„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 30. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal dem Begriff der Seele zuwenden, den ich in meinem Blog immer eng mit der Expressivität und der Exzentrizität des Menschen verknüpft habe. (Vgl.u.a. meine Posts vom 14.11.2010 und vom 07.03.2013) Plessner beschreibt die Seele als ein Bedürfnis, sich vor anderen und vor sich selbst verständlich zu machen. Dieses expressive Bedürfnis beruht auf einer inneren Ortlosigkeit. Die Seele ruht nicht in ihrer Mitte, sondern ist immer auf der Suche danach. Sie kann nur auf vermittelte Weise in ihrer Mitte sein. Anders ausgedrückt: der Mensch ist exzentrisch positioniert. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Er ist weder Zentrum noch Peripherie, sondern beides zugleich.

Deshalb ist die Seele ein Schwanken auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Denn dem Bedürfnis, sich zu zeigen, folgt wie ein Schatten die Angst, mißverstanden zu werden und auf etwas festgelegt zu werden, was sie nicht ist. Diesen Seelenzustand beschreibt Plessner als ein „noli me tangere“.

Edith Steins Kernaussagen zum seelischen ‚Sein‘ haben einen zum Teil gegenteiligen und einen zum Teil ähnlichen Inhalt. Einerseits bildet die Seele die substantielle Mitte bzw. das substantielle Zentrum des Menschen: „Die Menschenseelen haben mit den körperlosen Geistern die personale Struktur und das geistige Sein gemeinsam. Sie sind wie diese Substanzen, denen eine ‚geistige Materie‘ und eine individuell qualifizierende Form eigen ist. Was sie zur ‚Seele‘ macht und von den ‚reinen Geistern‘ unterscheidet, ist, daß sie ‚Seinsmitte‘, ‚personaler Kern‘ einer geistig-körperlichen Natur, einer leib-seelischen Personeinheit sind. Die Verbindung mit dem Leib ist für die Seele wesentlich, trotzdem der Tod als eine Trennung von Leib und Seele aufzufassen ist.“ (Stein 2/2010, S.103)

Edith Stein kennt sogar innerhalb dieses Seinszentrums noch so etwas wie ein tiefstes und innerstes Zentrum, eine „Seele der Seele“: „Die ‚Seele der Seele‘ ist etwas Geistiges; und die Seele als Ganzes ist ein geistiges Wesen, dessen Eigentümlichkeit es ist, ein Inneres zu haben, ein Zentrum, von dem sie ausgehen muß, um Gegenständen zu begegnen, in das sie heimträgt, was sie von draußen gewinnt, und aus dem sie selbst auch nach außen spenden kann. Hier ist das Zentrum des menschlichen Daseins.“ (Stein 2/2010, S.129)

Während Plessner die Seele an der Grenze zwischen Innen und Außen verortet, was ihr gleichzeitig eine Räumlichkeit wie eine gewisse ‚Oberflächlichkeit‘, ein Haften an der Oberfläche verleiht, eben im Sinne ihrer expressiven Natur, ist die Räumlichkeit der Seele bei Edith Stein nicht horizontal, sondern vertikal als in die tiefsten Tiefen weisender Vektor bestimmt: „Wenn der klare Spiegel des Bewußtseins oder des wohlgeordneten äußeren Lebens (sei es des privaten oder des öffentlichen) von merkwürdigen Wallungen getrübt wird, die sich aus den vorausgehenden Wellen des Oberflächenlebens nicht begreifen lassen, dann merkt man, daß man es eben mit einer bloßen Oberfläche zu tun hat, daß eine Tiefe darunter verborge ist und daß in dieser Tiefe dunkle Gewalten am Werk sind.“ (Stein 2/2010, S.5)

So wird bei Edith Stein die Grenze zwischen Innen und Außen zum Spiegel, hinter bzw. unter dem sich dunkle Gewalten verbergen. Diese Anleihe an Psychoanalyse und Tiefenpsychologie (vgl. Stein 2/2010, S.5ff.) wird aber mit einem Umweg über den Existentialismus umgewandelt in einen Verweis darauf, daß wir es hier nicht mit lauter Ungeheuern zu tun haben, sondern mit dem Eigentlichen und Wesentlichen. (Vgl. Stein 2/2010, S.7ff.)

Größer scheinen die Gegensätzlichkeiten in der Bestimmung der Seele also kaum sein zu können als bei Edith Stein und Plessner. Aber es gibt bei Edith Stein immer wieder Anklänge an expressive und exzentrische Aspekte des Plessnerschen Körperleibs, und damit kommen wir zum ‚andererseits‘. Zunächst spricht Edith Stein von einer inneren und äußeren Aufgebrochenheit der Seele (vgl. Stein 2/2010, S.32, 43f., 112f.u.ö.), die sie allerdings nicht nur auf den Menschen bezieht: „Die Entfaltung von innen her ist hier kein in sich geschlossener, wenn auch von materiellen Bedingungen beeinflußter Verlauf, sondern geschieht in beständiger Auseinandersetzung mit dem, was dem Organismus von außen begegnet. Mensch und Tier sind nach innen und außen aufgebrochen.“ (Stein 2/2010, S.43f.)

Das erinnert an die Gebrochenheit des Intentionsstrahls bei Plessner, die dieser allerdings als ausschließliches Merkmal des Menschen beschreibt. Natürlich ist die Konnotation verschieden. ‚Auf-gebrochen‘ meint eine positive Öffnung der Seele zur Welt hin: „Das Geöffnetsein ist im Sinne der Intentionalität zu verstehen, des Erfassens von etwas Gegenständlichem. ... Es war schon davon die Rede, daß der Geist etwas in sich aufnehmen kann (im Gegensatz zum Räumlich-Materiellen, das ‚undurchdringlich‘ ist ...) ... Und so kann auch die Seele etwas in sich aufnehmen, es sich innerlich zu eigen machen.“ (Vgl. Stein 2/2010, S.112)

Wir haben es also nicht mit einer wirklichen Gebrochenheit des Intentionalitätsstrahls zu tun, sondern im Gegenteil mit einer umfassenden, praktisch grenzenlosen Aufnahmefähigkeit des menschlichen Geistes bzw. der Geistseele. Diese Öffnung geht also sogar noch weit über bloße Intentionalität hinaus: „Es muß dies Aufnehmen ins Innere von dem bloßen intentionalen Erfassen wohl unterschieden werden.“ (Stein 2/2010, S.112)

Dennoch beinhaltet diese Öffnung einen Doppelaspekt: die Seele kann sich auch verschließen, im Sinne des Plessnerschen „noli me tangere“. (Vgl. Stein 2/2010, S.113) Die Seele steht nämlich in der Gefahr, sich nach außen hin zu verlieren, zu „verströmen“, und muß sich deshalb selbst schützen: „Ich meine eine Sorge um sich selbst, die – um sich nicht zu verlieren – sich in sich verschließen und das Ausstrahlen aufhalten möchte.“ (Stein 2/2010, S.108f.)

Also auch hier haben wir eine Bewegung, die zwischen sich zeigen und sich verbergen Wollen ‚unruhig‘ hin und her schwankt. Diese „Unruhe“ verwirklicht sich aber Edith Stein zufolge am reinsten nicht etwa in der Menschenseele, sondern in der Tierseele: „‚Seele haben‘ heißt ein inneres Zentrum haben, in dem spürbar alles zusammenschlägt ..., was von außen kommt, aus dem alles hervorbricht, was im Verhalten des Leibes als von innen herkommend erscheint. Es ist die Umschlagstelle, an der die Reize angreifen und von der die Reaktionen ausgehen. ... so ist der eigentliche Ort der Unruhe die Seele, die diesem Treiben ausgeliefert ist und sich ihm nicht entziehen kann.“ (Stein 2/2010, S.47)

Diese Stelle bezieht sich, wie gesagt, nicht auf die Menschenseele, sondern auf die Tierseele. Mit „Umschlagstelle“ ist der Reiz-Reaktions-Mechanismus gemeint, mit dem das Tier ständig unmittelbar auf Außenreize reagiert, ohne jemals innerlich zur Besinnung zu kommen, eine Pause einzulegen und zu reflektieren: „In dem bei aller Gesetzmäßigkeit anscheinend regellosen Wandel und Wechsel in seinen Bewegungen scheint das Tier beständig von außen gezogen und gestoßen, aber nicht mechanisch-körperlich gezogen und gestoßen, sondern auf unsichtbare Weise innerlich getroffen und von innen her darauf reagierend.“ (Stein 2/2010, S.45f.)

Ohne jemals auf Kleist zu sprechen zu kommen, läuft Edith Steins Verhältnisbestimmung von Mensch und Tier auf eine Umkehrung der im „Marionettentheater“ (1810) vorgenommenen Verhältnisbestimmung hinaus: im Duell zwischen Bär und Mensch ist nicht der Mensch der Getriebene und Ruhelose, sondern der Bär, während der Mensch ganz bei sich ist und in sich ruht. Exzentrisch positioniert ist Edith Stein zufolge also nicht der Mensch, sondern das Tier.

Andere Anklänge an Plessners Exzentrizität finden sich bei Edith Stein hinsichtlich der Bestimmung der Erbsünde und auch noch einmal bei der Bestimmung der Seele als Tiefe: „Der Mensch war ursprünglich gut ... durch die Abwendung des ersten Menschen von Gott ist die menschliche Natur aus dem Urzustand gefallen: die Triebe in Empörung gegen den Geist, der Verstand verdunkelt, der Wille geschwächt. ... Der Mensch hat keine Macht über die Gewalten der Tiefe und kann von sich aus den Weg zur Höhe nicht finden.“ (Stein 2/2010, S.10f.)

Die Tiefe der Seele beinhaltet also in gewisser Weise eine eigene Doppelaspektivität, die sich aber von der Plessnerschen Doppelaspektivität unterscheidet: einerseits ist sie innerstes Zentrum, der Ort, in dem der Mensch bei sich „zu Hause“ ist (vgl. Stein 2/2010, S.86), zum anderen ist sie aber eben doch auch der Ort der Triebe, des Getriebenseins nunmehr auch des Menschen und nicht nur des Tieres, was die katholische Glaubenslehre mit dem Begriff der „Erbsünde“ bezeichnet.

Dieser Doppelaspektivität zwischen der ureigensten inneren Mitte als Beheimatung und dem Ausgeliefertsein an die ebenfalls innere Triebhaftigkeit entspricht Edith Steins Aufteilung der Leib-Seele-Einheit in verschiedene Zentren: „Zur Durchformung des Körpers gehört es, daß Zentren in ihm geschaffen werden, von denen aus er sich selbst hält und trägt und bewegt und von denen aus er dem begegnet, was ihm von außen geschieht. In dem Maß, in dem die Durchformung geleistet ist, hat er die Herrschaft über sich. Aber niemals hört er auf, materieller Körper zu sein und den Bedingungen des materiellen Geschehens zu unterstehen.“ (Stein 2/2010, S.39)

Diese Differenzierung zwischen verschiedenen Körperzentren und ihrer Beherrschung durch die Geistseele kommt der Plessnerschen Bestimmung des Körperleibs sehr nahe, in der wir den Körper zugleich haben und dieser Körper sind. Auch bei Edith Stein geht die Beherrschung des Körpers vom „Kopf“ bzw. vom „Menschenhaupt“ aus: „Wenn der Kopf schon durch seine Stellung die beherrschende Rolle im Gesamtaufbau des menschlichen Körpers hat, so gewinnt er durch dieses mannigfache Wechselspiel erst recht an Bedeutung.“ (Stein 2/2010, S.35f.) – Und: „Darüber hinaus aber erscheint die Stellung des Menschenhauptes noch von anderer Bedeutung. Es ist das den ganzen Körper Beherrschende, von dem er überschaut, zusammengefaßt und regiert wird. Die vertikale Richtung ist hier eine doppelte: eine von unten nach oben – das Emporstreben zum Licht, ein von oben nach unten – ein Sichselbstfassen von oben her.“ (Stein 2/2010, S.43)

Aber auch hier haben wir noch einmal eine unterschiedliche Konnotierung dieser Doppelaspektivität. Was bei Plessner auf einen „Hiatus“ und auf einen „Streit“ zwischen „Körper“ und „Leib“ hinausläuft, wird von Edith Stein als ein gemeinsames, von oben her beherrschtes und nach oben hin gerichtetes vertikales „Emporstreben zum Licht“ dargestellt.

Dennoch ist die Leib-Seele-Einheit auch bei Edith Stein eine problematische. Die verschiedenen Bewegungszentren des Körpers können ihre Mitte verlieren: „Der Strauchelnde unterliegt einer Bewegung bzw. Bewegungshemmung, die ihm (phänomenal) von außen aufgenötigt wird .... Es gibt auch eine Abwandlung der normalen Bewegung des menschlichen Körpers: Wenn der Gang ‚affektiert‘, ‚geziert‘ oder in einer anderen Weise ‚unnatürlich‘ ist, so wird mit all dem auch etwas bezeichnet, was nicht der ungestörten Eigengesetzmäßigkeit des Körpers entspricht.“ (Stein 2/2010, S.35)

Aber dieses Strauchelnkönnen und diese zur Schau getragene Affektiertheit der Beherrschungsillusion führt zu keiner Bestimmung der körpereigenen Expressivität wie in Plessners „Lachen und Weinen“ (1941), in der der Körper dem Bewußtsein zu Hilfe kommt.

Letztlich bestimmt Edith Stein die menschliche Exzentrizität vor allem als Gottesverhältnis. Wir sind, was wir sind, aufgrund der Taten Adams und Evas: „... durch die Abwendung des ersten Menschen von Gott ist die menschliche Natur aus dem Urzustand gefallen“. (Vgl. Stein 2/2010, S.10) – Aber für die Heilung seiner Natur ist „ein Weg für ihn bereitet“. (Vgl. Stein 2/2010, S.11). Alles wird gut.

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Montag, 29. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

Den menschlichen Geist beschreibt Edith Stein nicht in Abhängigkeit von der menschlichen Anatomie, wie Helmut Plessner (vgl. meine Posts vom 21.06. bis 15.07.2010 und vom 21.10. bis 08.12.2010) und André Leroi-Gourhan (vgl. meine Posts vom 01.03. bis 08.03.2013), sondern aus der exklusiven, über das katholische Glaubensbekenntnis vermittelten Kenntnis der Trinitarität. (Vgl. Stein 2/2010, S.9) Der Fülle an diffizilen, logischen Bestimmungen des göttlichen Geistes, die die Scholastik aus dem Axiom der Trinitarität – gewissermaßen ‚more geometrico‘ – abgeleitet hat, entnimmt Edith Stein Hinweise auf die Verfassung des menschlichen Geistes: „Im strengen Sinn ist ... nur Gott reiner Geist. Darum ist an ihm das Wesen des Geistes am reinsten zu erfassen und alles andere geistige Sein vom göttlichen Sein her zu begreifen.“ (Stein 2/2010, S.101)

Von der Autorität dieser Quelle getragen weiß Edith Stein zu berichten, daß es drei verschiedene Ebenen des Geistes gibt: den menschlichen Geist, die Engel und Dämonen und Gott als den einzigen reinen Geist. Gott ist als reiner Geist:
„... unendlich, nicht in Grenzen des Seins eingeschlossen und in diesem Sinn unfixiert: Er ist nicht eine begrenzte Substanz, die etwas ist und anderes nicht ist; nichts positiv Seiendes ist von ihm auszuschließen. Er ist ferner unfixiert, sofern alles, was er ist, aktuell ist; es ist nicht in ihm in ‚gebundener Form‘, d.h. in Form von Potenzen, die nur unter bestimmten Umständen in aktuelles Sein übergehen. (Er ist ‚actus purus‘().) Diese reine Aktualität ist zugleich ein Ausgehen von sich selbst, wie es vorhin genannt wurde: Gottes Sein ist ein dauerndes Sichverströmen. Hier kommen wir aber zu dem Punkt, von dem aus eine falsche Auffassung der Unfixiertheit auszuschließen ist: Das Ausgehen von sich selbst ist kein Sichselbstverlassen, das Sichverströmen kein Sichverlieren. Gott bleibt bei sich, indem er von sich ausgeht. Er bewahrt sich, indem er sich verströmt. ... Dieses Sichbewahren ist einmal ein intellektuelles Sichbesitzen, sich ganz und gar erkenntnismäßig durchmessen haben (ohne daß ein .Durchmessen. als zeitlicher Prozeß stattgefunden hätte), sich durch und durch kennen, für sich ganz durchsichtig sein, sich ganz und gar in der Hand haben und im Sein bejahen. Gottes Geist ist Intellekt und Wille: sich selbst erkennender Intellekt, sich selbst wollender Wille, beides nicht getrennt, sondern in dem einen Geistwesen beschlossen. ...“ (Stein 2/2010, S.101)
Die Darstellung der verschiedenen Bestimmungen des göttlichen Geistes geht noch weiter. Ich habe lediglich einen recht umfangreichen Bruchteil davon zitiert, um einen Eindruck davon zu vermitteln, was man alles wissen kann, wenn man sich auf die Autorität eines „überlegenen Geist(es)“ berufen kann. (Vgl. Stein 2/2010, S.160)

Es ist jedenfalls interessant, was Edith Stein aus diesen Vorgaben der Scholastik macht. So differenziert sie z.B. zwischen dem menschlichem Geist und den Engeln dahingehend, daß Engel (und Dämonen) ihre Lebenskraft nicht verbrauchen. Gebunden an den menschlichen Leib ist die Lebenskraft des Menschen begrenzt. Er muß mit seiner Lebenskraft haushalten, wenn er sie nicht vor der Zeit verbrauchen will. (Vgl. Stein 2/2010, S.107ff.) Dennoch sind Engel und Dämonen keine reinen Geister. Auch sie sind an Materie gebunden; aber ihre Materie ist von anderer Art.

Edith Stein differenziert zwischen „Stoff“ und „Kraft“ (vgl. Stein 2/2010, S.116), was an die physikalische Differenzierung zwischen ‚Materie‘ und ‚Energie‘ erinnert: „Ich sprach davon, daß die körperlosen Geister als geschaffene, endliche Wesen einer ‚Materie‘ bedürfen, die als Quantum zu begrenzen sei, und ich bezeichnete diese Materie als ‚geistige Kraft‘. Wenn man von ‚höheren‘ und ‚niederen‘ Geistern spricht, denen man eine verschiedene, und zwar wiederum höhere und niedere Erkenntnisweise zuschreibt, so muß es sich dabei nicht nur um etwas qualitativ Einzigartiges und darum Unvergleichliches handeln, sondern um vergleichbare Intensitätsgrade.“ (Stein 2/2010, S.107)

Geister wie Engel und Dämonen kennen zwar keine ‚Entwicklung‘ wie der menschliche Geist, weil bei ihnen alles Aktualität und nichts nur Potenz ist, aber sie können höhere Seinsstufen bzw. höhere Aktualitätsstufen erreichen. (Vgl. Stein 2/2010, S.103) Diese Fähigkeit zur „Seinssteigerung“ hat Edith Stein zufolge auch der Mensch. (Vgl. Stein 2/2010, S.108f.)

Diese Seinssteigerung besteht darin, daß der menschliche Geist, ähnlich wie die Engel und Dämonen, die Fähigkeit besitzt, andere Kraftquellen wie etwa andere Menschen oder positive gesellschaftliche Institutionen als „Reich der positiven Werte“ (Stein 2/2010, S.113) in sich aufzunehmen. (Vgl. Stein 2/2010) Anders als feste, dingliche „Stoffe“, die immer eindeutige, unaustauschbare Raum-Zeit-Koordinaten einnehmen, kann der menschliche Geist sich von einem anderen Geist durchdringen lassen. (Vgl. Stein 2/2010, S.100, 102f., 112) Das führt zu der erwähnten Seinssteigerung.

Spätestens hier wird man bei der Beschreibung der Kraft als nach Quantum und Intensitätsgrad differenzierbare Größe, mit ihrer Nicht-Fixiertheit und ihrem Nicht-Gebunden-Sein an materiellen Körpern an den physikalischen Feldbegriff erinnert und darüber hinaus auch an Sheldrakes morphogenetische Felder, die gewissermaßen in der spiritistischen Tradition der Scholastik stehen. (Vgl. meinen Post vom 01.02.2013) Auch bei Sheldrake ist – ähnlich wie im folgenden Zitat von Edith Stein – von einer kosmischen Wechselwirkung der morphogenetischen Felder die Rede:
„Physische Kraft ist Potenz, die in Bewegungen aktualisiert wird. In den Bewegungen ist sie geformt, d.h. bestimmt qualifiziert. Aber auch die ‚gebundene Potenz‘ ist nicht völlig formlos, sie kann nicht in beliebigen Bewegungen aktualisiert werden, sondern grenzt einen Bereich von Möglichkeiten ab. Die Kraft, die einem stofflichen Gebilde innewohnt, gehört zu seinem Gesamtgefüge und entspricht seinem Sinn: Daß es so oder so sich auswirken kann, damit hängt seine Rolle im Kosmos zusammen. ... sie (die materiellen Dinge – DZ) stehen in Symbol- und Zweckbeziehungen zu Personal-Geistigem und sind in dieser Symbol- und Zweckhaftigkeit dem Menschengeist zugänglich.“ (Stein 2/2010, S.118)
Wenn die materiellen Dinge und mit ihnen der Kosmos einen Symbol- und Zweckzusammenhang bilden, dann entspricht Edith Steins Verbindung von Materie und Geist im Kraftbegriff den Effekten, die Sheldrake den morphogenetischen Feldern zuspricht, die er als eine von Materie unabhängige Gedächtnisform beschreibt, in der individuelle Lebenserfahrungen mittels „Resonanz“ (also wechselseitiger Durchdringung) über den körperlichen Verfall hinaus bewahrt und weitergegeben werden können.

Letztlich kann man festhalten, daß wir es hier wieder mit einem der vielen Monismen zu tun haben, wie sie Marcus Knaup beschrieben hat. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2013) Wir können sowohl bei Sheldrake als auch bei Stein von einem spirituellen Monismus sprechen. Denn auch der Sheldrakesche Feldbegriff stellt letztlich nur eine physikalische Transformation des Geistes dar. Der sicher nicht geringfügige Unterschied besteht darin, daß sich Sheldrake für seine morphogenetischen Felder nicht auf eine göttliche Offenbarung beruft.

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Sonntag, 28. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

In meinen Posts zu Marcus Knaup war ich auf einen scheinbaren Widerspruch in der Darstellung der menschlichen Ontogenese gestoßen. (Vgl. meinen Post vom 10.07.2013) Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, ab welchem Zeitpunkt der Embryo als ‚beseelt‘ bezeichnet werden kann und Anspruch auf den vollen Schutz seiner Menschenwürde erheben kann bzw. ob er von Anfang an in vollem Sinne Mensch ist, spricht Knaup in demselben Absatz einmal davon, daß das „Leben des Menschen“ als „Entwicklungsgang“ beschrieben werden könne und daß es „unangebracht“ sei, vom Menschen „als von einem werdenden menschlichen Lebewesen“ zu sprechen. (Vgl. Knaup 2012, S.460f.)

Dieser Widerspruch wird von Knaup nicht weiter erläutert und aufgelöst. Von Edith Stein her wird er mir jetzt aber verständlich. Ähnlich wie Plessner in den „Stufen des Organischen“ (1928) spricht Edith Stein von einem Gestaltenwandel sowohl im Evolutionsprozeß (Artenbildung) als auch in der individuellen Ontogenese. Entsprechend dem biogenetischen Grundgesetz (1866) von Ernst Haeckel wiederholt die Embryogenese die Stammesgeschichte des Menschen. Der Embryo beginnt als Einzeller und rekapituliert die Stadien des Fisches und des Säugetiers, um schließlich zum Menschen heranzureifen.

Wie Plessner versteht Edith Stein die Evolution des Lebens als einen Stufenprozeß. Die unterste ‚Stufe‘ bilden die Pflanzen, die mittlere ‚Stufe‘ die Tiere und die letzte ‚Stufe‘ – im Plessnerschen Sinne – die Menschen. Bei Edith Stein ist hier aber noch nicht Schluß. Entsprechend ihrer christlichen Anthropologie fügt sie noch weitere Stufen hinzu: die Stufe der Geister und Dämonen und dann noch die letzte Stufe der Gottheit als reinen Geist.

In der Embryogenese haben wir es aber zunächst nur mit den drei Stufen der Pflanze, des Tieres und des Menschen zu tun, wobei Edith Stein mit Aristoteles und Thomas von Aquin bei der untersten Stufe der Embryogenese von einer „Pflanzenseele“ (vgl.u.a. Stein 2/2010, S.54f.; hier insbesondere Stein 2/2010, S.131), bei der zweiten Stufe von einer Tierseele (vgl.u.a. Stein 2/2010, S.54f.) und erst bei der letzten Stufe von einer Menschenseele (vgl.u.a. Stein 2/2010, S.84; vgl. auch Stein 2/2010, S.95) spricht.

Innerhalb des das ganze Leben des Menschen umfassenden „Entwicklungsganges“ schreitet die ‚Entwicklung‘ des Menschen nicht einfach von Stufe zu Stufe fort und läßt dabei gleichzeitig Stufe um Stufe hinter sich. Vielmehr werden die niederen Stufen auf den höheren Stufen bewahrt und wirken sich dort weiterhin auf die Persönlichkeit des Menschen aus. Die Eigenart der Pflanzenseele besteht Edith Stein zufolge in ihrer „Unbewusstheit“: „Ihr ganzes Sein ist darauf gerichtet, das, was sie ist, in sichtbarer Gestalt zu offenbaren, sie ist nicht nach innen aufgebrochen, ist nicht für sich selbst da und lebt nicht in sich selbst. So ist sie in einem ontischen (nicht ethischen) Sinne selbst-los und rückhaltlos offen. ... So ist sie, unbeschadet der Offenheit, mit der sie sich darlebt ..., in eigentümlicher Weise in sich beschlossen.“ (Stein 2/2010, S.41)

Ein weiteres Merkmal der Pflanze, die vertikale Aufrichtung, weist schon über die Pflanze hinaus auf den Menschen voraus: „Es scheint, daß Mensch und Pflanze sich hier in etwas begegnen, was dem Tier fehlt. ... Als Triumph über die Materie erscheint die Aufrichtung auch dort ...“ (Stein 2/2010, S.43)

Der Pflanzencharakter bildet nicht nur das erste Stadium der Embryogenese, sondern taucht auch in einem späteren Lebensalter wieder als dominierendes Merkmal auf: „Er tritt reiner hervor beim Kinde als beim Erwachsenen und auch als beim Jugendlichen. Es ist kein bloßes poetisches Bild, wenn man so gern Kinder mit Blumen vergleicht, sondern hat eine sachliche Grundlage: Wir finden hier noch ein relativ ungebrochenes Sichentfalten und Sichoffenbaren, ein Ruhen in sich selbst.“ (Stein 2/2010, S.44)

Diese Beschreibung des Kindesalters entspricht der von Rousseau in seinem „Emile“ (1762). Rousseau hebt die ‚Stärke‘ des Kindes hervor, die darin besteht, daß seine Bedürfnisse und seine Fähigkeiten noch ausgeglichen sind, weshalb es noch keine Identitätsprobleme hat wie die Jugendlichen. Zugleich ist diese Lebensphase seltsam amoralisch. Richtig und Falsch, Gut und Böse spielen noch keine Rolle in dieser Lebensphase. ‚Mitleid‘ bzw. ‚Empathie‘ treten nur punktuell und spontan auf. Genauso leicht können Kinder grausam und mitleidlos sein.

Doch zurück zu Edith Stein. Das Wesen der Tierseele besteht ihr zufolge in der Empfindsamkeit: „ Der (animalische – DZ) Leib ist empfindender Leib nicht nur, sofern er äußere Reize spürt, sondern er empfindet sich selbst; er ist sozusagen durch und durch empfindender Leib und kontinuierlich empfindend, nicht nur oberflächenhaft und nur, wenn er von äußeren Reizen getroffen wird. Die Empfindsamkeit für äußere Reizet ist ein Aufgebrochensein des animalischen Wesens nach außen, die Empfindsamkeit für sich selbst ist eine Aufgebrochenheit nach innen.“ (Stein 2/2010) S.46)

Die Tierseele ist die eigentliche, ursprüngliche Seele, auch beim Menschen. Sie ist an den Körper gebunden. Sie bildet mit dem Leib eine Leib-Seele-Einheit. (Vgl. Stein 2/2010, S.47) Die Menschseele geht über diese Einheit aus Leib und Seele hinaus, weil sie „Geistseele oder Vernunftseele“ ist. Dieser geistigen Besonderheit der Menschenseele ist „ihre Trennbarkeit vom Leib“ zu verdanken: „Das Leben der Seele ist geistiges Leben: Erkennen, Fühlen, Wollen. Sie öffnet sich darin für anderes geistiges Sein, aus dem ihr Kraft zuströmen kann, und so ist es wohl denkbar, daß sie von daher allein getragen werden kann (besonders wenn wir bedenken, daß unter geistigem Sein auch der unendliche Geist Gottes zu verstehen ist) und des Leibes nicht unbedingt zu ihrer Existenz bedarf.“ (Stein 2/2010, S.128)

Die Menschenseele ist also unsterblich, denn Edith Stein kehrt die Rangordnung zwischen Körper und Seele um. Nicht die Seele bedarf des Körpers, um Seele sein zu können, sondern der Körper bedarf der Seele, um lebendiger Leib sein zu können: „.... es gibt ein reales Verlassen des Leibes im Tode; damit hört der Leib auf, Leib zu sein, und der rein materielle Körper, der noch für eine gewisse Zeit die Gestalt des Leibes behält, die durch die Seele geformt wurde, beginnt zu zerfallen und hört schließlich auch auf, dieser materielle Körper zu sein. Das ist ja gerade eine der Tatsachen, die zu der Auffassung der Seele als Form des Körpers hindrängen. Der Körper ist etwas auch ohne die Seele, aber ist dieser Körper nur durch diese Seele und in der Einheit mit ihr. Darum muß man sagen, daß der menschliche Körper ohne die Seele keine Substanz ist und daß der ganze Mensch eine Substanz ist.“ (Stein 2/2010, S.98)

Während sich also beim geborenen Menschen die verschiedenen ‚Stufen‘ bzw. ‚Seelen‘ in der weiteren Entwicklung des Menschen, die Edith Stein als Bildung beschreibt (vgl. Stein 2/2010, S.78, 80, 91 u.ö.), je nach Lebensalter weiterhin auswirken und seine Persönlichkeit prägen, haben wir es bei der Embryogenese insofern mit einer Besonderheit in seinem „Entwicklungsgang“ zu tun, als die verschiedenen ‚Seelen‘ hier nicht gleichzeitig, sondern erst nach und nach in chronologischer Folge auftreten. Die Phase, in der der Embryo ausschließlich durch seine Pflanzenhaftigkeit bestimmt ist, beschreibt Edith Stein in sehr nüchterner, prosaischer Weise: „Von personal-geistigem Leben ist so wenig etwas festzustellen wie bei einer Pflanze. ... Wenn wir unter Seele ein personal-geistiges Wesen verstehen, so können wir das Vorhandensein einer solchen Seele in diesem Stadium nicht feststellen.“ (Stein 2/2010, S.130)

Die Darstellung dieser Phase in der Embryogenese entspricht ganz und gar dem Entwicklungsgedanken, nach dem die verschiedenen Qualitäten des menschlichen Bewußtseins zugleich verschiedene Ebenen bzw. Module des Bewußtseins bilden und unabhängig voneinander entstehen, wie sie auch unabhängig voneinander – aufgrund von Krankheit, Unfällen oder im Prozeß des Sterbens – ausfallen bzw. wieder ‚verlöschen‘ können. Die in dieser Hinsicht empfindlichste Bewußtseinsebene bildet Damasio zufolge das erweiterte Bewußtsein, also das im vollen Sinne menschliche Bewußtsein. Es ist eben nicht die Geistseele, die den Körper ‚überlebt‘, sondern es ist der Körper, der noch vegetieren kann, wo das Bewußtsein längst geschwunden ist.

Auch Edith Stein formuliert Sätze, die dieser Einsicht nahekommen, „(d)aß der Mensch nicht ‚fertig‘ zur Welt kommt, sondern sich während der Dauer seines Lebens in einem beständigen Umwandlungsprozeß aufbauen und immer wieder erneuern muß, ohne einen festen Endzustand zu erreichen ...“. (Vgl. Stein 2/2010, S.112) – Das klingt so, als träten die Bewußtseinsqualitäten in einem „beständigen Umwandlungsprozeß“ nach und nach zum Menschen hinzu, im Sinne einer Supervenienz. (Vgl. meine Posts vom 12.07. und vom 14.07.2013) Wir hätten es auch in der individuellen Ontogenese – ähnlich der biologischen Phylogenese – mit einem offenen Entwicklungsprozeß zu tun, in dem in jeder Phase etwas vorher noch nicht Dagewesenes, etwas Neues entsteht, das zu den früheren Entwicklungsphasen ‚hinzukommt‘ und neue Freiheitsräume eröffnet.

Aber Edith Stein versteht den von ihr beschriebenen „Entwicklungsgang“ anders. Sie hält unmißverständlich fest: „Ich möchte weder von einem Hinzutreten der animalischen Form zur organischen (d.h. pflanzlichen – DZ) noch von einer Ablösung der einen durch die andere sprechen, sondern von einem Entweder – Oder. Das Individuum ist von vornherein Pflanze oder Tier, nicht erst das eine und dann das andere.“ (Stein 2/2010, S.132)

Wir haben es also Edith Stein zufolge nicht mit einem Hinzukommen verschiedener Bewußtseinsqualitäten in der Embryogenese zu tun, erst Pflanzenseele, dann Tierseele, dann Menschenseele; und der Embryo ist auch nicht erst Pflanzenseele, die er dann hinter sich läßt, um jetzt Tierseele zu sein, die er dann ebenfalls hinter sich läßt, um schließlich endgültig Menschenseele zu sein. In der Embryogenese ist das ‚Individuum‘ vielmehr zunächst analog zur Pflanze Pflanzenseele und nichts anderes. Die Tierseele tritt hier noch nicht in Erscheinung. Wenn dann die Phase in der Embryogenese beginnt, in der das ‚Individuum‘ der Tierseele analog ist, ist dieses ‚Individuum‘ wiederum nichts anderes als diese Tierseele, ohne daß diese Tierseele allerdings die Pflanzenseele ‚ablöst‘ und hinter sich läßt. Die Pflanzenseele ist vielmehr immer schon in der Tierseele aufgehoben und bleibend wirksam. Dennoch bildet die Tierseele eine neue Stufe. Sie ist etwas qualitativ anderes als die Pflanzenseele.

Wenn Edith Stein in diesem Zusammenhang von einem „Entwicklungsgang“ spricht, haben wir es nicht mit einem offenen Entwicklungsprozeß zu tun, sondern mit einem Entfaltungsprozeß. Schon im Begriff der ‚Entwicklung‘ steckt etwas von ‚Entfaltung‘. Vom Wort her geht es eher darum, daß sich etwas aus schon Vorhandenem heraus ‚entwickelt‘, wie wir aus einem Garnknäuel ein Garn heraus wickeln. Darwin hat deshalb nicht von einer ‚Entwicklung‘ (Evolution) der Arten, sondern von einer ‚Entstehung‘ der Arten gesprochen, weil er keine Kontinuität in diesem Naturprozeß erkennen konnte.

Edith Stein versteht also ‚Entwicklung‘ im Sinne von ‚Entfaltung‘: „Wenn wir die Frage, ob (wir) diese geistige Seele als die substantielle Form des Menschen aufzufassen haben, jetzt noch einmal aufgreifen, so werden wir sagen müssen: Sie ist das dominierende Formprinzip, das die materiellen Aufbaustoffe organisch, animalisch und personal-geistig formt und im Lauf dieses Formungsprozesses, der Entwicklung des menschlichen Individuums stufenweise zur Entfaltung kommt, durch ihre Entfaltung die Entwicklungsstadien bestimmend.“ (Stein 2/2010, S.132)

Die Substanz des Menschen ist also von Anfang an als Potentialität vollständig vorhanden. (Vgl. Stein 2/2010, S.76 u.ö.) Die verschiedenen Aspekte treten als Pflanzenseele, Tierseele und Menschenseele nur nach und nach in Erscheinung. Und auch alles, was der Mensch später noch ‚werden‘ kann, ist als Potenz schon da.

Der ganze Bildungsprozeß besteht lediglich darin, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und der eigenen Willenskraft etwas daraus zu machen: „Die Seele verfügt offenbar über ein begrenztes Kraftmaß, das in verschiedene Richtung gelenkt werden kann. Indem es in eine Richtung gelenkt wird, wird es den andern möglichen Richtungen entzogen. ... Darin ist begründet, daß er (der Mensch) nur ganz wenig von dem, was potentiell ist, jeweils aktuell sein kann, und daß auch keineswegs alle seine Potenzen habituell ausgestaltet werden können. Vieles von dem, was in ihm angelegt ist, bleibt das ganze Leben lang unrealisiert.“ (Stein 2/2010, S.77) – Es ist wie bei dem Gleichnis von Jesus: dem Menschen sind verschiedene ‚Talente‘ gegeben – im monetären wie im übertragenen Sinne –, und er muß nun damit wirtschaften, so gut er kann.

Wenn Knaup also davon spricht, daß das „Leben des Menschen“ als ein „Entwicklungsgang“ beschrieben werden könne, daß wir es aber nicht mit einem „werdenden menschlichen Lebewesen“ zu tun haben, so ist damit gemeint, daß die Entwicklung des Menschen keinen Prozeß darstellt, in dem wirklich etwas Neues geschieht, sondern in dem nur zur Entfaltung kommt, was in potentia schon da ist.

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Samstag, 27. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

Es ist für mich immer wieder interessant, wenn sich Autoren zum interdisziplinären Zusammenhang in den Wissenschaften äußern. Auch Edith Stein trägt zu diesem Thema einige Aspekte bei. Sie nennt vier Vorgehensweisen, von denen sich jeweils zwei antithetisch gegenüberstehen: nomothetisch und idiographisch vorgehende sowie generalisierend und individualisierend vorgehende Wissenschaften. (Vgl. Stein 2/2010, S.20)

Nomothetische Wissenschaften sind vor allem an dem Aufstellen allgemeiner Gesetze interessiert, und idiographische Wissenschaften setzen sich „die Beschreibung individueller Gebilde und Zusammenhänge“ zum Ziel. (Vgl. ebenda) Das Wort ‚idiographisch‘ beinhaltet, daß es hier eher um die ganzheitliche Darstellung von ‚Bildern‘ geht, als um das analytische Zerlegen von Prozessen und Dingen in ihre Bestandteile. Auch die Begriffe ‚generalisieren‘ und ‚individualisieren‘ entsprechen dieser Differenzierung.

Edith Stein weist darauf hin, daß diese „Einteilung und die von anderer Seite bevorzugte in Natur- und Geisteswissenschaften (einander) durchschneiden“. (Vgl. ebenda) Nicht nur die Naturwissenschaften gehen nomothetisch bzw. generalisierend vor. Auch die Geisteswissenschaften beinhalten primär nomothetisch orientierte Disziplinen, wie z.B. die Wirtschaftswissenschaften und die Soziologie.

Hierbei stellt sich natürlich gleich die Frage, ob diese ‚Geistes‘-Wissenschaften mit ihrer nomothetischen Vorgehensweise ihrem Gegenstand gerecht werden. Weder bei der Wirtschaft noch bei der Gesellschaft haben wir es mit Naturphänomenen zu tun, die unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Beide bilden vielmehr historische Gegenstände, wie alle menschlichen Phänomene. Sie machen eine Entwicklung durch. Ihre synchrone, gesetzesförmige Struktur wird von einem diachronen Prozeß durchbrochen und einem wiederum mit nomothetischen Mitteln nur schwer beschreibbaren Wandel unterworfen. (Vgl. meinen Post vom 22.05.2013)

Insgesamt bilden Edith Stein zufolge die Geisteswissenschaften eine Skala von mehr oder weniger individualisierenden Disziplinen. Die Disziplin, die es mit den individuellsten Phänomenen zu tun hat, ist demnach die Geschichtswissenschaft: „Die Geschichtswissenschaft will den Gang der Menschheitsgeschichte, wie er sich einmalig und unwiederholbar vollzogen hat, in konkreten menschlichen Individuen, Völkern etc., erforschen und darstellen. ... Die Geschichte sucht das Individuell-Konkrete zu erfassen, die Biographie eines einzelnen Menschen und seinen Lebensgang ...“ (Stein 2/2010, S.21)

Wenn man beim methodischen Vorgehen der verschiedenen Disziplinen zwischen einer Forschungsmethodik, der Heuristik, und einer Lehrmethodik, der Didaktik, unterscheidet, so bevorzugen die Geisteswissenschaften in ihrer Lehre, wie Edith Stein insbesondere an der Geschichtswissenschaft aufzeigt, kasuistische Methodiken. (Vgl. hierzu auch meine Posts vom 26.07.2012 vom 15.04.2013 und vom 09.07.2013) Mit Hilfe von Beispielen und Vorbildern soll bei den Studierenden eine Sensibilität für historische Ereignisse geweckt und geübt werden. Im Mitvollzug der inneren Einstellung des Lehrenden müssen die Studierenden lernen, wie man historische Ereignisse in ihrer individuellen Differenz zur eigenen Gegenwart versteht:
„Das worauf es ankommt, wenn man jemand zum Erfassen einer Individualität bringen will und keine lebendige Begegnung herbeiführen kann, ist, ihn den Weg zu führen, auf dem man selbst ans Ziel gelangt ist. Man muß die besonders ‚sprechenden Züge‘ erzählen, vor allem, soweit möglich, originale Äußerungen jenes Menschen darbieten, damit der Akt des Verstehens mit vollzogen werden kann. Dieses Mitvollziehen anzuregen, darin besteht die Kunst der Darstellung, in der sich – wie schon oft hervorgehoben wurde – Historiker und Künstler begegnen, wie auch die Kunst der Interpretation, des Deutens von persönlichen Äußerungen, beiden gemeinsam ist. Wer sich durch solche Darstellungen mit Menschen bekannt machen läßt, der macht eine Schule des Verstehens durch. Und dadurch werden geschichtliche Meisterwerke ebenso wie Meisterwerke einer seelenerschließenden Kunst von höchster Bedeutung als Einführung und Übung für das Erfassen individueller Eigenart, das eine unentbehrliche pädagogische Funktion ist.“ (Stein 2/2010, S.22)
Die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen nomothetischen und idiographischen Vorgehensweisen gibt es auch innerhalb der Anthropologie als „Beschreibung des menschlichen Seins“ (Stein 2/2010, S.23). Wir haben es innerhalb der Anthropologie mit naturwissenschaftlichen und mit geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu tun. Eine naturwissenschaftlich vorgehende Anthropologie ist vor allem an der Biologie des Menschen und an seiner biologischen Evolution als Gattung interessiert. Ähnlich wie die Zoologie behandelt sie den Menschen als Species. (Vgl. Stein 2/2010, S.23) Eine geisteswissenschaftlich vorgehende Anthropologie hingegen behandelt das menschliche Individuum selbst als Species: „Wenn in einem Fall Species, im anderen Individuen dargestellt werden, so bedeutet das keinen Unterschied der Wissenschaftlichkeit, da dieses Gebiet das eine, jenes das andere sachlich verlangt. Denn zum Menschen gehört Individualität, und man hat ihn nicht erfaßt, wenn man ihrer nicht habhaft geworden ist.“ (Stein 2/2010, S.23)

Anders als bei Pflanzen und Tieren, bei denen das Individuum nur Träger der Species ist, insofern „die Species nur in den Individuen realiter ins Dasein treten“ können (vgl. Stein 2/2010, S.56), unterscheidet Edith Stein beim Menschen noch einmal zwischen Gattung (Menschheit) und Species (individueller Mensch): „.So kommen wir dazu, das menschliche Individuum nicht als Exemplar einer allgemeinen Species Mensch aufzufassen, sondern durch seine eigene, einzigartige substanziale Form bestimmt, die als Spezifizierung der Gattungsidee aufzufassen ist.“ (Stein 2/2010, S.96)

Edith Stein zufolge bildet also jeder konkrete Mensch eine Species für sich, womit sie zum Ausdruck bringen will, daß wir als Individuen unsere „innere Form“ in uns selbst haben (vgl. Stein 2/2010, S.34, 38). Anders als bei Pflanzen und Tieren, die nur eine gemeinsame innere Form haben, die der Gattung, bilden die Menschen so viele verschiedene Species, wie es Menschen gibt. Jeder einzelne Mensch unterscheidet sich also seiner inneren Form nach von jedem anderen Menschen innerhalb der Gattung: die „Normalgestalt ist nicht eine für die ganze Species Mensch“. (Vgl. Stein 2/2010, S.34)

Darüber hinaus bildet Edith Stein zufolge aber auch die Gattung selbst eine ‚Species‘. Die Gattung ‚Mensch‘ bzw. die Menschheit hat ihre eigene individuelle Form: „Wenn außer von der Gattung ‚Mensch‘, die sich nur spezifiziert in Individuen realisieren kann, von einer Species ‚Mensch‘ (nicht dieser Mensch) geredet werden soll, so muß sie wiederum individuell gefaßt werden, nämlich als Species der Menschheit, die als ein großes Individuum zu fassen ist. Die menschlichen Individuen sind Glieder dieses großen Individuums und ihre Formen Gliedformen.“ (Stein 2/2010, S.96)

Darin steckt ein Stück katholische Glaubenslehre. Die Menschheit muß deshalb eine eigene, in sich zusammenhängende und über das konkrete Individuum hinausreichende Species bilden, weil es sonst keine „Erbsünde“ geben könnte, die sich von Individuum zu Individuum weitervererbt. Dennoch hat Edith Steins Differenzierung zwischen konkretem Individuum und Gattungsindividuum einen rationalen Sinn. Wir können die Individualisierung der Menschheit auch als einen Effekt der Globalisierung verstehen. Dadurch, daß das Schicksal jedes einzelnen Menschen im Guten wie im Schlechten mit dem gemeinsamen Handeln aller Menschen auf dieser Welt verknüpft ist, bildet die Menschheit insgesamt eine Schicksalsgemeinschaft.

Insofern hat Edith Stein die Menschheit im Zuge ihrer Evolution, in der die Vielfalt der Hominiden im gegenwärtigen Stand einer einzigen Species aufgegangen ist, sowohl biologisch wie auch kulturell korrekt beschrieben. Ihre Differenzierung verschiedener wissenschaftlicher Zugriffe auf den Speciescharakter von Mensch und Menschheit macht auch außerhalb einer spezifisch christlichen Anthropologie Sinn.

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Freitag, 26. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
(vgl. hierzu auch meinen Post vom 13.02.2016)
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

Nachdem ich in meinem Post vom 11.07.2013 den Verdacht geäußert hatte, daß Edith Steins Anthropologie auf dem katholischen Glaubensbekenntnis beruht, was immer auch mit Einschränkungen der Denkfreiheit einhergeht, habe ich mich inzwischen noch einmal eingehend mit ihrer Vorlesung zur philosophischen Anthropologie „Der Aufbau der menschlichen Person“ (1932/33) befaßt. Ich hatte Edith Stein bislang noch nicht gelesen und wollte mich noch einmal vergewissern, daß ich mit meinem Verdacht nicht falsch liege.

Um es gleich vorwegzunehmen: Edith Stein bewegt sich mit ihrer Anthropologie tatsächlich auf der „dogmatische(n) Grundlage“ (Stein 2/2010, S.9) des katholischen Glaubensbekenntnisses. Zu den „Glaubenswahrheiten“ (Stein 2/2010, S.9, 27, 160 u.ö.), deren jede ‚Anthropologie‘ als „Beschreibung des menschlichen Seins, wie es wirklich ist“, inklusive seiner „allgemein faßbare(n) Seinsstruktur“ (vgl. Stein 2/2012, S.23f.), bedarf, zählt Stein u.a. die „Trinität“ (Stein 2/2010, S.9), die Kreatürlichkeit des Menschen (als Gattung) und der individuellen Menschenseele (von Gott geschaffen (vgl. Stein 2/2010, S.160)) und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf (vgl. Stein 2/2010, S.160).

Insbesondere die Gottesebenbildlichkeit des Menschen dient Edith Stein als wichtiges Erkenntnismittel für eine „christliche Anthropologie“ (Stein 2/2010, S.9), da sich aus der trinitarischen Struktur der Gottheit viele spezifische Hinweise auf den menschlichen ‚Geist‘ und die menschliche ‚Seele‘ ableiten lassen, die einer bloß empirisch und geisteswissenschaftlich vorgehenden Anthropologie notwendigerweise verborgen bleiben müssen. Deshalb bilden die katholische Glaubenslehre und mit ihr die Theologie den krönenden Abschluß jeder anthropologischen ‚Teildisziplin‘; denn in bezug auf den Menschen befaßt sich jede nicht christliche Anthropologie nur mit verschiedenen Aspekten des Menschseins, aber nicht mit dem ganzen Menschen. In einer vollständigen, den ganzen Menschen umfassenden Anthropologie „laufen ... alle metaphysischen, philosophischen, theologischen Fragen zusammen, und von hier aus führen die Wege nach allen Seiten.“ (Stein 2/2010, S.26)

Jede Wissenschaft vom Menschen, etwa die Erziehungswissenschaft, muß trotz aller erkenntnismäßigen Beschränkung, letztlich von sich aus auf die katholischen Glaubenswahrheiten hinauslaufen: „... wenn sie richtig verfährt, muß das, was sie herausstellt, mit den Glaubensinhalten übereinstimmen, wenn es auch nicht daraus entnommen ist.“ (Stein 2/2010, S.161) – Stein zufolge kann es nur eine Wahrheit geben. Zwischen Wissenschaft und Glauben kann letztlich nicht unterschieden werden. Deshalb „kann nichts wahr sein, was zur offenbarten Wahrheit in Widerspruch steht.“ (Stein 2/2010, S.27) Die Offenbarung steht als „Tatsache“ (Stein 2/2010, S.160), also als Quelle empirischer Erfahrung, mit den von den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen erhobenen Daten auf einer Stufe.

Gerade die letzten Bemerkungen zur Gleichartigkeit von wissenschaftlichem und offenbartem Wissen zeigt, daß Edith Stein bei aller intellektuellen und phänomenologischen Brillanz, die sie bei der Beschreibung der menschlichen Person an den Tag legt, nicht verstanden hat, was wissenschaftliches Wissen ist. Die Vorstellung, wissenschaftliches Wissen müsse gerade aufgrund der Anwendung seiner ureigenen Methodiken letztlich (oder im Letzten?) mit den Glaubenswahrheiten übereinstimmen, ist aufschlußreich. Wissenschaftliches Vorgehen ist eben nicht auf letzte Wahrheiten oder Gewißheiten ausgerichtet. In der Wissenschaft geht es eben nicht um das Ansammeln und Bewahren eines überzeitlich gültigen Wissensbestandes. Wissenschaftliches Wissen erweist seine Wissenschaftlichkeit im Gegenteil in der Falsifizierbarkeit (Naturwissenschaften) bzw. Plausibilität (Geisteswissenschaften) von Forschungsergebnissen. Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die sich nicht falsifizieren lassen, etwa weil sie sich der Autorität eines „überlegenen Geist(es)“ verdanken (vgl. Stein 2/2010, S.160), können keine wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen. Geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse können hinwiederum keinen höheren Erkenntnisrang als Plausibilität für sich beanspruchen und müssen sich jederzeit im Diskurs in Frage stellen lassen. Wissenschaftliches Wissen ist immer nur auf Zeit gültig, niemals auf Ewigkeit.

Plessner hat sich deshalb in seiner Anthropologie jeder metaphysischen Begründung enthalten. Ihm zufolge muß jede Anthropologie innerhalb der Grenzen einer „Analyse“ des „menschlichen Ausdrucks“ verbleiben. (Vgl. „Lachen und Weinen“ (1941/1950)) Anthropologie bleibt „auf den Bereich des Verhaltens des Menschen zur Welt und seinesgleichen“ verwiesen: „Nie darf deshalb die Analyse Begriffe und Schemata einer Metaphysik zu Hilfe rufen. Diese Zurückhaltung gegenüber metaphysischen Theorien entspringt bei uns keiner Feindschaft oder Abwertung metaphysischen Denkens, sondern allein der Sorge um Befreiung von Vorurteilen, die einer Beantwortung von Problemen des Ausdrucks im Wege standen.“ („Lachen und Weinen“ (1941/1950), S.24) – Ein krasseres Vorurteil als das ‚Vorurteil‘ einer einer höheren Urteilskraft zu verdankenden Offenbarung ist schlicht nicht denkbar.

Im Zentrum der Plessnerschen Anthropologie steht deshalb nicht ein Glaubensbekenntnis, sondern der Begriff der exzentrischen Positionalität: „(D)ie Einführung eines neutralen, von jeder Deutung menschlicher Wesentlichkeit und Eigentlichkeit sich zurückhaltenden Begriffs wie jenes der ‚exzentrischen Position‘ (ist) mit Bedacht gewählt. Unter bewußter Vermeidung belastender, vieldeutiger Worte, welche den anschaulichen Grundbestand verdecken, weist dieser Begriff auf ihn als auf eine Verfassung und Weise des leibhaftigen Daseins hin. Gegen die Verführung hierbei sich nun wieder auf die Außen- oder auf die Innenseite des Zweiseitenmodells des Menschen zu schlagen, die Daseinsverfassung also nach physischen oder psychisch-geistigen Kategorien zu bestimmen und dann hinterher, um den Schaden der Einseitigkeit wieder gutzumachen, einen Kompromiß zwischen Außen und Innen zu schließen – gegen diese Verführung wahrt der Begriff auch Neutralität im Aspekt. Er ist gegen die Blickumkehr, zu der uns schon ansatzweise das lebendige Dasein, in voller Entfaltung aber erst menschliches Dasein zwingt, nicht indifferent, wohl aber neutral.“ („Lachen und Weinen“ (1941/1950), S.49f.)

Die metaphysische Neutralität ist eigentlich auch ein ‚Wesens‘-Merkmal der Phänomenologie. Mit dem Aufruf, „die Sachen selbst ins Auge (zu) fassen“ (Stein 2/2010, S.28), hatte Husserl eigentlich den Weg zu einer neuen wissenschaftlichen Sachlichkeit ebnen wollen. Die Sachen selbst, das sollten vor allem die Erscheinungen sein, die Phänomene, wie wir sie wahrnehmen. Die Erscheinungen an ihrer Oberfläche abzutasten und sich nicht von der Vermutung eines hinter ihnen verborgenen An-sich-Seins, von dem sie eben nur die ‚Erscheinung‘ sind, beirren zu lassen, – das war der eigentliche Zweck der phänomenologischen Methode.

Insofern ist es fast schon komisch, wenn Edith Stein für ihre, einer „christlichen Metaphysik“ (Stein 2/2010, S.9) verpflichtete Anthropologie die Sachlichkeit der phänomenologischen Methode in Anspruch nimmt. Wie sie selbst schreibt, besteht die christliche Offenbarung aus Mysterien: „Katholischer Glaube steht und fällt mit den Mysterien, und zur Idee des Mysteriums gehört die Unzugänglichkeit für natürliche Erkenntnis.“ (Stein 2/2010, S.161) – Was aber für die natürliche Erkenntnis unzugänglich ist, kann auch keiner Phänomenologie zugänglich sein. Denn der Phänomenologie zufolge sind die Erscheinungen das, was sie sind, und nichts anderes.

Wie aber kann ein so intellektueller Mensch wie Edith Stein zu so einem gravierenden Mißverständnis gelangen? Das Problem liegt in der Husserlschen Phänomenologie selbst. Husserl setzt „Gestalt“ mit „Wesen“ gleich. (Vgl. meinen Post vom 21.06.2010) Wenn man ein empirisches oder geistiges Phänomen, eine Kaffeetasse oder Empfindungen wie Freude oder Trauer, beschreiben will, muß man allererst seine Erscheinungsweise beschreiben: in welcher Weise gibt sich uns ein Phänomen als das Phänomen, das wir gerade wahrnehmen? Das Phänomen hat also eine bestimmte Gestalt, und die Wahrnehmung dieser Gestalt beschreibt Husserl als Wesensanschauung.

Nun hat der Begriff der Wesensanschauung in der deutschen Tradition immer auch seine metaphysischen Implikationen. Ob Husserl diese metaphysischen Implikationen bewußt und insgeheim billigend in Kauf genommen hat, weiß ich nicht. Aber Blumenberg zufolge bildet die Husserlsche Wesensanschauung das Einfallstor für Metaphysiken und Ontologien aller Art. Der Begriff der „Wesensanschauung“ ist metaphysisch nicht „neutral“, wie etwa der der exzentischen Positionalität, und auch Blumenberg fordert deshalb eine „schulneutrale Sprache“: „Sie muß alle Ansätze für dogmatische Behauptungen zur Differenz von Schein und Sein ausschalten.“ („Höhlenausgänge“ (1989), S.488; vgl. hierzu auch meinen Post vom 12.07.2012)

Es ist genau diese Wesensanschauung als eine Form geistiger Anschauung, die Edith Stein für ihre christliche Anthropologie in Anspruch nimmt. (Vgl. Stein 2/2010, S.29) Sie ermöglicht es ihr – nicht ohne Bezug auf Heidegger (vgl. Stein 2/2010, S.7ff.) –, die Erscheinungen mit einem „eigentlichen Sein“ auszustatten und so metaphysisch aufzuladen.

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Sonntag, 14. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Es ist selten genug, wenn man einem Neurobiologen begegnet, der das subjektive Erleben des Menschen in seinen Studien ernstnimmt und in seiner organischen und kulturellen Ganzheit zu verstehen versucht, anstatt es auf seine neurologischen Schaltkreise zu reduzieren. So wird auch Antonio Damasio immer wieder zum Kronzeugen einer nicht-reduktiven Perspektive auf das Gehirn. Auch Marcus Knaup hebt Damasios Bedeutung für ein entsprechend ganzheitlich angelegtes Forschungsprogramm hervor: „Damasio kommt auch nicht auf die Idee, sich in diesem oder jenem Hirnareal auf die Jagd nach bewussten Lebensäußerungen zu machen. Bewusstsein sei ja schließlich keine Eigenschaft von Gehirnen. ... Die herausragende Rolle schreibt Damasio der Leiblichkeit zu. Dass wir unseren Leib erleben, wie wir im letzten Kapitel gesagt haben, wird von Damasio ernst genommen.“ (Knaup 2012, S.410)

So verführerisch es ist, Damasio für einen nicht-reduktiven Hylemorphismus in Anspruch zu nehmen, so kann man dennoch nicht einfach über seine Nähe zu den von Knaup beschriebenen verschiedenen Versionen monistischer Theorieansätze hinwegsehen. Knaup selbst verweist ausführlich auf Damasios Vorliebe für Spinozas Substanzmonismus. (Vgl. Knaup 2012, S.122f.) Letztlich bleibt Knaup auch eine nähere Erläuterung dazu schuldig, inwiefern der Hylemorphismus eine Alternative zu substanzdualistischen Ansätzen wie dem Kartesianismus und zu den reduktionistischen Ansätzen idealistischer und materialistischer Prägung darstellt, dabei aber selbst kein Monismus sein soll. Denn Form (morphê) und Stoff (hylê) bilden ja eine untrennbare, nur begrifflich unterscheidbare Einheit. (Vgl. Knaup 2012, S.246)

Wenn es um eine echte, nicht-metaphysische Alternative zum Physikalismus und Naturalismus geht, sollte man sich meiner Ansicht nach nicht dazu verleiten lassen, sich pauschal gegen jede Form des Monismus zu wenden. Konsequent diesseitige Menschlichkeit kann ohne jeden Jenseitsbezug auskommen. Oder anders: auch der Jenseitsbezug läßt sich innerhalb unserer leiblichen Diesseitigkeit ausdifferenzieren, etwa im Sinne der Plessnerschen Doppelaspektivität: einem Perspektivendualismus auf der Grenze von Innen und Außen. Dieser Perspektivendualismus beinhaltet beides: einen materiellen Monismus und eine geistige und seelische Differenz.

Wichtig ist dabei vor allem, nicht der Versuchung zu erliegen, diesen Perspektivendualismus auf eine einheitliche, formelhafte Begrifflichkeit zu bringen. Wenn wir nicht mehr begrifflich zwischen Leib und Seele bzw. Geist unterscheiden, verschwindet auch die Differenz und spielt dann auch in unserem Erleben und Handeln keine Rolle mehr. Das Miteinander der Menschen wird nur noch durch ihre Maschinenebenbildlichkeit geprägt.

Genau diesen Kategorienfehler macht Damasio in seinem neuesten Buch „Self Comes to Mind“ (2010). (Vgl. auch meinen Post vom 15.08.2012) Er verzichtet bewußt darauf, die Innenperspektive, also das subjektive Erleben, in anderen als physiologischen Begriffen zu beschreiben und setzt den biologischen Wert mit moralischen Kriterien und kulturellen Präferenzen gleich. Insofern bleibt auch ihm der Vorwurf eines reduktiven Physikalismus nicht erspart.

Aber zu diesem Reduktionismus gehört eben nicht sein Konzept vom Selbst als einem Prozeß, der zu den biologischen, von ihm als Geistprozeß beschriebenen Prozessen hinzukommt. Damasio ist eben kein reduktiver Supervenienztheoretiker wie die von Knaup beschriebenen Neurowissenschaftler, die ihren Ansatz zwar auch als nicht-reduktionistisch verstehen, dabei aber dennoch die zur Neurophysiologie hinzukommende geistige bzw. seelische Ebene als einseitig durch die Neurophysiologie bedingt darstellen. (Vgl. Knaup 2012, S.191f.)

Ob ein Supervenienztheoretiker einen reduktiven Ansatz verfolgt oder nicht, entscheidet sich vor allem an der Frage, ob der hinzukommenden geistigen bzw. seelischen Ebene gegenüber der neurophysiologischen Ebene ein eigener Bewegungsraum zugestanden wird, etwa als exzentrische Positionalität (Plessner). Bildet also die Bewußtseinsebene einen eigenen an Sinn und Wahrheit orientierten Bewegungsraum (vgl. Knaup 2012, S.181) oder ist sie in jedem einzelnen, isolierten Erlebnisakt durch die Ebene physiologischer Prozesse bedingt?

Damasio tritt eben genau für diese Bewegungsfreiheit des erweiterten Bewußtseins ein, wie ich es auch mit einem Sphärenmodell versucht habe zu veranschaulichen. (Vgl. meinen Post vom 19.08.2012) Das Sphärenmodell stellt in seinen verschiedenen Ebenen nichts anderes dar, als verschiedene Bewußtseinsstufen, die Schicht für Schicht zur gesamtkörperlichen Physiologie hinzukommen und dabei miteinander wechselwirken. Es handelt sich also bei den einzelnen Sphären nicht um Epiphänomene.

Damasio findet für dieses Bewußtseinsmodell das schöne Bild des unsichtbaren Dirigenten, der zu einer Orchesteraufführung ‚hinzukommt‘ und von dem man nicht weiß, wo er vorher gewesen ist und wo er nachher sein wird, ohne den aber das ganze Spektakel keine Symphonie ergeben würde.

Entscheidend ist also, daß die einzelnen Sphären ihre eigenen Bewegungsspielräume haben und dennoch miteinander wechselwirken. Dabei sind aber die ‚höheren‘ Sphären einseitig in den ‚niederen‘ Sphären fundiert. Wenn erweiterte Bewußtseinsfunktionen ausfallen, können die ‚darunter‘ liegenden physiologischen Funktionen dennoch weiter aufrechterhalten werden. Dasselbe gilt umgekehrt nicht. Wenn die biologischen Funktionen ausfallen, fällt auch das Bewußtsein aus. Das ist der Grund, warum wir es hier mit einem materialistischen Monismus zu tun haben. Von ihm aus führt kein Weg zu einer Metaphysik.

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Samstag, 13. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Ich hatte schon in einem anderen Post (vom 06.06.2013) darauf hingewiesen, daß die enorme Plastizität des Gehirns gegen die 1:1 Korrelation von Gehirnfunktionen für spezifische Bewußtseinsqualitäten spricht. Wenn immer wieder solche Gehirnbereiche entdeckt werden und Schlagzeilen machen, wie jüngst die temporoparietale Übergangsregion (TPJ) im Mental-Netzwerk, die für Begeisterung und Mitteilungsdrang zuständig sein soll, so belegen diese Resultate – vorausgesetzt, es ist im Experiment und beim Auswerten der Daten alles mit rechten Dingen zugegangen (vgl. meinen Post vom 05.06.2013) – zunächst einmal nur, daß dieser Gehirnbereich für diese mentalen Lebensäußerungen funktional ist. Eine darüber hinaus gehende Determination ist damit nicht belegbar.

So verweist Marcus Knaup z.B. in einem Gedankenexperiment auf einen Philosophen, der mit seiner Streitlust seiner Umgebung, insbesondere den Hirnforschern, auf die Nerven geht: „Angenommen, es wäre ... tatsächlich geglückt, ein NCC (neural correlates of consciousness – DZ) für die Streitlust des Philosophen auszumachen, der vor keiner Diskussion mit einem Hirnforscher einen Bogen gemacht hat und bereit war, sich untersuchen zu lassen. In seiner jetzigen Lebenssituation nach einem schlimmen Unfall könnte es sein, dass eben dieser Hirnbereich eine ganz andere Bestimmung für den Gesamtorganismus innehat, weshalb wir festhalten müssen, dass NCCs nicht hinreichend sein können für bewusste mentale Lebensäußerungen.()“ (Knaup 2012, S.389f.)

Aufgrund des „stetigen Formprozesses“, in dem sich Knaup zufolge „unser Zerebrum“ befindet, also aufgrund seiner Plastizität, können nämlich durch Unfall, Krankheit oder Operation beschädigte oder entfernte Gehirnbereiche und ihre verlorengegangenen Funktionen von anderen Gehirnbereichen übernommen werden. Ein Gehirnbereich, der vorher für Streitlust ‚zuständig‘ (bzw. funktional) war, kann nun eine andere Aufgabe übernehmen, oder, falls dieser Bereich selbst beschädigt wurde, können ihn andere Bereiche ersetzen.

Plastizität ist so ziemlich das Gegenteil von Determination. Entweder bildet ein lokalisierbares neuronales Set ein Korrelat für ‚Streitlust‘ oder ‚Begeisterung‘ oder ‚Mitteilungsdrang‘ oder nicht. Es kann nicht eine bestimmte korrelative Funktion innehaben und bei späterer Gelegenheit eine andere korrelative Funktion übernehmen und gleichzeitig mentale Lebensäußerungen diktieren.

Aber es gibt nicht nur diese Plastizität in der bereichsspezifischen Zuständigkeit von Gehirnfunktionen. Es gibt darüber hinaus auch eine Plastizität hinsichtlich ihrer mentalen Inhalte. Das zeigt sich z.B. an den sogenannten Bereitschaftspotentialen (BP), wie sie Benjamin Libet in seinen berühmten Experimenten entdeckt hat. (Vgl. Knaup 2012, S.498ff.) Diese Bereitschaftspotentiale werden von den Neurodeterministen immer wieder gerne als Beweis dafür angeführt, daß es keine Willensfreiheit gibt. Im Experiment treten bei den Versuchspersonen diese Bereitschaftspotentiale etwa 550 Millisekunden vor dem bewußten Entschluß auf, einen bestimmten Finger zu heben.

In einem anderen Experiment wurden Teilnehmern Handlungsalternativen geboten. Statt nur einen bestimmten Finger hochzuheben, sollten sie einen von zwei Knöpfen drücken: „Laut Versuchsanordnung sollten die Probanden entweder mit dem rechten oder linken Zeigefinger einen von zwei Knöpfen bedienen. ... Wie bereits bei Libet, so konnte auch hier eine Umgestaltung im Hirn ausgemacht werden, noch bevor die Teilnehmer irgendwelche Aktionen starteten. Allerdings: Um welchen Knopf es jeweils ging, ergab sich aus den ihnen in einem zeitlichen Abstand von 1 bis 1,5 Sekunden dargebotenen geometrischen Figuren, die allesamt eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Das wirklich Überraschende war dies: Noch bevor das Team überhaupt die unterschiedlichen Darstellungen präsentierte, konnte schon ein BP ausgemacht werden.() Und was noch weit mehr verblüffte: Ob denn nun der rechte oder doch der andere Knopf zu drücken war, war zu diesem Augenblick für die Beteiligten überhaupt noch nicht abzuschätzen!" (Knaup 2012, S.527)

Das gemessene Bereitschaftspotential ist also viel zu unspezifisch, um irgendetwas darüber auszusagen, was man konkret tun wird. Damit läßt sich aber kein Neurodeterminismus begründen. Die Experimentatoren schlagen vor, die Bereitschaftspotentiale nur als „Richtungsanzeiger“ dafür zu verstehen, „dass eine Person einer Sache mit mehr oder weniger großer Spannung entgegensieht.()“ (Vgl. Knaup 2012, S.527) Anders formuliert: Bereitschaftspotentiale sind funktional für Intentionalität, mehr aber auch nicht. Auch die eingangs genannte temporoparietale Übergangsregion, die für Begeisterung und Mitteilungsdrang zuständig sein soll, legt nicht fest, wofür ich mich begeistere oder was ich wem mitteilen möchte. Außerdem belegen die diesbezüglichen Studien offensichtlich, daß die genannte Region nicht nur für ein bestimmtes Bewußtseinsmoment zuständig ist, sondern gleich für zwei. Also auch hier keine 1:1-Korrelation.

Daß gleiche quantifizierbare und lokalisierbare Gehirnzustände nicht zwangsläufig auch gleiche qualitative Bewußtseinszustände mit sich bringen müssen, veranschaulicht sehr schön das von dem Berliner Philosophen Dominik Perler stammende Gedankenexperiment von der Zwillingserde und dem Zwillingserdenbewohner. In diesem Gedankenexperiment geht es darum, daß trotz gleicher physiologischer Denkvoraussetzungen zwei in Parallelwelten lebende, physisch perfekt aufeinander abgestimmte Zwillinge völlig verschiedene Gedanken denken können, so daß also „der Gehirnzustand den Inhalt unserer Überzeugungen nicht festlegt.“ (Vgl. Knaup 2012, S.297, Fußnote 134)

Marcus Knaup weist noch auf ein weiteres Manko beim Messen und Zuordnen von Gehirnfunktionen und Bewußtseinsqualitäten hin: Neurowissenschaftler können immer nur nach schon festgelegten neuronalen Schaltkreisen und ihren mentalen ‚Korrelaten‘ suchen. Die eigentliche Leistung des Bewußtseins kommt dabei aber gar nicht in den Blick: nämlich die Fähigkeit, etwas zu verstehen, was man bislang noch nicht verstanden hatte, den sogenannten ‚Kairos‘: „Neurowissenschaftlern geht es um das, was jederzeit einer Prüfung offen steht. Um einmalige Kairos-Situationen geht es ihnen nicht.“ (Knaup 2012, S.327)

Der ‚Kairos‘ bildet einen göttlichen Zeitpunkt, der aus dem normalen Leben herausfällt. Bei solchen göttlichen Momenten kann es sich um „Einsichten der Mystiker“ handeln (vgl. Knaup 2012, S.425) oder um Lernerfahrungen oder – wie bei Nishitani, den ich in diesem Zusammenhang einfach immer wieder gerne zitiere – um einen Nieser, der zur Erleuchtung führt. Solche „völlig außerordentliche(n) bewusste(n) Lebenserfahrungen“ begegnen uns in „Laboruntersuchungen“ nicht. (Vgl. ebenda) Sie bilden aber einen wichtigen Aspekt der menschlichen Freiheit, die die Neurodeterministen leugnen.

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Freitag, 12. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

‚Supervenienz‘ und ‚Epiphänomenalismus‘ sind zwei gleichermaßen seltsame Begriffsbildungen, die von der Bedeutung her auf dasselbe hinauslaufen, aber in einem unterschiedlichen Sinne gebraucht werden. Supervenienz als das ‚Hinzukommende‘ meint Bewußtseinsphänomene, die zu den neurophysiologischen Prozessen ‚hinzukommen‘. Sie machen deren Erlebnisqualität aus und sollen nicht auf diese Prozesse reduzierbar sein. (Vgl. Knaup 2012, S.191f.)

Es sind vor allem die nicht-reduktiven Physikalisten, die im Gegensatz zu den reduktiven Physikalisten und ihrem Epiphänomenalismus auf diesen Unterschied zwischen Bewußtseinsprozessen und neurophysiologischen Prozessen beharren. Da aber auch sie, wie die reduktiven Physikalisten, davon ausgehen, daß die Bewußtseinprozesse durch die neurophysiologischen Prozesse determiniert sind, ist eigentlich der Unterschied nur ein verbaler.

Man könnte aber auch Antonio Damasio als einen Supervenienztheoretiker bezeichnen. Schon der Titel seines letzten Buches, „Self Comes to Mind“ (2010), beinhaltet ja ein Hinzukommen des ‚Selbst‘ zum ‚Geist‘, wobei ‚Geist‘ bei ihm gleichbedeutend ist mit der gesamtorganischen Physiologie. (Vgl. meine Posts vom 15.08. bis zum 19.08.2012) Es ist  also nicht eigentlich das Bewußtsein, das zum Gehirn hinzukommt, sondern das Selbstbewußtsein, das zum Körperzellenbewußtsein hinzukommt; denn die Physiologie jeder Körperzelle beinhaltet Damasio zufolge ‚mind‘-Prozesse. Auf den Sonderfall einer Supervenienz, wie sie Damasio vertritt, werde ich nochmal im letzten Post eingehen.

Legt man also die Supervenienz darauf fest, daß zwar zu den neurophysiologischen Prozessen nicht reduzierbare Bewußtseinsqualitäten hinzukommen, diese aber jede für sich neurophysiologisch determiniert sind, so ist der Unterschied zum Epiphänomenalismus der reduktiven Physikalisten unerheblich. Das seltsame am Begriff des Epiphänomenalismus ist der kausale Zusammenhang, der angeblich zu den neurophysiologischen Prozessen besteht: Wie kann etwas kausal durch eine vorausgegangene Ursache bewirkt werden, selbst aber als Ursache für weitere Wirkungen nicht mehr in Betracht kommen? Das ist rein physikalisch gesehen unmöglich.

Wenn ich eine Billardkugel mit einem Queue anstoße, wird diese Kugel über den Tisch rollen und andere Kugeln anstoßen, die dann wiederum weitere Kugeln anstoßen. Keine der Kugeln, die in der Folge von der ersten Kugel angestoßen werden, wird einfach liegen bleiben und so tun, als wäre sie nicht angestoßen worden. Der erste Stoß durch den Queue war möglicherweise die Erstursache. Aber diese Erstursache ist kein bißchen gegenüber den von ihr bewirkten, nachfolgenden Ursachen in irgendeiner Weise qualitativ ausgezeichnet. Keine der in der Folge angestoßenen Kugeln bildet nur ein Epiphänomen!

Wie kann also das Bewußtsein bzw. wie können einzelne Bewußtseinsqualitäten, die von spezifischen neurophysiologischen Prozessen angestoßen werden, bloß Epiphänomene sein? Haben wir es hier vielleicht nur mit dem Klicken und Klacken beim Aufeinandertreffen von Queues und Billardkugeln zu tun, also mit das Geschehen auf dem Billardtisch begleitenden Geräuschen? Sind Epiphänomene vergleichbar mit Echos oder mit Schatten an der Wand? Auch Echos und Schatten sind eingebunden in eine komplexe physikalische Welt und haben ihre Kausalität. Sie verhallen oder verblassen nicht nur, sondern hinterlassen Spuren!

Es macht also keinen Sinn, Bewußtseinsqualitäten als bloße Epiphänomene zu beschreiben, wenn sie denn tatsächlich durch neurophysiologische Prozesse determiniert sind, also Momente eines gesetzmäßig verlaufenden Naturprozesses bilden sollen. Ursprünglich war mit dem Begriff des Epiphänomens auch etwas anderes gemeint: eben nicht ein determinierter, also kausal notwendig und deshalb gesetzmäßig verlaufender, selbst aber wirkungslos bleibender Prozeß, sondern eine zufällige, nicht notwendige Begleiterscheinung! Ein Epiphänomen kann nicht beides sein: einerseits determiniert, andererseits zufällig, also nicht-determiniert.

Das eigentliche Problem der Supervenienztheoretiker, die den reduktiven Physikalismus mit seinem Epiphänomenalismus nicht mitmachen wollen und die Nicht-Reduzierbarkeit von Bewußtseinsqualitäten behaupten, besteht darin, daß auch sie von einem strengen Determinismus ausgehen, der eine Zwei-Wege-Kausalität nicht vorsieht: „Läuft es auf eine Veränderung der mentalen Lebensäußerungen hinaus, dann muss hier auch eine Veränderung im physischen Bereich mitspielen. Die umgekehrte Wegrichtung gilt aber nicht.“ (Knaup 2012, S.192) – Wenn aber den Supervenienztheoretikern zufolge „unsere mentalen Lebensäußerungen voll und ganz von der subvenienten physischen Basis determiniert sind“ (vgl. Knaup 2012, S.194) und eine Rückwirkung der Bewußtseinskugel auf den anstoßenden Neuro-Queue mangels Masse nicht vorkommt, so haben wir es hier letztlich doch wieder nur mit folgenlos bleiben Epiphänomenen zu tun.

Diese Problematik mit der 1:1-Verursachung von Bewußtseinsqualitäten zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, daß ein für sich fortdauernder Bewußtseinsprozeß, in dem sich Motive und Gründe auf Willensakte und Handlungsentscheidungen auswirken, nicht in jedem einzelnen Akt determiniert sein kann! Wir müssen zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Motivierung unterscheiden. Vertikal ‚motiviert‘ sind einzelne Bewußtseinsakte, denen ihre Inhalte aus dem lebendigen Gesamtorganismus zuwachsen. Das ist der Bereich der ‚Intuition‘. Horizontal motiviert sind umfassendere Bewußtseinsprozesse, in denen wir unsere Wahrnehmungen und Eingebungen analysieren, bewerten und einordnen.

Ich will an dieser Stelle nicht nochmal auf meine Differenzierung zwischen Bewußtem, Unterbewußtem und Unbewußtem eingehen. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Hier soll reichen, daß sich diese horizontalen, auf einer eigenen Ebene stattfindenden Klärungsprozesse selbstverständlich auch wieder auf die physiologische Ebene des Gesamtorganismus auswirken. Bewußtseinsakte haben also durchaus Wirkungen und bilden nicht einfach nur Epiphänomene, weder zufällige noch determinierte. Sie haben eine Wirksamkeit für sich, auf ihrer eigenen, von der physiologischen weitgehend unabhängigen Ebene, und sie haben eine Wirksamkeit auf die Physiologie.

Dieser Zusammenhang wird in Benjamin Libets Argumentation nicht berücksichtigt. Wenn Libet davon ausgeht, daß seine Experimente belegen, daß es die Möglichkeit eines „Veto“ gibt, daß wir also ein Zeitfenster von 150 Millisekunden haben, uns gegen die unterbewußt angebahnten Entscheidungsprozesse zu wenden (vgl. Knaup 2012, S.509), so ist diese Willensfreiheit im Grunde genau so unfrei wie ein durch und durch determinierter Entscheidungsprozeß, dem dieses Zeitfenster fehlt. Ein isolierter, punktueller Willensakt ist nur ein zufälliger Willkürakt. Zufälligkeit und Determination sind aber nur Zwillingsschwestern desselben Verhängniszusammenhangs: „Wie die Annahme eines starren Determinismus, so führt die einseitige Auffassung einer unbedingten menschlichen Freiheit auf die schiefe Bahn.“ (Knaup 2012, S.568)

Eine unbedingte menschliche Freiheit wäre nämlich gleichbedeutend mit Zufälligkeit und Willkür. Freiheit kann sinnvollerweise nur als ein Gesamtprozeß verstanden werden, in dem Ursachen und ihre Wirkungen mit Hilfe von Gründen und ihren Folgen in einen Sinnzusammenhang gebracht werden. Willensfreiheit bedarf also der Gedankenfreiheit, und die Gedankenfreiheit bedarf eines Bewegungsraumes, der weit über 150 Millisekunden hinausreicht.

Knaup zeigt das sehr schön am Beispiel des Schachspiels, mit dem ich diesen Post auch beenden will: „Es gibt strenge Regeln und Bedingungen, an denen sich die Kontrahenten orientieren müssen (besonders auch bei Turnierspielen), aber ‚unfrei‘ wird das Spiel dadurch nun wirklich ganz und gar nicht. Gerade diese Bedingungen sind es ... die einen Freiheitsraum auftun.“ (Knaup 2012, S.583) – „Menschliche Freiheit ist ein Zusammenspiel von Regeln (Bedingungen) und nicht vorgegebenen Spielzügen (Entscheidungen).()“ (Knaup 2012, S.584)

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Donnerstag, 11. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Leiblichkeit
3. Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Es sind vor allem zwei Gewährspersonen, auf die sich Marcus Knaup mit seiner Alternative zu den verschiedenen dualistischen und monistischen Konzeptionen zum Leib-Seele-Problem bezieht: Aristoteles (vgl. Knaup 2012, S.216-250) und Edith Stein (vgl. Knaup 2012, S.339-372). Der zentrale Begriff bei Aristoteles ist der „Hylemorphismus“ und bei Edith Stein der „Leibkörper“. Zum Leibkörper fällt einem im Rahmen dieses Blogs gleich Plessners Begriff des „Körperleibs“ ein. Trotz der Ähnlichkeit beider Begriffsbildungen ist damit aber nicht dasselbe gemeint. Das Verhältnis von Leib und Körper ist bei Stein und Plessner verschiedenartig konzipiert. Um das zu verdeutlichen, muß ich hier noch mal auf die Begriffe Stoff bzw. Materie und Form, also auf den Begriff des Hylemorphismus eingehen.

Knaup zufolge „durchwaltet“ die Form bzw. „durchformt“ die Seele den Stoff. (Vgl. Knaup 2012, S.224 und S.247) Die ‚Form‘ bzw. die ‚Seele‘ bildet zum einen die  „dynamis“ bzw. die „Möglichkeit“ oder die „Potenz“ des Stoffes (vgl. Knaup 2012, S.224) und zugleich auch dessen „Vollendung“ (Knaup 2012, S.225). Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer ersten und einer zweiten „Entelechie“ der ‚Materie‘, der ‚Mutter‘ alles Werdens, sprechen. (Vgl. Knaup 2012, S.231)

Der Hinweis, daß diese zweite Entelechie auch als „angeeignetes Wissen“ verstanden werden könne (vgl. Knaup 2012, S.231), erinnert mich an das Bildungskonzept von Wilhelm von Humboldt. In seiner Ideenschrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (1792) faßt Humboldt das Verhältnis zwischen Materie und Form dynamisch auf. Er meint, die ganze Bildung des Menschen mit Hilfe dieser beiden Begriffe beschreiben zu können: „Die reinste Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee, die am wenigsten mit Gestalt begabte Materie sinnliche Empfindung. Aus der Verbindung der Materie geht die Form hervor. Je grösser die Fülle und Mannigfaltigkeit der Materie, je erhabener die Form.“ (Werke Bd.I (3/1980), S.66)

‚Materie‘ und ‚Form‘ sind für Humboldt nur Beschreibungsformen für zwei verschiedene Phasen eines Bildungsprozesses. Die ‚Materie‘ bildet den Anfangszustand einer Begegnung mit etwas Neuem, das man noch nicht einordnen kann und für das das Verständnis noch fehlt, das aber unser Interesse weckt. Die ‚Form‘ bildet den Endzustand einer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand unseres Interesses, in dem wir ihn geistig durchdrungen und angeeignet haben. Aber dieser scheinbare Endzustand bildet selbst wiederum nur die Materie einer Übergangsphase, nach der uns das, was wir zu wissen glaubten, plötzlich in einer neuen Situation wieder fraglich wird und von uns neu geformt werden muß, um es uns wieder zueigen zu machen. Denn letztlich sind wir Menschen uns selbst eine undurchschaute Materie, die wir uns aneignen müssen, indem wir uns selbst ‚formen‘, also bilden.

Die mit ‚Materie‘ und ‚Form‘ bezeichneten Bildungsphasen wechseln einander also endlos ab und finden bezogen auf den einzelnen Menschen nur mit seinem Tod ihr Ende. Die ‚Einheit‘, die mit ihnen gemeint ist, ist also eine dynamische, eine gleichzeitig selbstbezogene und gegenstandbezogene: ein sinnliches Mensch-Welt-Selbstverhältnis. Wir haben es mit einer doppelten Verhältnisbestimmung zu tun: dem Verhältnis des Menschen zur Welt und dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Dieses Verhältnis ist medial über den Leib vermittelt. Auch Knaup spricht vom Leib als „Medium“ und als „Brücke“. (Vgl. Knaup 2012, S.169 und 359)

Aber dieser Leib selbst bildet schon in sich eine Verhältnisbestimmung: den Plessnerschen Körperleib. Der ‚Körperleib‘ bezeichnet das Verhältnis, das das Gehirn zum Gesamtorganismus einnimmt, und zwar nicht als Zentrum einer Einheitsbestimmung, sondern als Eröffnung eines Kraftfeldes:
„Im Zentrum, sei es Nervennetz oder Gehirn, steckt nicht die raumzeithafte Mitte der Positionalität. Der nervöse Apparat ist nur das Mittel der Unterbrechung zwischen dem Gesamtkörper und – dem Körper, als sensorischmotorischem Antagonismus, der die Fülle der Organe umspannt. Unterbrechung im Physischen und positionale Kerndistanz, Vorhandensein nervöser Zentren und Subjektivität bestimmen zwar die Doppelseitigkeit als Doppelsichtigkeit der tierischen Existenz, zerlegen sie in einen Außen-, und in einen Innenaspekt, aber ihre Feststellung beruht noch nicht darauf. Ihre Koordination umfaßt der Philosoph noch mit einem Blick, denn sie gehört der Einen (psychophysisch neutralen) Sphäre der Positionaltät an und macht durch ihre Eigenart den Charakter der Frontalität aus: ein Fürsichsein (als Hier-Jetzt ein Fürmichsein), das binnenhaft mit seinem Leibkörper vor fremden Dingen steht.“ („Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.244f.)
Die Gegenüberstellung von Gehirn und Organismus, die gleichzeitige Bestimmung des Gehirns als Teil (Organ) eines Ganzen und als Unterbrechung, als Aufbrechung dieses Ganzen in einen Antagonismus, führt zu einem aus gleichzeitigen Innen- und Außenperspektiven zusammengesetzten Bewegungsraum, einem Freiheitsraum des Bewußtseins: dem Selbst- und Weltverhältnis des Menschen. Erst hierin erfüllt sich seine volle Menschlichkeit, seine zweite Entelechie, und nicht in einem armseligen, welt- und selbstlosen „doppelten Chromosomensatz“ (Knaup 2012, S.461).

In diesem ‚Verhältnis‘ steckt ‚Verhalten‘ und ‚Haltung‘. Und die Haltung wiederum ist nichts anderes als „durchformter“, also beseelter Leib. (Vgl. Knaup 2012, S.247)

Diese gleichzeitig gegliederte und in sich gebrochene Verhältnisbestimmung fehlt dem Edith Steinschen Leibkörper. Es ist nicht die postulierte Untrennbarkeit von Stoff und Form als solche, in der sich der Leibkörper vom Plessnerschen Körperleib unterscheidet. Dem Steinschen Leibkörper fehlt vielmehr eine nähere Bestimmung des Selbst- und Weltverhältnisses, und damit fehlen ihm Einblicke in eine Anthropologie, wie sie etwa Leroi-Gourhan vorgelegt hat, in der er die symbolische Verdopplung der Welt an anatomischen Bestimmungen des aufrechten Ganges festmacht.  (Vgl. meine Posts vom 01.03. und vom 02.03.2013)

Trotz seines Beharrens auf einer ungegliederten Leib-Seele-Einheit kommt Knaup dann aber zu einer überraschenden Wendung. Mitten in seinem Argumentationsgang, in dem es darum geht, aufzuzeigen, daß es sich bei der ‚Seele‘ als Formprinzip eben nicht um ein austauschbares Computerprogramm handelt, sondern um ein lebenslang bewahrtes „Ineinander von Form und Stoff“ (Knaup 2012, S.232), steht völlig unvermittelt folgender Satz: „Man kann aber auch nicht behaupten, Leib und Seele seien dasselbe.“ (Knaup 2012, S.232)

Dieser Satz wird weder durch die vorangegangenen noch durch die auf ihn folgenden Passagen verständlich gemacht. So wie dieser Satz dasteht, hat er aber einige metaphysische und theologische Implikationen, die unausgesprochen bleiben. Er deutet auf immaterielle oder gar göttliche Dimensionen der Seele hin, wie Knaup sie z.B. in seiner Auseinandersetzung mit Michael Pauen verteidigt. (Vgl. Knaup 2012, S.560) Erst viele Seiten später kommt Knaup nochmal darauf zurück und deutet an, daß er nur auf eine begriffliche Unterscheidung zwischen Seele und Leib hinaus gewollt hatte (vgl. Knaup 2012, S.246), was eine gewisse Rücknahme dieser Implikationen bedeutet.

Aber eine andere Stelle zu Edith Stein, in der sie unterstreicht, „dass wir nicht mit unserem Leib identisch sind“ (vgl. Knaup 2012, S.348), läßt so eine bloß begrifflich sein sollende Unterscheidung zwischen Leib und Seele wieder zweifelhaft werden. Welchen Sinn kann es machen, auf so einem Unterschied zu beharren, wenn nicht den, der Seele eine vom Leib unabhängige Existenz zuzusprechen? Edith Stein erläutert ihre Behauptung damit, „dass man im Geiste“ – also ohne den Leib – „in andre Zeiten und zu anderen Orten reisen kann“. (Vgl. ebenda) – Vielleicht auch über den Tod dieses Leibes hinaus? So abwegig ist dieser Gedanke nicht, denn Edith Stein war eine gläubige Katholikin, und auch Knaup versäumt es nicht, sich in seiner Dissertation gleich zweimal auf Papst Benedikt zu beziehen. (Vgl. Knaup 2012, S.588 und S.590)

Was letztlich das Leibkörper-Konzept von Edith Stein vom Körperleib-Konzept Helmuth Plessners unterscheidet, ist diese Nähe zu einer in Knaups Dissertation unausgesprochen bleibenden, bloß angedeuteten Metaphysik, in der die Einheit von Leib und Seele durch ein höheres Ganzes gewährleistet wird. Plessners Körperleib-Konzept hingegen geht von einem in sich gebrochenen Ganzen aus. Leib und Körper befinden sich im „Streit“. (Vgl. Plessner 1980, S.369) Die zentralen Begriffe der Plessnerschen Körperleiblichkeit sind „Doppelaspektivität“, „Hiatus“ und „Exzentrizität“.

Es gibt einige wenige Stellen, an denen Edith Stein in die Nähe dieses heterogenen Ganzen, dieses Anachronismusses im Wesen des Menschen kommt. Dort geht es um die Frage nach dem guten Leben, also einem Leben, das der Mensch, so gut es eben geht, führen muß, weil es ihm eben nicht gegeben ist, einfach nur zu leben. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Bei Edith Stein heißt es, daß der Mensch nach seiner Mitte suchen muß (vgl. Knaup 2012, S.240), eben im Sinne einer exzentrischen Positionalität: im Sinne der Notwendigkeit, in seiner eigenen Mitte nur auf vermittelte Weise sein zu können.

Aber diese Stellen sind selten. Der Leibkörper ist immer schon in seiner Ganzheit geborgen, gerade auch dort, wo sich eine göttliche Differenz zur Seele andeutet. So trennen sich bei Edith Stein erste und zweite Vollendung des Leibes. Die erste Vollendung besteht in der Abhebung des Leibes von den toten Körpern der physikalischen Welt. Die zweite Vollendung aber begnügt sich nicht mehr mit der biographischen Durchformung dieses Leibes als Person. Sie übersteigt diese Person in Richtung auf eine – gleichwohl nur angedeutet bleibende – Erfüllung. Bei Plessner hingegen ist diese Seele vor allem dieses ungewisse Schwanken, das er als Noli me tangere bezeichnet (vgl. meinen Post vom 14.11.2010), unendlich weit entfernt von allen metaphysischen Gewißheiten.

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Mittwoch, 10. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Knaup setzt sich ausführlich mit dualistischen und mit monistischen Konzeptionen zur Leib-Seele-Problematik auseinander. Dualistische Konzeptionen, die Körper und ‚Seele‘ bzw. Bewußtsein einander unversöhnlich gegenübersetzen, mit einem tiefen Graben dazwischen, über den keine Brücke von der einen zur anderen Seite hinüberführt, orientieren sich am kartesianischen Substanzdualismus. (Vgl. Knaup 2012, S.29-97). Monistische Konzeptionen orientieren sich entweder an platonischen Variationen zu eine Metaphysik des Geistes, dem die wahre Realität zugesprochen wird, der gegenüber die empirische Welt nur eine substanzlose Schattenwelt bildet, oder an einem einseitigen Materialismus, demzufolge die physikalischen Gesetze die einzige Realität bilden und mentale Lebensäußerungen nur auf Einbildungen beruhen oder auf sprachliche Ungenauigkeiten zurückzuführen sind. (Vgl. Knaup 2012, S.98-215)

Alle diese Konzeptionen, ob dualistisch oder monistisch, sind entweder unbrauchbar, weil sie nicht erklären können, wie der ‚Geist‘ bzw. die ‚Seele‘ auf den Körper einwirken kann, oder reduktionistisch, weil sie Leib und Seele nicht als Ganzheit verstehen und sich nur für die eine oder andere Grabenseite interessieren. Dem hält nun Knaup eine dritte Möglichkeit, das Verhältnis von Leib und Seele zu beschreiben, entgegen: den Hylemorphismus, den er auf Aristoteles zurückführt. (Vgl. Knaup 2012, S.216-250)

Der Hylemorphismus steht schon vom Wort her für eine Einheit aus Stoff (hylê) und Form (morphê). Die Form bzw. Seele verwandelt den toten Stoff bzw. Körper in einen lebendigen Leib: „Zwei Vokabeln sind für Aristoteles wichtig, um seinen Lesern zu erläutern, dass die unterschiedlichen Lebensäußerungen zu lebendigen Organismen, zu leib-seelischen Ganzheiten, gehören: Form und Materie. Seine Sichtweise wird Hylemorphismus genannt. Hiermit ist eine Position gemeint, die davon ausgeht, dass physische Prozesse, die Materie (hylê), und die Formkraft der Seele (morphê) komplementär zueinander gehören.“ (Knaup 2012, S.225)

Auf diese Nichttrennbarkeit von Körper bzw. Materie und Form bzw. Seele im „Leibkörper“ (Knaup 2012, S.243, 343 u.ö.) – was an Plessners „Körperleib“ erinnert, aber nicht dasselbe ist, wie im folgenden Post gezeigt werden soll – kommt es Knaup an. Er versucht damit eine ethische Grenzmarkierung zu setzen, die der neurophysiologischen Entwertung des Menschen Einhalt gebietet. Aufgrund dieser Leib-Seele-Ganzheit ist es nämlich verfehlt, im Gehirn nach einem bestimmten Ort zu suchen bzw. das Gehirn selbst als diesen privilegierten Ort zu verstehen, an dem physiologische Prozesse mit mentalen Lebensäußerungen zusammenfallen, wie Knaup mit einem Zitat von Edith Stein festhält: „Ich kann keinen Punkt im Körper bestimmen, wo das Ich seinen Ort hätte.“ (Zitiert nach Knaup 2012, S.348)

Nun ist es aber gerade dieses Beharren auf einer undifferenzierten Leib-Seele-Ganzheit, das Knaup selbst zu Reduktionen verleitet. Im Eifer seines Einsatzes für die Menschenwürde wendet er sich den kontroversen Themen der künstlichen Erzeugung von Embryonen, der Organspende und des Hirntodes zu, also der Frage nach dem Beginn und dem Ende menschlichen Lebens und der damit verbundenen Möglichkeit seiner Verwertung. (Vgl. Knaup 2012, S.453-479) Dabei kommt er zu dem für seinen ganzen gegen die verschiedenen physikalistischen Reduktionismen gerichteten Argumentationsgang befremdlichen Ergebnis, die Leiblichkeit und Beseeltheit des Embryos auf das Vorhandensein eines doppelten Chromosomensatzes zurückzuführen. (Vgl. Knaup 2012, S.461)

Inwiefern die Rückführung vollausgebildeter Menschlichkeit auf die Gene weniger reduktionistisch sein soll als die Rückführung mentaler Lebensäußerungen auf neurologische Schaltkreise, bleibt Knaups Geheimnis. Seine Absicht ist sicher nachvollziehbar, da er sich an dieser Stelle gegen den Bioethiker Bernhard Irrgang wendet, der die Menschenwürde von Embryonen an der allmählichen Herausbildung von „Subjektivität“ festmachen will: „Irrgang unterscheidet zwischen menschlichem Körper und Leib,() wobei Körperlichkeit mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bis zum Zerfall des Körpers im Grab gegeben sei und Leiblichkeit sich durch die Ausbildung von Subjektivität konstituiere und mit dem Gehirntod ihr Ende erreicht habe.()“ (Knaup 2012, S.458)

Dieser ‚Irrgang‘ – nomen est omen? – macht auch keinen Hehl aus seinen mit dieser Definition verbundenen medizintechnischen Verwertungsabsichten: „Irrgang behauptet nun, dass die so aufgefasste Subjektivität dann auch der Richtungsanzeiger dafür ist, ob menschliche Lebewesen einen Schutzstatus genießen dürfen oder nicht. Für Embryonen als ‚präpersonale menschliche Körperlichkeit‘() gelte laut Irrgang Unantastbarkeit in erheblich abgeschwächtem Maße.“ (Knaup 2012, S.458f.)

Es ist sehr sympathisch und unterstützenswert, wenn sich Knaup gegen solche, gelinde gesagt, ‚pragmatischen‘ Anthropologien wendet, die den Menschen z.B. mit dem Eintreten des ‚Hirntodes‘ von einem Sterbenden in ein Ersatzteillager verwandeln: „Ärzte nehmen sich bestimmte Checklisten vor und ordnen an, wann jemand kein Patient mehr, sondern eine Leiche ist. Der Gedanke der Maschinenebenbildlichkeit, wo nach alte und defekte Teile der ‚Menschmaschine‘ ausrangiert und bestenfalls durch funktionstüchtige andere ausgetauscht werden können, zeigt sich hier als besonders wirkmächtig.“ (Knaup 2012, S.467)

Aber das undifferenzierte Beharren auf einer immer schon vorgegebenen Leib-Seele-Ganzheit nützt letztlich weder der Ethik noch der Erkenntnis des Menschen. Knaups Behauptung, daß es keinen Unterschied macht, „ob der Mensch durch geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau, IVF oder Klonierung entstanden“ sei, weil „vom Augenblick der Befruchtung an ... die erste Zelle ein Mensch“ sei (vgl. Knaup 2012, S.457), unterbindet die zugleich ethisch relevante wie anthropologisch hochinteressante Frage danach, welche Lebensumstände man eigentlich als ‚des Menschen würdig‘ bezeichnen kann. Inwiefern also entspricht es der Würde des Menschen, in vitro erzeugt zu werden?

Diese Frage kann nur mit einem genaueren, differenzierenden Blick auf die Leiblichkeit des Menschen und die Leiblichkeit des Embryos beantwortet werden, und sie sollte nicht mit dem reflexartigen Verweis auf die Ganzheitlichkeit seines Menschseins zurückgewiesen werden. Was also ist es denn, was auch Knaup zufolge den Leib des Menschen ausmacht? Der Leib ist das „Medium unserer Wahrnehmung“ (Knaup 2012, S.169) und der „Welterschließung“ (Knaup 2012, 350ff.) bzw. die „Brücke zum Anderen“ (Knaup 2012, S.359). Zentral ist in diesem Zusammenhang der Satz: „Mein Leib ist immer schon ein Leib mit anderen.“ (Knaup 2012, S.359)

Was das genau bedeutet, hat Plessner in seinen Anthropologien der Nachahmung und des Schauspielers beschrieben. (Vgl. meine Posts vom 29.05. und vom 01.06.2013) Die Nichtreduzierbarkeit dieses Leibes als Medium auf einen doppelten Chromosomensatz wird auch von Knaup, auch hier wieder im Selbstwiderspruch, hervorgehoben: „Nicht eine Gensequenz, die Knochendichte oder die Größe des Gehirns, sondern der Leib ist entscheidend, wenn wir Anderen begegnen. Leiblichkeit ermöglicht es, dass wir uns in Andere einfühlen können. Da wir einander leiblich begegnen, kann die Frage, ob mein Gegenüber tatsächlich ein Mensch ist, ad acta gelegt werden.“ (Knaup 2012, S.597)

Was bedeutet das nun für die Leiblichkeit des Embryos? Wichtig ist hier der Hinweis, daß wir uns „leiblich begegnen“. Wie begegnen wir dem ‚Leib‘ eines Embryos? Inwiefern ist der Embryo „immer schon ein Leib mit anderen“? Die schlichte, einfache Antwort auf diese Frage lautet: durch den Leib der Mutter! Die Mutter ist die ‚Brücke‘, über die wir dem Embryo in ihr begegnen. Die Mutter ist es, die mit dem Embryo einen Leib bildet, so sehr, daß wir den Embryo allererst als ein Organ ihres Leibes verstehen müssen. Der Embryo ist sicher kein Krebsgeschwür, das in ihr wächst, und er ist sicher auch kein Objekt reproduktionsmedizinischer Maßnahmen.

Es besteht ein fundamentales Verhältnis zwischen dem Leib des Embryos und dem Leib der Mutter, das seine Menschenwürde bestimmt. Und diese Menschenwürde besteht unbezweifelbar auch in der Ganzheitlichkeit des Bezugs zwischen dieser Mutter und ihrem ungeborenen Kind. Aber es ist eben nicht nur eine gegebene, naturhafte Ganzheitlichkeit. Die Mutter ist diesem Kind gegenüber, das in ihr heranwächst, zugleich exzentrisch positioniert, so wie sie überhaupt als Mensch exzentrisch positioniert ist. D.h. es bedarf der Annahme des Kindes durch die Mutter. Die Mutter muß zu diesem Kind in ihr Ja! sagen. Dieses Ja! ist nicht einfach eine Sache der Natur. Es ist in keiner gegebenen Ganzheitlichkeit vorgegeben.

Der Leib der Mutter ist der Leib des Embryos. Ihre Würde ist seine Würde. Dem Embryo im Reagenzglas fehlt diese Würde. Sie muß ihm erst gegeben werden, z.B. durch Einpflanzung in einen Mutterleib.

Knaup bestreitet die fundamentale Rolle des Mutterleibes. Im Eifer der Verteidigung der Menschenwürde von Embryos geht er soweit, den Mutterleib für verzichtbar zu halten (vgl. Knaup 2012, S.456, Fußnote 108) bzw. es für irrelevant zu halten, ob sich ein Embryo „im Labor eines Forschers oder im Mutterleib“ befindet (vgl. Knaup 2012, S.461). Aber indem er den Mutterleib für verzichtbar hält, nimmt er der Leib-Seele-Einheit, für die er sich so entschieden einsetzt, die Grundlage. Wenn nämlich die Mutter mit ihrem ungeborenen Kind keine notwendige Einheit bildet und wenn die leibliche Zeugung qualitativ durch in-vitro-Befruchtung ersetzt werden kann, dann ist die Leiblichkeit auch für jedes andere Verhältnis zwischen Menschen unerheblich.

Und natürlich befindet sich die schwangere Frau in einem Entwicklungsprozeß. Sie ist eine werdende Mutter. Die Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind ist nicht fix und fertig mit der Befruchtung gegeben, sondern sie entwickelt sich. Indem sich Knaup gegen Irrgangs Entwicklungsbegriff wendet, verwickelt er sich auch hier in Widersprüche. In ein und demselben Absatz heißt es nämlich bei ihm einerseits, daß das „Leben der Menschen“ als „Entwicklungsgang“ zu verstehen sei (vgl. Knaup 2012, S.460), und dann: „Es ist unangebracht von einem werdenden menschlichen Lebewesen zu sprechen.“ (Knaup 2012, S.461) – Was also gilt denn nun: das eine oder das andere?

Weil Knaup es ablehnt, hinsichtlich der „lebendigen Ganzheit“ der Eizelle von einem Entwicklungsprozeß zu sprechen, weil das ein Zugeständnis an Irrgangs Behauptung beinhaltet, daß sich die Subjektivität des Embryos erst später entwickelt, lehnt er gleich jeden Entwicklungsgedanken ab: „unser Erbgut ist von Anfang an komplett vorhanden“ (Knaup 2012, S.461) – mehr gibt es Knaup zufolge unter ethischen Gesichtspunkten dazu nicht zu sagen. Eine solche Erkenntnisethik dient allerdings nicht mehr der Erkenntnis. Sie begnügt sich damit, Denkverbote auszusprechen.

PS vom 20.09.2013: Wenn Ärzte ihre Checklisten abhaken, um den Tod eines Patienten zwecks Organverwertung festzustellen, sollten sie den Punkt fehlende Hirnaktivität“ lieber überspringen. Nach einer aktuellen Meldung vom Deutschlandfunk vom 19.09.2013 scheint es nämlich Hirnaktivität auch noch unterhalb der Nullinie zu geben:
„Die Null-Linie bei der Hirnstrommessung mittels EEG gilt Medizinern als wichtigstes Kriterium für einen Hirntod. Nun haben kanadische und rumänische Forscher erstmals Hirnaktivitäten jenseits dieser Linie aufzeichnen können. Sie scheinen einem noch tieferen Koma zu entspringen als es die Nulllinie anzeigt. Zunächst hatten rumänische Ärzte im EEG eines Komapatienten ein völlig unbekanntes Wellenmuster bemerkt. Der Patient hatte starke Medikamente bekommen, die im Ruf stehen, den Komazustand zu verstärken. Nachdem die Medikamente abgesetzt wurden, erschien im EEG erst die Null-Linie, danach ein bekanntes Muster für sehr geringe Hirnaktivität. Die Mediziner folgerten, dass der Patient aus einem bisher unbekannten, sehr tiefen Koma in ein leichteres zurückgekehrt war. Die Theorie überprüften die kanadischen Forscher an Katzen. Bei einem extrem tiefen Koma waren auch bei ihnen die neuen Wellenformen feststellbar.“

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