„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 20. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Wenn nicht nur die Ökonomie ein Tribunal bildet, sondern auch die Humanität (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.119), dann erklärt das auch, wieso in der Pädagogik immer schon eine babylonische Sprachverwirrung vorherrscht. Immer schon benutzen die Pädagogen die gleichen zentralen Ur-Worte, die eine pädagogische Praxis stiften sollen, und reden doch ständig aneinander vorbei, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Begriffe wie „Lernen lernen“ oder „individuelles Lernen“, „Selbstverwirklichung“ und „Selbstkompetenz“, „Emanzipation“, „Mündigkeit“ usw. rufen bei den Pädagogen die unterschiedlichsten Vorstellungen hervor und verleiten nicht selten zum Machtmißbrauch, selbstverständlich zum Besten des Kindes. (Vgl. zum Machtmißbrauch meinen Post vom 15.07.2012 und zu den „Lernbegriffsirrwegen“ meinen Post vom 16.01.2012)

Wenn also diese ur-pädagogischen Begriffe nicht vor der Korruption durch die Macht gefeit sind, dann kann eben durchaus auch der Humanismus ein Tribunal sein und sich gegenüber dem Zugriff des Ökonomischen als wehrlos erweisen. Und dies umso leichter, als auch in einer Pädagogik ‚vom Kinde aus‘ immer von seinen ‚Bedürfnissen‘ die Rede ist, die der ‚Befriedigung‘ bedürfen. Wer aber kennt sich besser mit der Befriedigung von Bedürfnissen aus als der Markt mit seiner Infrastruktur aus Angebot und Nachfrage? So werden aus Erziehung und Bildung ‚Güter‘, die angeboten werden, und aus Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden ‚Unternehmer‘, die in ihr eigenes Humankapital investieren, um ein ‚Gut‘ zu produzieren, das es ihnen ermöglicht, ein ihre Bedürfnisse befriedigendes Leben zu führen: „Unternehmerisch sein heißt, dass man aus knappen Mitteln (wie Zeit, Marktprodukten, Dienstleistungen) eine Auswahl trifft, um ein Gut zu produzieren, das die Vorlieben (Bedürfnisse) maximal befriedigen kann. Da Befriedigung (von Bedürfnissen) produziert wird, kann auch das Konsumverhalten als ein Unternehmen betrachtet werden.“ (Masschelein/Simons 2012, S.23)

,Güter‘, die unsere Bedürfnisse befriedigen, können also alle möglichen Arten von Dienstleistungen sein, von der Erziehung und der Ausbildung bis hin zur Altenpflege, wobei aus der Perspektive von kinderliebenden Paaren auch die Kinder selbst zu ‚Gütern‘ werden, die ‚produziert‘ werden können – man denke nur an die Reproduktionsmedizin – und in die man investieren kann. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.24) Es gibt kein Bedürfnis, das nicht kapitalisiert werden könnte.

Der unternehmerische Mensch bzw. das unternehmerische Selbst hat eine „produktive und unternehmerische Beziehung zu sich selbst“. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.21) Er bzw. es organisiert sich und seine Bedürfnisse und seine Beziehungen zur Gemeinschaft zu einer Art Gesamtprodukt, das ihm die größtmögliche Lebensqualität gewährleistet: „In sich selbst sieht sich das unternehmerische Selbst mit verschiedenen Intentionen und häufig gegensätzlichen Anliegen konfrontiert, etwa der Karriere und dem Vergnügen. ... Diese Vielzahl widerstreitender Forderungen und Bedürfnisse macht die Verwaltung zu einer ständigen Aufgabe und erfordert eine Disposition zu ständiger Veränderung. Ein Aspekt dieser Disposition ist es, das Leben selbst als ein Produkt zu betrachten. ... Das Führen eines unternehmerischen Lebens setzt mit anderen Worten die Disposition voraus, das Leben als ein Projekt zu betrachten, eine Disposition, die tatsächlich kein anderes Ziel hat, als sich selbst immer wieder neue Ziele zu setzen.“ (Masschelein/Simons 2012, S.32)

Im Grunde kann man die „Verwaltung“ der „Vielzahl widerstreitender Forderungen und Bedürfnisse“ als eine Art Vertragsverhältnis verstehen, das das unternehmerische Selbst mit sich selbst eingeht. Genau darin besteht seine Selbstkompetenz, wie ja überhaupt der Kompetenzbegriff längst an die Stelle des Humboldtschen Bildungsbegriffs getreten ist. Schon Kinder werden im Schulunterricht dazu angeleitet, sogenannte „Lernverträge“ mit sich selbst abzuschließen, wobei sie anhand von detaillierten, auf ihr jeweiliges Lebensalter zurechtgestutzten Kompetenzrastern ihre eigenen Lernfortschritte bewerten und abhaken können. Außerdem wird ihnen beigebracht, wie man sich „Portfolios“ anlegt, in denen  alles „Wissen“ und alle „Fertigkeiten und Einstellungen“ dokumentiert sind, „über die man verfügt und die man ‚arbeiten lassen‘ kann“, nämlich im Sinne eines Kapitals, das sie sich in ihrer Schulzeit für ihr späteres Berufsleben ansammeln können. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.39)

Alle diese Maßnahmen, mit denen schon unsere Kinder als berechenbare und transparente Vertragspartner imaginiert werden, versteht man im ur-pädagogischen Sinne als emanzipatorisch, als Erziehung zur Mündigkeit. In unübertreffbarer Weise haben Masschelein und Simons diese Wortverdrehung und Sprachverwirrung am Beispiel einer ökonomistischen Karikatur von Kants berühmter Aufklärungsformel zum Ausdruck gebracht, die ich hier gerne etwas ausführlicher zitieren möchte:
„Unternehmerisch sein ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unproduktivität. Unproduktivität ist das Unvermögen, sich seines menschlichen Kapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unproduktivität, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel an Humankapital, sondern am Mangel an Entschlossenheit und Mut liegt, sich seines Humankapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Wage es, das Selbst zu mobilisieren!‘ ‚Habe den Mut, dich deines eigenen Kapitals zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch des Unternehmertums.“ (Masschelein/Simons 2012, S.84f.)
So versteht sich das Unternehmertum als der letzte Schritt in einer ganzen Reihe von Befreiungsschritten, die aus dem Mittelalter heraus in die aufgeklärte Moderne geführt haben. Es versteht sich als das „Abstreifen des letzten ‚Mancipiums‘“, als „E-manzipation“ in Richtung auf das „Erwachsensein“. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.85)

„Selbstreguliertes Lernen“, wie es als eine der Basiskompetenzen, als Lernkompetenz, seit der ersten PISA-Studie (2000) durch die Klassenzimmer geistert, bedeutet deshalb immer auch ‚selbst produzieren‘, Unternehmer seiner selbst sein, also das eigene Leben zu produzieren: „Die einzusetzende Arbeitskraft wird so eigentlich zu einer Lern-Kraft. Ihre Produktivität und ihr Wert liegt eben in ihrer Fähigkeit, völlig unterschiedliche Inhalte zu verarbeiten. Die Lern-Kraft produziert mit anderen Worten den Mehrwert, den das Kapital und der Reichtum konstituieren. Lernstrategien und Problemlösungsstrategien werden als grundsätzlich für das Leben und Lernen in einer Wissensgesellschaft objektiviert, einer Gesellschaft, in der Wissen einen produktiven Wert besitzt.“ (Masschelein/Simons 2012, S.66)

In einer Bildung, die an Kompetenzrastern entlang standardisiert und modularisiert wird, wird nicht mehr etwas gelernt, im Sinne eines referentiellen Dreiecks, das Gemeinschaften stiftet (vgl. meinen letzten Post), sondern es wird ein „Lernvermögen“ (Lernkompetenz) entwickelt und stimuliert, „das relativ unabhängig von einem spezifischen Inhalt ist“ (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.66) und gerade deshalb netzwerktauglich macht: „Die Rede von den Kompetenzen siedelt sich solcherart zwischen dem unternehmerischen Selbst und der Umgebung bzw. dem Netzwerk an ...“ (Masschelein/Simons 2012, S.38) – In diesen Netzwerken würde eine allzu spezifische Orientierung an Inhalten nur die Beweglichkeit (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.26, 51, 55 u.ö.) und die „employability“ (Masschelein/Simons 2012, S.38), die das höchste Gut in Netzwerkumgebungen darstellen, unnötig einschränken.

Schulen, die den solchermaßen unternehmerisch lernenden Schülern Unterricht anbieten, sind selbst wiederum „unternehmerische Schulen“, die sich in einer Marktumgebung bewegen, also mit anderen Schulen konkurrieren. Sie haben  „nicht nur ein Auge auf die effiziente und effektive Verwendung ihrer Mittel, sondern auch (und vor allem) auf die Qualität ihrer produktiven Praktiken. Was produziert wird (der output) und wie dies geschieht (der process), muss Charakteristika aufweisen oder Standards genügen, die von den Bedürfnissen der Nachfrageseite abgeleitet werden (und eine ‚unternehmerische Gesellschaft‘ kann dies auch erwarten).“ (Masschelein/Simons 2012, 62f.)

Wie die Klammer am Schluß des Zitats andeutet, haben diese unternehmerischen Schulen nicht nur die Schüler selbst als Kunden, sondern auch die Gesellschaft, für die wiederum die Schüler – bzw. deren employability – das Produkt bildet, das die Schule für sie ‚produziert‘. In der Schule als Unternehmung haben wir also die unternehmerischen Schüler, die der Schule das modularisierte Produkt ‚Unterricht‘ bzw. ‚Bildung‘ abkaufen, um daraus ein individuelles Bildungsgut zu ‚produzieren‘, während diese Schüler selbst wiederum ein weiteres Produkt der Schule bilden, das ihr von der unternehmerischen Gesellschaft – z.B. in Form finanzieller Zuweisungen durch den Staat – ‚abgekauft‘ wird.

Damit nicht genug sollen sich auch die Lehrkräfte in der unternehmerischen Schule selbst als Unternehmer verstehen, die sich nach der Formel „der nachfolgende Lernprozess ist ein Kunde“ wechselseitig die Schüler von einer Unterrichtsstunde in die nächste übergeben: „Der Output oder die Dienstleistung der einen unternehmerischen Lehrkraft dient schließlich als Input für die nächste Lehrkraft.“ (Masschelein/Simons 2012, S.65)

Ich glaube nicht, daß dieses Bewußtsein im pädagogischen ‚Betrieb‘ wirklich bis zu allen in der Schulpraxis stehenden Pädagogen vorgedrungen ist. Trotz zahlreicher Weiterbildungen, in denen sie mit den jeweils neuesten ‚Unterrichtstechniken‘ bekannt gemacht und in ihnen geübt werden, sind die herkömmlichen pädagogischen, humanistisch geprägten Begrifflichkeiten den neuen Etikettierungen einfach zu ähnlich, so daß viele nach wie vor glauben, in einer kontinuierlichen pädagogischen Tradition zu stehen. Lehrplanreformen hat es einfach zu oft gegeben, als daß die aktuellen Bildungsstandards und Kompetenzraster wirklich als ein Bruch mit dem Bisherigen wahrgenommen werden könnten.

Weiterhin wird im Alltag und auf Weiterbildungen mit dem herkömmlichen reformpädagogischen Begriffsinventar gearbeitet und – wie schon erwähnt – aneinander vorbeigeredet. Außerdem sind die Kompetenzrastermodelle im Detail so exzessiv ausgearbeitet, daß ein normal intelligenter Mensch die verschiedenen Minikompetenzen mit ihren Differenzierungen nach Lebensaltern und Jahrgangsstufen kaum auseinanderhalten, geschweige denn mit ihnen arbeiten kann.

Auch hier wäre den Kolleginnen und Kollegen in der Schulpraxis schon aus Gründen der Arbeitserleichterung die schlichte Widerstandsformel von Masschelein und Simons zu empfehlen, einfach nicht mitzumachen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.120)

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