„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 6. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Unter dem Stichwort „Legitimität“ behandelt Streeck die im letzten Post angesprochene Glaubens- bzw. Vertrauensproblematik. Was bringt die verschiedenen Interessengruppen in einer Gesellschaft und auch die Individuen dazu, miteinander zu kooperieren, auch wenn dies nicht nur kurzfristig, sondern sogar mittelfristig darauf hinaus läuft, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen? Oder prägnant formuliert: Was bringt Interessengruppen dazu, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln?

Letztlich läuft es auf ein gerade in der Geldpolitik nur allzu bekanntes Phänomen hinaus: auf Kredit. Wenn die Menschen die sofortige Erfüllung ihrer Bedürfnisse für eine gewisse Zeit aussetzen, auf das Versprechen vertrauend, daß sie später dafür um so reicher belohnt werden, so machen sie im Grunde dasselbe wie die Banken, wenn sie Geld verleihen: nämlich Kredit gewähren.

Streeck zufolge hat die Frankfurter Schule nur diese eine Form des Legitimitationsbedarfs gekannt und die Interessen des Kapitals und die damit zusammenhängenden Legitimationsprobleme vernachlässigt: „Deshalb vor allem konzentrierte sich die empirische Forschung der Frankfurter Schule der damaligen Jahre auf das politische Bewusstsein von Studenten und Arbeitnehmern sowie auf Gewerkschaften und ihr Potential, mehr zu sein als nur Lohnmaschinen.“ (Streeck 3/2013, S.41)

Der Vermittler zwischen den einzelnen Interessengruppen ist der Staat. Als Demokratie und als Steuerstaat, der sich über das Geld, also den ‚Kredit‘ seiner Staatsbürger finanziert, ist er allererst diesen Staatsbürgern gegenüber rechenschaftspflichtig und nicht dem Kapital. Vielmehr war es das Kapital, das allererst ‚sich selbst‘ bzw. seine Profite, die es aus der Lohnarbeit für sich einstrich, gegenüber dem Arbeitnehmer rechtfertigen mußte. Der Frankfurter Schule zufolge befand sich das Kapital damit in einer fortdauernden Legitimitätskrise. Im weiteren Verlauf des Ausbaus des Sozialstaates würde sich, so die damalige Prognose, das Kapital gegenüber den arbeitenden „Massen“ immer weniger legitimieren können und schließlich ganz aus der Gesellschaft verschwinden. (Vgl. Streeck 3/2013, S.40f.)

Die Frankfurter Schule begnügte sich also damit, Demokratie- und Kommunikationsmodelle der gesellschaftlichen Konsensbildung zu entwickeln (vgl. Streeck 3/2013, S.40f.), wie z.B. die Habermassche Kommunikationstheorie. Das Kapital kam als gesellschaftlicher Akteur nicht vor.

Als das Kapital bzw. das „Marktvolk“ (vgl. Streeck 3/2013, S.119f.) schließlich aus dem „Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit“ ausstieg und nun seinerseits dem demokratisch verfaßten Staatsvolk sein Vertrauen entzog (vgl. Streeck 3/2013, S.54 und S.79ff.), indem es unterstellte, daß die im Interesse der Allgemeinheit erhobenen Steuern zu einer Selbstbedienungsmentalität und einem Raubbau an den gemeinsam zur Verfügung stehenden Ressourcen – die der Kapitalist natürlich immer schon als sein eigenes potentielles Eigentum für sich in Anspruch nahm – führen müßte, stellte es seine „Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit“ durch die Auslösung von Wirtschaftskrisen wieder her.

Diese Wirtschaftskrisen erwiesen sich bis hin zur Bankenkrise von 2008 als Vertrauenskrisen (vgl. Streeck 3/2013, S.49): vom Kapital ausgelöst durch den taktischen Entzug des Vertrauens in die Bereitschaft des Staatsvolks, seine Schulden zurückzuzahlen. Weil das Kapital sich weigerte, am gemeinsamen Gesellschaftsprojekt eines alle Staatsbürger einbeziehenden, wachsenden Wohlstands mitzuarbeiten, und es aufgrund zunehmender Globalisierung der Wirtschaft sein Geld jederzeit in andere Länder transferieren konnte, begannen die ihren Bürgern gegenüber verpflichteten Staaten untereinander um die niedrigsten Gewerbe- und Kapitalertragssteuern zu konkurrieren. Aufgrund der damit einhergehenden Einnahmeverluste nahmen sie im zunehmenden Maße Schulden auf. Je mehr Schulden sie aufnahmen, um so wichtiger war es für die Staaten, sich das Vertrauen der Gläubiger in die Rückzahlbereitschaft ihrer Schulden zu erhalten.

Hatte die Frankfurter Schule noch versäumt, das Kapital als eigenständigen Interessenvertreter ernstzunehmen, haben wir es inzwischen nur zu gut gelernt, die Börse als ein feinfühliges, nervöses Sensibelchen wahrzunehmen, das auf unverantwortliche Politikerverlautbarungen mit Kursstürzen reagiert. Die ‚Psychologie‘ des Kapitals ist zur „wichtigste(n) technische(n) Voraussetzung“ der kapitalistischen Ökonomie geworden: „Dabei besteht eine grundlegende Asymmetrie der kapitalistischen politischen Ökonomie darin, dass die Entlohnungsansprüche des ‚Kapitals‘ als empirische Funktionsbedingungen des Gesamtsystems gelten, die entsprechenden Ansprüche der ‚Arbeit‘ jedoch als Störfaktoren.“ (Streeck 3/2013, S.95)

Aus den ihren Staatsvölkern verpflichteten Steuerstaaten wurden nun Schuldenstaaten. Zur verfassungsgemäßen constituency, dem souveränen Staatsvolk, trat nun eine zweite, nicht verfassungsgemäße constituency hinzu: das Marktvolk bzw. die Finanzmärkte. Der Schuldenstaat war jetzt nicht mehr nur einem, sondern zwei Kreditgebern gegenüber verantwortlich: dem loyalen Staatsvolk wie auch dem stets mißtrauischen Marktvolk, das sein Privateigentum gesichert wissen und seine Schuldenzinsen regelmäßig bedient haben will. Die‚Psychologie‘ des Staatsvolks spielt hier eine vergleichweise untergeordnete Rolle. Die vom Staatsvolk ausgehenden Legitimationskrisen erscheinen nur als von den durch das Kapital ausgelösten Wirtschaftskrisen abgeleitete und deshalb hilflose, schlimmstenfalls die Reparaturanstrengungen des Politikbetriebs am gestörten Kapitalvertrauen behindernde Reaktionen. (Vgl. Streeck 3/2013, S.50)

Um diesem Zwei-Fronten-Kredit, Loyalität und Vertrauen, gerecht zu werden, mußte sich der Staat also Zeit kaufen. Er mußte so lange wie möglich beim Staatsvolk die Illusion aufrechterhalten, daß sein Wohlstand gesichert sei und weiter steigen würde und gleichzeitig den nicht minder maßlosen Ansprüchen des Marktvolks auf stetig steigende Profitraten gerecht werden. Die „Methoden zur monetären Erzeugung von Wachstums- und Wohlstandsillusionen“, die dem Staat zur Verfügung standen, waren Inflation, Staatsverschuldung und Privatverschuldung (vgl. Streeck 3/2013, S.74), die den schon erwähnten Weg in den Schuldenstaat bereiteten, nicht ohne das Staatsvolk über die Privatverschuldung durch zunehmende Privatisierung von Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter auf diesem Weg mitzunehmen und so seiner Verelendung – kein Kapitalismus ohne Verlierer (vgl. Streeck 3/2013, S.87f., 94, 254f.u.ö.) – Vorschub zu leisten.

Die Empörungsbereitschaft des Staatsvolks wird durch die schon im letzten Post beschriebenen Umerziehungsmaßnahmen, die bewirkt haben, daß Marktgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit zunehmend gleichgesetzt werden, und durch die „rapide() Ausbreitung und hohe() kulturelle() Akzeptanz marktangepasster und marktgetriebener Lebensformen“ (Streeck 3/2013, S.25) eingedämmt. Inzwischen scheint dieser durch gekaufte Zeit ermöglichte, allmähliche gesellschaftliche Wandel seinen Gipfelpunkt erreicht zu haben. Das neoliberale Projekt einer Deregulierung des globalen Marktes scheint mit der Überführung des Schuldenstaates in den europäischen Konsolidierungsstaat mit supranationalen Einrichtungen, die demokratisch nicht mehr legitimiert und niemandem gegenüber verpflichtet sind als nur dem Kapital und seinen Interessen, nahezu an seinem Ziel angekommen zu sein.

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