„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 10. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Knaup setzt sich ausführlich mit dualistischen und mit monistischen Konzeptionen zur Leib-Seele-Problematik auseinander. Dualistische Konzeptionen, die Körper und ‚Seele‘ bzw. Bewußtsein einander unversöhnlich gegenübersetzen, mit einem tiefen Graben dazwischen, über den keine Brücke von der einen zur anderen Seite hinüberführt, orientieren sich am kartesianischen Substanzdualismus. (Vgl. Knaup 2012, S.29-97). Monistische Konzeptionen orientieren sich entweder an platonischen Variationen zu eine Metaphysik des Geistes, dem die wahre Realität zugesprochen wird, der gegenüber die empirische Welt nur eine substanzlose Schattenwelt bildet, oder an einem einseitigen Materialismus, demzufolge die physikalischen Gesetze die einzige Realität bilden und mentale Lebensäußerungen nur auf Einbildungen beruhen oder auf sprachliche Ungenauigkeiten zurückzuführen sind. (Vgl. Knaup 2012, S.98-215)

Alle diese Konzeptionen, ob dualistisch oder monistisch, sind entweder unbrauchbar, weil sie nicht erklären können, wie der ‚Geist‘ bzw. die ‚Seele‘ auf den Körper einwirken kann, oder reduktionistisch, weil sie Leib und Seele nicht als Ganzheit verstehen und sich nur für die eine oder andere Grabenseite interessieren. Dem hält nun Knaup eine dritte Möglichkeit, das Verhältnis von Leib und Seele zu beschreiben, entgegen: den Hylemorphismus, den er auf Aristoteles zurückführt. (Vgl. Knaup 2012, S.216-250)

Der Hylemorphismus steht schon vom Wort her für eine Einheit aus Stoff (hylê) und Form (morphê). Die Form bzw. Seele verwandelt den toten Stoff bzw. Körper in einen lebendigen Leib: „Zwei Vokabeln sind für Aristoteles wichtig, um seinen Lesern zu erläutern, dass die unterschiedlichen Lebensäußerungen zu lebendigen Organismen, zu leib-seelischen Ganzheiten, gehören: Form und Materie. Seine Sichtweise wird Hylemorphismus genannt. Hiermit ist eine Position gemeint, die davon ausgeht, dass physische Prozesse, die Materie (hylê), und die Formkraft der Seele (morphê) komplementär zueinander gehören.“ (Knaup 2012, S.225)

Auf diese Nichttrennbarkeit von Körper bzw. Materie und Form bzw. Seele im „Leibkörper“ (Knaup 2012, S.243, 343 u.ö.) – was an Plessners „Körperleib“ erinnert, aber nicht dasselbe ist, wie im folgenden Post gezeigt werden soll – kommt es Knaup an. Er versucht damit eine ethische Grenzmarkierung zu setzen, die der neurophysiologischen Entwertung des Menschen Einhalt gebietet. Aufgrund dieser Leib-Seele-Ganzheit ist es nämlich verfehlt, im Gehirn nach einem bestimmten Ort zu suchen bzw. das Gehirn selbst als diesen privilegierten Ort zu verstehen, an dem physiologische Prozesse mit mentalen Lebensäußerungen zusammenfallen, wie Knaup mit einem Zitat von Edith Stein festhält: „Ich kann keinen Punkt im Körper bestimmen, wo das Ich seinen Ort hätte.“ (Zitiert nach Knaup 2012, S.348)

Nun ist es aber gerade dieses Beharren auf einer undifferenzierten Leib-Seele-Ganzheit, das Knaup selbst zu Reduktionen verleitet. Im Eifer seines Einsatzes für die Menschenwürde wendet er sich den kontroversen Themen der künstlichen Erzeugung von Embryonen, der Organspende und des Hirntodes zu, also der Frage nach dem Beginn und dem Ende menschlichen Lebens und der damit verbundenen Möglichkeit seiner Verwertung. (Vgl. Knaup 2012, S.453-479) Dabei kommt er zu dem für seinen ganzen gegen die verschiedenen physikalistischen Reduktionismen gerichteten Argumentationsgang befremdlichen Ergebnis, die Leiblichkeit und Beseeltheit des Embryos auf das Vorhandensein eines doppelten Chromosomensatzes zurückzuführen. (Vgl. Knaup 2012, S.461)

Inwiefern die Rückführung vollausgebildeter Menschlichkeit auf die Gene weniger reduktionistisch sein soll als die Rückführung mentaler Lebensäußerungen auf neurologische Schaltkreise, bleibt Knaups Geheimnis. Seine Absicht ist sicher nachvollziehbar, da er sich an dieser Stelle gegen den Bioethiker Bernhard Irrgang wendet, der die Menschenwürde von Embryonen an der allmählichen Herausbildung von „Subjektivität“ festmachen will: „Irrgang unterscheidet zwischen menschlichem Körper und Leib,() wobei Körperlichkeit mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bis zum Zerfall des Körpers im Grab gegeben sei und Leiblichkeit sich durch die Ausbildung von Subjektivität konstituiere und mit dem Gehirntod ihr Ende erreicht habe.()“ (Knaup 2012, S.458)

Dieser ‚Irrgang‘ – nomen est omen? – macht auch keinen Hehl aus seinen mit dieser Definition verbundenen medizintechnischen Verwertungsabsichten: „Irrgang behauptet nun, dass die so aufgefasste Subjektivität dann auch der Richtungsanzeiger dafür ist, ob menschliche Lebewesen einen Schutzstatus genießen dürfen oder nicht. Für Embryonen als ‚präpersonale menschliche Körperlichkeit‘() gelte laut Irrgang Unantastbarkeit in erheblich abgeschwächtem Maße.“ (Knaup 2012, S.458f.)

Es ist sehr sympathisch und unterstützenswert, wenn sich Knaup gegen solche, gelinde gesagt, ‚pragmatischen‘ Anthropologien wendet, die den Menschen z.B. mit dem Eintreten des ‚Hirntodes‘ von einem Sterbenden in ein Ersatzteillager verwandeln: „Ärzte nehmen sich bestimmte Checklisten vor und ordnen an, wann jemand kein Patient mehr, sondern eine Leiche ist. Der Gedanke der Maschinenebenbildlichkeit, wo nach alte und defekte Teile der ‚Menschmaschine‘ ausrangiert und bestenfalls durch funktionstüchtige andere ausgetauscht werden können, zeigt sich hier als besonders wirkmächtig.“ (Knaup 2012, S.467)

Aber das undifferenzierte Beharren auf einer immer schon vorgegebenen Leib-Seele-Ganzheit nützt letztlich weder der Ethik noch der Erkenntnis des Menschen. Knaups Behauptung, daß es keinen Unterschied macht, „ob der Mensch durch geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau, IVF oder Klonierung entstanden“ sei, weil „vom Augenblick der Befruchtung an ... die erste Zelle ein Mensch“ sei (vgl. Knaup 2012, S.457), unterbindet die zugleich ethisch relevante wie anthropologisch hochinteressante Frage danach, welche Lebensumstände man eigentlich als ‚des Menschen würdig‘ bezeichnen kann. Inwiefern also entspricht es der Würde des Menschen, in vitro erzeugt zu werden?

Diese Frage kann nur mit einem genaueren, differenzierenden Blick auf die Leiblichkeit des Menschen und die Leiblichkeit des Embryos beantwortet werden, und sie sollte nicht mit dem reflexartigen Verweis auf die Ganzheitlichkeit seines Menschseins zurückgewiesen werden. Was also ist es denn, was auch Knaup zufolge den Leib des Menschen ausmacht? Der Leib ist das „Medium unserer Wahrnehmung“ (Knaup 2012, S.169) und der „Welterschließung“ (Knaup 2012, 350ff.) bzw. die „Brücke zum Anderen“ (Knaup 2012, S.359). Zentral ist in diesem Zusammenhang der Satz: „Mein Leib ist immer schon ein Leib mit anderen.“ (Knaup 2012, S.359)

Was das genau bedeutet, hat Plessner in seinen Anthropologien der Nachahmung und des Schauspielers beschrieben. (Vgl. meine Posts vom 29.05. und vom 01.06.2013) Die Nichtreduzierbarkeit dieses Leibes als Medium auf einen doppelten Chromosomensatz wird auch von Knaup, auch hier wieder im Selbstwiderspruch, hervorgehoben: „Nicht eine Gensequenz, die Knochendichte oder die Größe des Gehirns, sondern der Leib ist entscheidend, wenn wir Anderen begegnen. Leiblichkeit ermöglicht es, dass wir uns in Andere einfühlen können. Da wir einander leiblich begegnen, kann die Frage, ob mein Gegenüber tatsächlich ein Mensch ist, ad acta gelegt werden.“ (Knaup 2012, S.597)

Was bedeutet das nun für die Leiblichkeit des Embryos? Wichtig ist hier der Hinweis, daß wir uns „leiblich begegnen“. Wie begegnen wir dem ‚Leib‘ eines Embryos? Inwiefern ist der Embryo „immer schon ein Leib mit anderen“? Die schlichte, einfache Antwort auf diese Frage lautet: durch den Leib der Mutter! Die Mutter ist die ‚Brücke‘, über die wir dem Embryo in ihr begegnen. Die Mutter ist es, die mit dem Embryo einen Leib bildet, so sehr, daß wir den Embryo allererst als ein Organ ihres Leibes verstehen müssen. Der Embryo ist sicher kein Krebsgeschwür, das in ihr wächst, und er ist sicher auch kein Objekt reproduktionsmedizinischer Maßnahmen.

Es besteht ein fundamentales Verhältnis zwischen dem Leib des Embryos und dem Leib der Mutter, das seine Menschenwürde bestimmt. Und diese Menschenwürde besteht unbezweifelbar auch in der Ganzheitlichkeit des Bezugs zwischen dieser Mutter und ihrem ungeborenen Kind. Aber es ist eben nicht nur eine gegebene, naturhafte Ganzheitlichkeit. Die Mutter ist diesem Kind gegenüber, das in ihr heranwächst, zugleich exzentrisch positioniert, so wie sie überhaupt als Mensch exzentrisch positioniert ist. D.h. es bedarf der Annahme des Kindes durch die Mutter. Die Mutter muß zu diesem Kind in ihr Ja! sagen. Dieses Ja! ist nicht einfach eine Sache der Natur. Es ist in keiner gegebenen Ganzheitlichkeit vorgegeben.

Der Leib der Mutter ist der Leib des Embryos. Ihre Würde ist seine Würde. Dem Embryo im Reagenzglas fehlt diese Würde. Sie muß ihm erst gegeben werden, z.B. durch Einpflanzung in einen Mutterleib.

Knaup bestreitet die fundamentale Rolle des Mutterleibes. Im Eifer der Verteidigung der Menschenwürde von Embryos geht er soweit, den Mutterleib für verzichtbar zu halten (vgl. Knaup 2012, S.456, Fußnote 108) bzw. es für irrelevant zu halten, ob sich ein Embryo „im Labor eines Forschers oder im Mutterleib“ befindet (vgl. Knaup 2012, S.461). Aber indem er den Mutterleib für verzichtbar hält, nimmt er der Leib-Seele-Einheit, für die er sich so entschieden einsetzt, die Grundlage. Wenn nämlich die Mutter mit ihrem ungeborenen Kind keine notwendige Einheit bildet und wenn die leibliche Zeugung qualitativ durch in-vitro-Befruchtung ersetzt werden kann, dann ist die Leiblichkeit auch für jedes andere Verhältnis zwischen Menschen unerheblich.

Und natürlich befindet sich die schwangere Frau in einem Entwicklungsprozeß. Sie ist eine werdende Mutter. Die Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind ist nicht fix und fertig mit der Befruchtung gegeben, sondern sie entwickelt sich. Indem sich Knaup gegen Irrgangs Entwicklungsbegriff wendet, verwickelt er sich auch hier in Widersprüche. In ein und demselben Absatz heißt es nämlich bei ihm einerseits, daß das „Leben der Menschen“ als „Entwicklungsgang“ zu verstehen sei (vgl. Knaup 2012, S.460), und dann: „Es ist unangebracht von einem werdenden menschlichen Lebewesen zu sprechen.“ (Knaup 2012, S.461) – Was also gilt denn nun: das eine oder das andere?

Weil Knaup es ablehnt, hinsichtlich der „lebendigen Ganzheit“ der Eizelle von einem Entwicklungsprozeß zu sprechen, weil das ein Zugeständnis an Irrgangs Behauptung beinhaltet, daß sich die Subjektivität des Embryos erst später entwickelt, lehnt er gleich jeden Entwicklungsgedanken ab: „unser Erbgut ist von Anfang an komplett vorhanden“ (Knaup 2012, S.461) – mehr gibt es Knaup zufolge unter ethischen Gesichtspunkten dazu nicht zu sagen. Eine solche Erkenntnisethik dient allerdings nicht mehr der Erkenntnis. Sie begnügt sich damit, Denkverbote auszusprechen.

PS vom 20.09.2013: Wenn Ärzte ihre Checklisten abhaken, um den Tod eines Patienten zwecks Organverwertung festzustellen, sollten sie den Punkt fehlende Hirnaktivität“ lieber überspringen. Nach einer aktuellen Meldung vom Deutschlandfunk vom 19.09.2013 scheint es nämlich Hirnaktivität auch noch unterhalb der Nullinie zu geben:
„Die Null-Linie bei der Hirnstrommessung mittels EEG gilt Medizinern als wichtigstes Kriterium für einen Hirntod. Nun haben kanadische und rumänische Forscher erstmals Hirnaktivitäten jenseits dieser Linie aufzeichnen können. Sie scheinen einem noch tieferen Koma zu entspringen als es die Nulllinie anzeigt. Zunächst hatten rumänische Ärzte im EEG eines Komapatienten ein völlig unbekanntes Wellenmuster bemerkt. Der Patient hatte starke Medikamente bekommen, die im Ruf stehen, den Komazustand zu verstärken. Nachdem die Medikamente abgesetzt wurden, erschien im EEG erst die Null-Linie, danach ein bekanntes Muster für sehr geringe Hirnaktivität. Die Mediziner folgerten, dass der Patient aus einem bisher unbekannten, sehr tiefen Koma in ein leichteres zurückgekehrt war. Die Theorie überprüften die kanadischen Forscher an Katzen. Bei einem extrem tiefen Koma waren auch bei ihnen die neuen Wellenformen feststellbar.“

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