.a. meine Posts vom 26.07.2012, und vom 15.04.09.07. und 03.08.2013) Dabei geht es für mich nicht nur um eine Methode unter vielen möglichen anderen, sondern um eine grundlegende, paradigmatische Form pädagogischen Denkens. Ich möchte das in diesem und den folgenden Posts unter Rückgriff auf einen früheren Artikel (2005) von mir und auf ein Kapitel aus meiner Habilitationsschrift (2006) weiter ausführen.

Der Begriff der Kasuistik steht für eine spezifische Form pädagogischer Empirie. Das Problem bei den empirischen Wissenschaften ist, daß sie den Begriff der Empirie verkürzen. ‚Empirie‘ ist weder zurückführbar auf formale Aussagenlogik oder Mathematik, noch ist sie gleichzusetzen mit naiver, theorieloser Evidenz, wie sie vor allem dem Erleben konkreter Situationen zuzuordnen ist. Überhaupt hat Evidenz wenig mit Beobachtungen in kontrollierten Laborsituationen zu tun.

Wissenschaftliche Empirie hat es vor allem mit zwei Aufgaben zu tun: Daten zu sammeln und zu erheben, die etwas über den Realitätsgehalt bestimmter Theorien aussagen, und deren Plausibilität anderen Forschern und interessierten Laien gegenüber zu vermitteln. Weder die Erhebungs- noch die Vermittlungsaufgabe dürfen dabei auf eine bestimmte, als ‚empirisch‘ sanktionierte Methode beschränkt werden. Damit wäre der eigentliche Auftrag der Empirie, nämlich Plausibilitäten zu vermitteln, verfehlt. Die Vermittlungsaufgabe ist erst dort gelungen, wo sie den verschiedenen Bedürfnissen und Denkweisen der interessierten Klientel gerecht wird. Und das geht nur unter der Voraussetzung, daß nicht von vornherein bestimmte Vermittlungsformen als nicht-empirisch ausgeschlossen werden.

Wenn also bestimmte Evidenzen ‚gegeben‘ sind – in diesem Fall einem mit ihnen befaßten Forscher –, so hat er sie theoretisch und empirisch so nachzuweisen, daß auch andere als er zu ihnen einen Zugang finden. Laborexperimente oder statistische Untersuchungen stellen nur die einfachsten Vermittlungsformen dar. Erweisen sich diese Vermittlungsformen anderen Forschern oder – und das ist in der Pädagogik besonders wichtig – interessierten ‚Laien‘ wie etwa Erziehern, Lehrern, Eltern etc. als unzureichend, weil sie ihnen entweder aufgrund anderer Evidenzerlebnisse als unglaubwürdig erscheinen oder weil sie ihnen aufgrund anderer Denkweisen verschlossen bleiben, so ist die ‚Empirie‘ gescheitert, – unabhängig davon, ob die zugrundeliegenden Evidenzen nun der Fall sind oder nicht.

Beharrt der betreffende Forscher auf der von ihm vorgenommenen Theorie-/Fallverknüpfung, so muß er nun nach anderen Vermittlungsformen suchen, so lange, bis diese Evidenz kommunizierbar wird, – bis also die Vermittlung gelingt. Bei Popper heißt es zu der Frage nach den „Quellen unserer Erkenntnis“ lapidar: „Es gibt Quellen der verschiedensten Art, aber es gibt keine Erkenntnisquelle, die Autorität besitzt.“ (Popper: „Vermutungen und Widerlegungen: das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis“ (1963/1994), S.35)

Zu ergänzen bliebe hier nur, gegen Popper: auch keine Erkenntnismethode kann für sich ausschließliche Autorität behaupten. Jedenfalls nicht in der Pädagogik. Und das von Popper vor allen anderen ausgezeichnete Erkenntnisprinzip der Falsifikation kann nur für die Naturwissenschaft eine entsprechende Autorität beanspruchen. In der Erziehungswissenschaft muß es – ausgestattet mit einer solchen Autorität – versagen, da wir es hier nicht einfach mit Daten oder Protokollsätzen zu tun haben, sondern mit ‚Tat‘-Sachen, d.h. mit Handlungen. Diesen Handlungen liegen Plausibilitäten zugrunde, also subjektive Gewißheiten. Und diese haben ihre eigene, subjektive Vernünftigkeit.

Der Begriff der ‚Kasuistik‘ stammt zunächst aus der juristischen Terminologie. Hierbei geht es im engeren Sinne um den Anwendungsbezug von ‚Fallbeispielen‘, als Grundlage für das Zuordnen von Rechtsprinzipien zu den ihnen entsprechenden rechtsrelevanten Vorkommnissen des täglichen Lebens, bzw. um die ‚heuristische‘ Funktion, d.h. um das Auffinden neuer Rechtsprinzipien anhand von Präzedenzfällen, auf denen bekanntlich insbesondere die britische Rechtsprechung basiert.

Es geht hierbei nicht um den Erklärungsanspruch, wie ihn‚Theorien‘ und ‚Hypothesen‘ in den empirischen Wissenschaften erheben, bei dem der jeweilige empirische Vor-Fall unter Ausschluß aller möglichen Störfaktoren solange auf das ihm zugrundeliegende, seine Bedingungen definierende Gesetz zurückgeführt wird, bis eine Voraussage auf alle künftigen, denselben Bedingungen unterworfene Fälle möglich wird. Wir haben es in der Kasuistik also nicht mit einem Theorie-Empiriezusammenhang zu tun, sondern mit einem Theorie-Praxisproblem. Mit letzterem, mit dem Theorie-Praxisproblem, haben es wiederum vor allem die praktischen, also auf Handlungszusammenhänge bezogenen Wissenschaften zu tun. Und dazu zählt die Erziehungswissenschaft.

Allerdings läßt sich das Problem des Praxisbezugs nicht auf diese Handlungswissenschaften beschränken; denn insofern es in ihm ums Handeln geht – wo auch immer Handeln zum Problem wird –, haben es auch die empirischen Wissenschaften mit einem Theorie-/Praxisproblem zu tun: nämlich auf der Ebene des wissenschaftlichen Handelns selbst, wobei es sich insbesondere um die Ebenen des Forschens und des Lehrens handelt.

Mir geht es hier also um Kasuistik als einer spezifischen pädagogischen Methode. Sie kann für die pädagogische Forschung in vierfacher Weise pragmatisch genutzt werden: erstens als Heuristik, insofern Fallbeispiele den Wissenschaftler auf neue Ideen bringen; zweitens als Veranschaulichung, insofern Fallbeispiele „zur Erläuterung, Verfeinerung und Erweiterung“, also zur systematischen Differenzierung „vorhandener Hypothesen und Vorgänge beitragen“ (vgl. Karl Binneberg (Hg.): „Plädoyer für eine pädagogische Kasuistik“ (1997), S.22, 261f.); drittens als Korrektiv, insofern Fallbeispiele „zur Korrektur und Revision von Hypothesen und Theorien beitragen“ (ebenda); und viertens als Handlungsorientierung, insofern Pädagogen Fallbeispiele mit ihren eigenen Erfahrungen in der Schul- und Unterrichtspraxis vergleichen können.


Die ersten drei Nutzungsmöglichkeiten lassen sich primär auf die erziehungswissenschaftliche Forschung beziehen und die vierte vor allem auf die pädagogische Praxis. Aber insofern die erziehungswissenschaftliche Forschung selbst ein Handeln darstellt, profitiert dieses ebenfalls vom orientierenden Nutzen der Fallbeispiele, wie umgekehrt der pädagogische Praktiker der ersten drei Nutzungsmöglichkeiten von Fallbeispielen bedarf, da auch er auf neue Ideen kommen und seine bisherigen Handlungsmuster differenzieren, korrigieren und revidieren können muß. Nicht zuletzt die erziehungswissenschaftliche Lehre bedarf aller vier Nutzungsmöglichkeiten von Fallbeispielen, da wir es in ihr mit einem Verständigungsproblem zwischen Lehrenden und Studierenden zu tun haben.

Die pädagogische Kasuistik stellt zuallererst ein pragmatisches Prinzip der Verständigung über Probleme dar, die sich dem objektivierenden, messenden Zugriff entziehen. Sie bietet in Streitfällen und den Anfängern die Möglichkeit, unter Rückgriff auf die eigenen Vorurteile und Vorerfahrungen sowohl den Streit zu schlichten wie auch neue Erkenntnisse und ungewohnte Verfahrensweisen in den eigenen Wissensbestand zu integrieren und sich neu zu orientieren.

Download

Mittwoch, 4. September 2013

Aporie contra Bildung: das Individuum in der Gesellschaft

Jean-Jacques Rousseaus Konzept der negativen Erziehung beruht auf einem negativen Gesellschaftskonzept. ‚Negative‘ Erziehung meint, daß in der Erziehung auf positive Einwirkungen auf das Kind verzichtet werden soll. Der Erzieher soll lediglich alle schädlichen Einflüsse vom Kind fernhalten, wobei diese schädlichen Einflüsse niemals von der Natur, sondern immer nur von der Gesellschaft kommen. In der Natur orientiert sich das Kind an seinen eigenen Bedürfnissen und Kräften, und es wird sich niemals gegen die Übermacht der Natur auflehnen, sondern sie akzeptieren und sich in der Auseinandersetzung mit ihr entwickeln.

Die Gesellschaft aber konfrontiert das Kind ständig mit fremden Bedürfnissen, die nicht aus ihm selbst kommen, und wenn ihm die Befriedigung dieser Bedürfnisse verweigert wird, wird es das als Ungerechtigkeit wahrnehmen und sich dagegen wehren. Die fremden Bedürfnisse, die vor allem darin gipfeln, von allem mehr haben zu wollen als die anderen, schwächen das Kind und behindern seine Entwicklung.

Rousseau zufolge ist der Mensch nur in der Natur ‚gut‘, weil er sich dort auf seine eigenen Stärken konzentriert. Er empfindet sich also als stark und hat es deshalb nicht nötig, andere als schwach erscheinen zu lassen, indem er sie unterdrückt. In der Gesellschaft ist der Mensch ‚böse‘, weil er sich im Vergleich mit anderen als schwach wahrnimmt. Deshalb bekämpft er seine Mitmenschen und versucht, sie seinem Willen zu unterwerfen. Rousseau spricht von einer Unvereinbarkeit (Aporie) von Menschlichkeit und Bürgerlichkeit. Der Mensch kann nicht gleichzeitig Mensch und Bürger sein.

Das Erziehungskonzept von Rousseau beruht also darauf, daß das Kind seine eigene Natur hat, die es in Auseinandersetzung mit der Natur entwickelt und zur Reife bringt. Hieran knüpft Wilhelm von Humboldt an, wobei er aber das Rousseausche Konzept auf spezifische Weise modifiziert. Auch Humboldt bewertet das Naturverhältnis des Menschen als prinzipiell gutartig. In der Auseinandersetzung mit der Natur bildet sich der Mensch unmittelbar, weil er sich hier als Handlungssubjekt wahrnimmt. Alle seine Entscheidungen wirken sich unmittelbar auf sein Überleben aus. Das verleiht allem, was er tut, Sinn. Er muß nicht mehr eigens nach dem Sinn seines Lebens fragen oder danach suchen.


Seit der Entstehung arbeitsteiliger Gesellschaften ist das anders. Der Mensch ist in seinem Wohlbefinden von vielen anderen Menschen abhängig. Kaum noch etwas, das er selbst tut, hat unmittelbar etwas mit ihm selbst zu tun. Deshalb muß an die Stelle eines unmittelbaren Naturverhältnisses ein mittelbares Selbstverhältnis treten: die Bildung. Die Bildung ermöglicht es dem Menschen, seine Situation in der modernen Gesellschaft zu verstehen und sich individuelle und kulturelle Freiräume zu verschaffen, in denen er sein Leben wieder als sinnhaft erleben kann.

Dabei spielt die Gesellschaft wieder eine besondere Rolle. Zwar ist sie einerseits der Grund, warum sich der Mensch von der Natur entfremdet hat; zugleich gibt sie ihm aber die Möglichkeit, sich im geselligen Zusammensein mit anderen Menschen zu bilden. Humboldt übersetzt ‚Gesellschaft‘ mit ‚Geselligkeit‘. Das Gesellschaftsbild von Humboldt ist so positiv, daß sich an dieser Stelle wieder eine neue Aporie eröffnet, die an die Stelle der Rousseauschen Aporie von Mensch und Bürger tritt: die Aporie zwischen Staat und Gesellschaft bzw. zwischen dem Untertanen und dem Privatmenschen. Staatliches Handeln führt Humboldt zufolge immer zur Uniformität und Einseitigkeit, während gesellschaftliche Aktivitäten Mannigfaltigkeit ermöglichen. Die gesellschaftliche ‚Bildung‘ – obwohl Bildung eigentlich immer nur die des Individuums meint – läßt sich daran messen, wieviel Vielfalt eine Gesellschaft zulassen kann, ohne auseinanderzubrechen.

Hatte Rousseau noch zwischen dem Kindesalter, der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter unterschieden, unterscheidet Humboldt zunächst nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. In seiner Schrift über die Grenzen des Staates (1792) strukturiert er die Bildung der Kinder auf der gleichen Ebene wie die Gesellschaft. Es reicht Humboldt zufolge, für eine größtmögliche, privat organisierte Vielfalt von Schulen und Ausbildungseinrichtungen zu sorgen, dann wird sich auch auf der individuellen Ebene der Schüler, die diese Einrichtungen besuchen, eine entsprechende Vielseitigkeit einstellen.

In seiner Zeit als preußischer Bildungsreformer (1809/10) bewertet er dann die staatlichen und gesellschaftlichen Bildungsmaßnahmen anders. Ihm wird bewußt, daß es eines starken gesellschaftlichen Akteurs bedarf, der den wild wuchernden Zugriff aller möglichen gesellschaftlichen Interessen auf das Kind in seine Grenzen verweist. Der einzige gesellschaftliche Akteur, der mächtig genug ist, alle anderen Interessengruppen zu kontrollieren, ist der Staat. Also ist der Staat, so Humboldt, verpflichtet, der Allgemeinbildung, d.h. der vollständigen Menschenbildung, eine Chance zu geben. Er muß dafür sorgen, daß die Menschenbildung von der beruflichen Bildung getrennt wird.

Hatte Humboldt 17 Jahre zuvor den Staat noch als Produzenten von Uniformität gesehen, so stellt er ihn nun in den Dienst der Mannigfaltigkeit. Denn die gesellschaftliche Vielfalt der Schulen bildet ja letztlich nur die Monotonie der Uniformität jeder einzelnen Interessengruppe ab, von der die jeweiligen Schulen betrieben werden. Statt der Menschenbildung eine Chance zu geben, führen diese Privatschulen zu genau der Uniformität, die für Humboldt das Gegenteil von Bildung ist.

Liegt Rousseaus und Humboldts Entgegensetzung von Mensch und Bürger und von Staat und Gesellschaft eine statische Synchronie zugrunde, so überführt Karl Marx diesen Gegensatz in eine historische Dynamik. Er setzt zwei gesellschatliche Modelle gegeneinander: das der Zünfte und das der großen Industrie. Zünfte stehen dabei für einen vormodernen, mittelalterlichen Schleier der Mysterien, die mit Initiationsriten und Geheimhaltungsschwüren verbunden sind, und die große Industrie ist Teil der Aufklärung und steht für einen mit der modernen Technologie verbundenen gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Der technologische Fortschritt wird den Menschen letztlich aus der Sklaverei der Lohnarbeit befreien.

Während Humboldt zufolge also die Bildung den Menschen dazu befähigen soll, mit der zunehmenden Entfremdung von der Natur umgehen zu lernen, setzt Marx auf eine technologische Überwindung dieser Entfremdung. Wir haben es gewissermaßen mit einer durch Technologie ermöglichten Rückkehr zur Natur, dem Kommunismus, zu tun.

Der Humboldtschen gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit entspricht bei Marx die „Teilung der Arbeit im Innern der Gesellschaft“. Und so wie bei Humboldt dieser gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit eine größtmögliche Vielseitigkeit der individuellen Bildung entsprechen soll, geht bei Marx die geschichtliche Tendenz hin zur großen Industrie mit einem „total entwickelten Individuum“ einher. Wie in der individuellen Bildung bei Humboldt begnügt sich auch bei Marx der Mensch nicht mehr mit einer einzelnen, lebenslangen Beschäftigung. Er sucht vielmehr seine Freiheit und seine Selbstbestätigung in seiner „absoluten Disponibilität“ – heute würden wir von „employability“ sprechen (vgl. meine Posts vom 17.08. und vom 20.08.2013) – für alle möglichen Tätigkeitsfelder. Marx bezeichnet diese Disponibilität auch als „allseitige Beweglichkeit des Arbeiters“, eine Formulierung, die sich nahtlos mit dem neuhumanistischen Bildungsbegriff, wie ihn Humboldt formuliert hat, deckt.

Bei aller Gleichheit der Bildungsziele gibt es aber doch einen grundsätzlichen Unterschied in der Organisation des gesellschaftlichen Bildungssystems. Bei Marx findet die Bildung des Arbeiters im Betrieb statt, in der unmittelbaren Konfrontation und Auseinandersetzung mit den neuen Technologien. Dabei unterscheidet er nicht zwischen Erwachsenen und Kindern. Die Schulen sind bei Marx Fabrikschulen: die Kinder gehen gleichzeitig arbeiten und in die Schule.

Humboldt hat aber nach seiner ersten großen bildungstheoretischen Schrift zu den Grenzen des Staates von 1792 begriffen, daß die Kinder vor dem Zugriff der Erwachsenengesellschaft geschützt werden müssen; notfalls eben auch durch den Staat, der eigentlich ganz andere Interessen verfolgt. Humboldt geht von einer strikten Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung aus. Marx spricht statt von einer allgemeinen von einer polytechnischen Bildung. Das ‚poly‘ in ‚polytechnisch‘ steht für die Allgemeinheit dieses Bildungsweges. Diese Allgemeinheit ist aber von vornherein verknüpft mit der beruflichen Ausbildung.

Zwar sollen auch hier die Kinder vor dem Zugriff der Erwachsenen geschützt werden; aber nur vor einer bestimmten ‚Klasse‘ von Erwachsenen, die Marx mit der traditionellen Familie gleichsetzt. Humboldt will die Kinder vor allen Erwachsenen geschützt wissen. Marx will sie nur vor überholten Gesellschafts- und Familienmodellen schützen. Dem Zugriff der fortschrittlichen Technologien sollen sie hingegen uneingeschränkt ausgesetzt werden. Diese technologische Freisetzung der Kindheit setzt sich bis heute in die aktuellen Kommunikationstechnologien und digitalen Netzwerke hinein ungebrochen fort.

Letztlich fällt Marx mit seinem Konzept einer polytechnischen Bildung hinter die Einsichten zurück, die Humboldt in seiner Zeit als preußischer Bildungsreformer gewonnen hatte. Polytechnik ist keineswegs mit individueller Vielseitigkeit gleichzusetzen. Im Gegenteil führt sie zu einer gesichtslosen, roboterhaften Uniformität.

PS (26. September 2020): Die Corona-Krise hat zu einer Aufwertung des digitalen Schulunterrichts geführt, die in Angleichung an das Home-Office letztlich nichts anderes beinhaltet, als die Differenz zwischen Schulbildung und beruflicher Ausbildung endgültig zu nivellieren.

Download