„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 8. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Streecks Alternative zum bisherigen Konzept einer auf die Beteiligung eines demokratisch gezähmten Kapitalismus orientierten vernünftigen Konsensbildung besteht darin, der schlummernden Empörungsbereitschaft des Staatsvolks freien Lauf zu lassen: „Die professionalisierte Politikwissenschaft neigt dazu, die politische Produktivkraft moralischer Empörung zu unterschätzen. ... Deshalb vermag sie mit der Beobachtung nichts anzufangen, dass die alten und neuen Regenten des Konsolidierungsstaates sich vor kaum etwas so fürchten wie vor der Wut derer, die sich von den Abschöpfungsexperten des globalen Finanzkapitalismus für dumm verkauft fühlen. In unübersichtlichen Verhältnissen kann Angst, anders als immer wieder behauptet ein guter Ratgeber sein.“ (Streeck 3/2013, S.222)

Sein Argument lautet, daß die bisherige Konsensorientierung nur dazu geführt habe, daß die Schere zwischen arm und reich mehr denn je auseinanderklafft. Da die demokratisch legitimierten Parlamente im Konsolidierungsstaat nichts mehr zu sagen haben und die nationalen Regierungen, zwischen den unvereinbaren Interessen des Marktvolks und des Staatsvolks hin und her gerissen, dazu neigen ihre Verpflichtungen dem Marktvolk gegenüber höher zu bewerten als ihre Verpflichtungen dem Staatsvolk gegenüber, müsse sich der Protest außerparlamentarisch artikulieren – „emotional, irrational, fragmentiert, unverantwortlich“ (Streeck 3/2013, S.237) –, notfalls unter Zuhilfenahme von Pflastersteinen (vgl. ‚Streeck 3/2013, S.223): „Wenn demokratisch organisierte Staatsvölker sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern zu sichern, könnte es verantwortlicher erscheinen, es auch einmal mit unverantwortlichem Verhalten zu versuchen. Wenn Vernunft heißt vorauszusetzen, dass die Forderungen der ‚Märkte‘ an die Gesellschaft erfüllt werden müssen, und zwar auf Kosten ebenjener Mehrheit der Gesellschaft, der nach Jahrzehnten neoliberaler Marktexpansion nichts bleibt als Verluste, dann könnte in der Tat das Unvernünftige das einzig Vernünftige sein.“ (Streeck 3/2013, S.218f.)

Für Streeck geht es vor allem darum, Zeit zu gewinnen. Im Unterschied zum ‚Zeit kaufen‘, wo es darum geht, durch Inflation, Staatsverschuldung, Expansion der privaten Kreditmärkte „und schließlich – heute – durch Ankauf von Staats- und Bankschulden durch die Zentralbanken“ dem Staatsvolk möglichst lange Sand in die Augen zu streuen (vgl. Streeck 3/2013, S.15, 26), sollen beim ‚Zeit gewinnen‘ die „verbliebenen Reste des Nationalstaats“ provisorisch so weit wieder instand gesetzt werden (vgl. Streeck 3/2013, S.255), daß sie als „Bremsklötze auf dem abschüssigen Weg in den demokratiefreien Einheitsmarktstaat“ genutzt werden können (vgl. Streeck 3/2013, S.256).

Was aber machen wir mit der so gewonnenen Zeit? Das wird von Streeck nicht weiter ausgeführt. Man könnte vermuten, daß wir diese Zeit dazu nutzen könnten, uns neu zu orientieren, und beginnen, uns vom Konzept des ungebremsten Wachstums zu verabschieden. Kein schlechter Schritt in diese Richtung wäre, wie ich finde, wenn das bundesdeutsche Staatsvolk es vielleicht auch in Betracht ziehen könnte, bei den bevorstehenden Wahlen die aktuelle Regierung abzuwählen. Ich halte zwar die rotgrüne Alternative nicht für die Lösung. Aber wenigstens könnte die Kanzlerin dann nicht mit ihrer Politik fortfahren, gute Ideen – wie die Energiewende – von anderen zu klauen, für sich zu reklamieren, und dann durch Nichtstun vor die Wand zu fahren. Solches von ihr und ihrer Regierung zu verantwortendes Zeit Verlieren können wir alle uns nicht mehr leisten.

Letztlich ist es aber immer wieder so ein Problem mit kollektiven Interessen. Auch Christina von Braun hat in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012) eine ähnliche Lösung vorgeschlagen wie Streeck. Demnach sollen die Bürger dem Geld ihren Glauben entziehen und einfach nicht mehr mitmachen bei der irrsinnigen Geldvermehrung. (Vgl. meinen Post vom 22.12.2012) Als für eine solche Verweigerungshaltung besonders geeignete Interessengruppe nimmt von Braun die Frauen in Anspruch, weil sie aufgrund ihrer historisch andersartig vermittelten Leiblichkeit für die Verschleierungsversuche des Geldes nicht so anfällig sind wie die Männer. Wie wir aber bei Streeck gesehen haben, sind es gerade die Frauenrechtlerinnen, die dazu neigen, die Emanzipationsversprechen des Kapitals für bare Münze zu nehmen. (Vgl. Streeck 3/2012, S.42f.)

Auch Christina von Braun ist nicht blind für diese historische Entwicklung, wie ihre Verweise auf die Prostitution und die Reproduktionsmedizin zeigen. (Vgl. meinen Post vom 21.12.2012) Es ist also schwer, eine besondere gesellschaftliche Gruppe ausfindig zu machen, die als revolutionäres Subjekt in Frage käme. Ulrich Beck verweist in seinem Buch zur „Risikogesellschaft“ (1986) auf die besondere Rolle der Eltern hinsichtlich ihrer Sorge für die Zukunft ihrer Kinder. Auch Hans Jonas spricht den Eltern in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ (1979) eine besondere Zukunftsverantwortung zu. Vielleicht tut sich ja tatsächlich in dieser Richtung etwas.

Ich selbst setze immer noch auf das Individuum und seine Selbstbeobachtungsfähigkeit, ungeachtet seines Geschlechts und seiner Religions- und Interessengruppenzugehörigkeit. Wenn es die Hand ausstreckt und niemand ihm eine Hand entgegenstreckt, kann es sich immer noch bei seinem eigenen Schopf packen und sich so aus dem Sumpf ziehen. Oder um ein anderes Bild zu bemühen: es heißt, wer im Glashaus sitzt, solle nicht mit Steinen werfen. Ich meine im Gegenteil: gerade wer im Glashaus sitzt, kann nichts besseres tun, als mit Steinen zu werfen! Wer weiß denn schon, ob das Glashaus nicht die Form eines Fliegenglases oder einer Käseglocke hat?

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