„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 10. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Zum Ende seines Buches gibt Felix Hasler einen Ausblick auf einige hoffnungsvolle Gegenbewegungen zu der bisherigen Dominanz der Neurowissenschaften im öffentlichen Raum und ihrer gehirnerweichenden Ausbreitung im wissenschaftlichen Raum der universitären Disziplinen, denen nach dem Vorbild der synthetischen Biologie statt Gen-Schnipsel Wortschnipsel wie Neuro-Philosophie, Neuro-Soziologie, Neuro-Theologie, Neuro-Ethik, Neuro-Ökonomie, Neuro-Recht, Neuro-Kriminologie, Neuro-Forensik, Neuro-Finanzwissenschaften, Neuro-Verhaltensforschung, Neuro-Anthropologie etc. hinzugefügt werden. (Vgl. Hasler 2012, S.14)

Einige kritische Neurowissenschaftler haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen (critical-neuroscience.org). (Vgl. Hasler 2012, S.228f.) Ihr Ziel ist es, „auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Verhaltens hinzuarbeiten, die Gehirn und Kognition im Körper, dem sozialen Milieu und der politischen Welt situiert“. (Vgl. Hasler 2012, S.229) Mit dieser Zielformulierung ist ein Projekt umrissen, das auf einer Ebene mit Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes steht. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010) Auch das interdisziplinäre Projekt von dem Dichter und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott und dem Psychologen Arthur Jacobs („Gehirn und Gedicht“ (2011)) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. (Vgl. meinen Post vom 19.07.2011)

Im Bereich der Medizin hat sich ebenfalls ein kritisches Netzwerk gegen die Macht der Pharmakonzerne gebildet, das sich „Mein-Essen-zahle-ich-selbst“ (MEZIS) nennt (mezis.de). (Vgl. Hasler 2012, S.232) Hasler erhofft sich von diesen Netzwerken, daß die „kritische Reflexion der eigenen Wissenschaftspraxis“ zu notwendigen Reformen führt. (Vgl. Hasler 2012, S.230) Die kritischen Neurowissenschaftler sorgen sich um einen möglicherweise bevorstehenden Abbau der für die Forschung zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen, wenn die Neurowissenschaften nicht zu einer seriösen Forschungspraxis zurückfinden und das Pendel von der aktuellen ungerechtfertigten Überbewertung der Neurowissenschaften ins andere Extrem gesellschaftlicher Ächtung zurückschwingt. (Vgl. Hasler 2012, S.231f.)

Vor dem Hintergrund des aktuellen Neuro-Zeitgeistes empfinde ich eine Umbewertung des interdisziplinären Verhältnisses zwischen Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften als besonders originell. Ein weiteres Mal möchte ich diesen Post und zugleich meine Posts zu Haslers Buch insgesamt mit einem Zitat beenden. Der Soziologe Steve Fuller schreibt, „man sollte das Verhältnis von Neurowissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern ähnlich gestalten wie bei einer Filmproduktion. Die Neurowissenschaftler – das seien die Schauspieler. Diese seien in der Regel durchaus talentiert und am Ende ja auch die unbestrittenen Stars. Die Soziologen, Historiker und Philosophen hingegen sollten in Fullers Metapher die Regisseure sein, die den Schauspielern sagen, was sie zu tun haben.“ (Hasler 2012, S.229)

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Sonntag, 9. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Als ich vor vielen Jahren an einem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Frankfurt a.M. teilnahm, wies irgendeine Landesministerin, deren Namen ich inzwischen wieder vergessen habe, in ihrer Begrüßungsansprache die versammelten Erziehungswissenschaftler und Pädagogen auf die immense pädagogische Bedeutung der Hirnforschung hin, und sie wies uns an, gefälligst deren Erkenntnisse in den kommenden Tagen in unseren Kolloquien und Arbeitsgruppen angemessen zu berücksichtigen. Auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen an meiner Schule konnte ich auf der einen und anderen Weiterbildung beobachten, wie ihre Gesichter zu leuchten begannen, sobald ein Gastredner aus der Hirnforschung auftrat und uns erklärte, was im Gehirn unserer Schüler während des Unterrichts vor sich geht, und der auch nicht versäumte, uns einige Tips für den gehirnfreundlichen Unterricht zu geben.

Dabei ist die Motivlage jener Landesministerin und dieser meiner KollegInnen wohl eher nicht dieselbe. Die Landesministerin denkt möglicherweise eher an das gesellschaftspolitische Steuerungspotential, das mit neurophysiologisch abgesicherten Erkenntnissen über die Gehirnfunktionen verbunden ist; sprich: ihr geht es vor allem um Macht. Meine KollegInnen hingegen verbinden mit der Gehirnforschung vor allem die Hoffnung, endlich einmal erklärt zu bekommen, womit sie es in ihrem nervenaufreibenden, zermürbenden Pädagogenalltag eigentlich zu tun haben, also Einblick in die Blackbox zu erhalten, die ihre Schüler für sie darstellen, bei denen alle Ansprachen und didaktischen Maßnahmen auf taube Ohren stoßen und die beim Eintreten in den Klassenraum nicht nur ihre Jacken und Schultaschen ablegen, sondern auch jedes Interesse an dem, was ihnen in der bevorstehenden Unterrichtsstunde geboten werden wird.

Mich hat dabei immer wieder überrascht, daß nur wenige meiner KollegInnen merkten, wie dürftig die neurodidaktischen Erkenntnisse in Wirklichkeit waren; sie lieferten keinerlei Hinweise darauf, was man im Schulalltag anders machen sollte; jedenfalls nichts, was man nicht schon gewußt hätte und was nicht im deutschen Schulsystem schon längst an den bestehenden institutionellen und administrativen Sachzwängen und an den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erwartungshaltungen gescheitert wäre. Hasler zitiert eine Didaktik-Wissenschaftlerin: „Wenn eine Lehrerin die Frage stellen würde ...: ‚Was muss ich jetzt, wenn ich mir neurowissenschaftliche Befunde zum Lernen anschaue, anders machen als vorher?‘, dann schweigt doch die Neurowissenschaft.“ (Hasler 2012, S.156) – Ja, wenn überhaupt eine Lehrerin diese Frage stellen würde! Vorerst aber schweigen die pädagogischen Praktikerinnen und Praktiker, applaudieren dem gerade vortragenden Neurodidaktiker und freuen sich über sein Interesse an ihrer Arbeit, durch das sie sich aufgewertet fühlen.

Gerade in der Pädagogik liegt das Problem niemals im Gehirn, geschweige denn am Individuum, sondern immer an den Umständen. Eigentlich besteht die ganze pädagogische Arbeit darin, den Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Umständen ihres Lebens die jeweils bestmögliche Unterstützung zu geben, das zu werden, was sie von sich aus werden könnten, wenn die Umstände es zuließen. Die neurowissenschaftlich induzierte, politisch geförderte Umkehrung des pädagogischen Blicks von den Umständen auf die Gehirne als „zerebrale Subjekte“ (Hasler 2012, S.62) unterschlägt aber die gesellschaftliche Verantwortung für soziale Mißstände:
„Es ist nicht überraschend, dass die Diskussion über den ‚besten Umgang‘ mit der Jugend gerade in Großbritannien besonders intensiv geführt wird. Kaum ein Land der westlichen Welt hat größere Probleme mit Jugendkriminalität. Grimmige Hoodies prägen das Straßenbild in Londoner Problemquartieren wie Brixton, Stratford oder Pickham. Anwohner fühlen sich durch Jugendbanden bedroht und räumen die Quartiere. Die Polizei ist überfordert. Ebenso Jugendämter und soziale Einrichtungen. Besonders vor dem Hintergrund doch so offensichtlicher gesellschaftlicher Spannungen ist es erstaunlich, dass sich der Fokus der politischen Aufmerksamkeit weg von sozialen und politischen Einflussfaktoren hinein ins Innere des Teenager-Gehirns verlagert.“ (Hasler 2012, S.155)
Es ist offensichtlich bequemer für das politische Establishment, komplexe gesellschaftliche Problemlagen zu individualisieren. Unterstützt wird es dabei vom zeitgeistigen Glauben an die Gehirnforschung, von der „Zerebralisierung menschlicher Lebenswelten“, wie Hasler schreibt. (Vgl. Hasler 2012, S.155) Der Glaube an die Gehirnforschung ist mittlerweile wohl tatsächlich zu einem Bestandteil der Lebenswelt geworden und wirkt sich entsprechend auf unser Menschenbild aus. In der Pädagogik hat die Bildungspolitik der letzten 13 Jahre, seit dem Erscheinen der ersten PISA-Studie, den Humboldtschen Bildungsbegriff durch den Kompetenzbegriff ersetzt. Der Kompetenzbegriff soll dazu beitragen, Bildungsstandards zu setzen – den Unterschied zwischen ‚Standards‘ und ‚Stilen‘ habe ich schon in einem anderen Post (vom 30.04.2012) diskutiert –, die die Bemessung der gesellschaftlich erwünschten Schulbildung nach Input und Output ermöglichen. Die Blackbox, die die Schüler für Pädagogen, Eltern und Gesellschaft darstellen, soll vom Output, also von den ‚Kompetenzen‘ her kybernetisch unter Kontrolle gebracht werden.

So tritt das mentale Kapital an die Stelle des Humankapitals (vgl. Hasler 2012, S.154f.), das uns ja schon an den Kapitalbegriff in der Bildungspraxis gewöhnt hatte, aber immerhin noch an den alten Humanitätsgedanken erinnerte, wenn auch in pervertierter Form. Die politische Einflußnahme auf das mentale Kapital fällt nun vollends in die Verantwortung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. So kommt eine „‚Foresight‘-Studie zum Thema ‚geistiges Kapital und Wohlbefinden‘“ (Hasler 2012, S.154) der britischen Regierung zu dem Ergebnis:
„Eine substanzielle Erhöhung der Produktivität wird ... als unerlässlich angesehen. Psychische Krankheiten und kognitive Unzulänglichkeiten, darunter auch Lernschwierigkeiten, sind laut der Studie die hauptsächlichen Störfaktoren. ‚Das Beste aus uns zu machen‘ bedeutet demnach, die Bevölkerung insgesamt flexibler und zugleich stressresistenter zu machen, damit die bestehenden wirtschaftlichen Sachzwänge bedient werden können.‘() ... Aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über adoleszente Hirnentwicklung und schädliche Einflussfaktoren sollen gemäß der britischen Untersuchung bildungs- und erziehungspolitische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um ‚das Beste aus den Jugendlichen zu machen.‘ “ (Hasler 2012, S.155)
Hasler bezeichnet diese britische „‚Wellbeing‘-Studie“ als ein „exemplarisches Beispiel für die Verknüpfung neoliberaler Politik mit den kognitiven Neurowissenschaften“. (Vgl. Hasler 2012, S.155)

Mit einem ‚Humanismus‘ hat das ganze nichts mehr zu tun, auch wenn mit diesem Wort weiter Etikettenschwindel betrieben wird, wie es der Schweizer Strafrechtler Felix Bommer den Hirnforschern Gerhard Roth und Wolf Singer vorwirft, „wenn diese von Prävention statt Repression und einem humaneren Umgang mit Straftätern sprechen“. (Vgl. Hasler 2012, S.206) Ähnlich wie die Phrenologen des 19. Jhdts. behaupten diese Neurowissenschaftler, kriminelle Veranlagungen an der Funktionsweise des Gehirns dingfest machen zu können, was die tatsächlichen, aber sicher auch die potentiellen Straftäter nicht zu Objekten der Justiz, sondern zu Klienten der Neuro-Psychotherapie macht: „‚Was hier auf samtweichen Pfoten daherkommt, ist in Tat und Wahrheit eine harte Strategie der Exklusion, die handelnde Subjekte zu Gefahrenquellen degradiert, die es zu bekämpfen gilt.‘() ... Wohin radikaler biologischer Reduktionismus in Kombination mit einem totalitären Umfeld führen kann, ist spätestens seit den 1930er Jahren klar.“ (Hasler 2012, S.206)

Auch diesem Zitat habe ich am Schluß meines Posts nichts hinzuzufügen.

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Samstag, 8. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Im letzten Post war es um den logischen und biochemischen Unsinn gegangen, bestehende biochemische ‚Gleichgewichte‘ von Teenagergehirnen und selbstausbeutungswilligen Erwachsenen zu ‚optimieren‘. Auch wenn ich keineswegs so weit gehen will, Teenagern Ausgeglichenheit, Balance und Weisheit zu attestieren, sollte man eine Entwicklungsphase wie die Pubertät nicht einfach nur deshalb pathologisieren, weil wir Erwachsenen und natürlich auch die Teenager selbst sie nicht verstehen. Hier gilt wohl das ernüchternde Fazit eines Kinderpsychiaters zu bipolaren Störungen (‚manisch‘ und ‚depressiv‘) bei Kindern: „... vielleicht haben Eltern, Schulen und der Rest der Gesellschaft eine verminderte Belastbarkeit, die ganze Bandbreite des affektiven Ausdrucks von Kindern auszuhalten.“ (Hasler 2012, S.149)

Aber natürlich gibt es tatsächlich echte Störungen des biochemischen Gleichgewichts und sicherlich auch Störungen des Transmitter-Haushalts zwischen den Synapsen. Das Problem ist nur, daß die Mediziner den genauen Funktionszusammenhang von Psyche und Neurophysiologie einfach noch nicht verstanden haben. (Vgl. Hasler 2012, S.156f.) Manche Forscher, die sich tatsächlich um das Wohlergehen ihrer Patienten sorgen, zögern sogar genau aus diesem Grund, ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, die belegen, daß chronische Depressionen und die Langzeitwirkung von Antidepressiva gleichermaßen zu „einem kontinuierlichen Verlust an Hirnsubstanz“ führen (vgl. Hasler 2012, S.136f.). Diese Forscher befürchten, die „Leute“ könnten aufgrund ihrer Forschungsergebnisse „aufhören, die Medikamente zu nehmen, die sie brauchen“ (vgl. Hasler 2012, S.138).

Wenn also die Medikamente, die eine Krankheit heilen bzw. ihren Verlauf erträglicher gestalten sollen, dieselben Symptome hervorrufen wie die Krankheit selbst, stellt sich die Frage, wie man überhaupt zwischen der Krankheit und ihrer Medikamentation unterscheiden soll. Da es seit der Entwicklung und Einführung von Psychopharmaka Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts kaum noch chronisch Kranke gibt, die noch keine Psychopharmaka eingenommen haben, ist es schwierig bis unmöglich geworden, die Krankheitsbilder selbst und ihre Verläufe zu erforschen. (Vgl. Hasler 2012, S.136)

Die Grenzlinie zwischen Krankheit und Gesundheit ist inzwischen so unscharf geworden, daß kaum noch jemand ohne positiven Befund bleibt: „Während es für viele Menschen früher einfach zum normalen Leben gehörte, gelegentlich Phasen der Traurigkeit, Energiearmut und Hoffnungslosigkeit zu durchleben, schreiben wir einem solchen Zustand heute schon sehr schnell einen Krankheitswert zu.“ (Hasler 2012, S.118) – Im Hintergrund betreiben die Pharmakonzerne fleißig Panikmache, weil sie eine möglichst frühzeitige Behandlung der ersten Anzeichen einer Depression empfehlen, weil ansonsten ihre „Chronifizierung“ drohe. (Vgl. Hasler 2012, S.171)

Um nur ja auch keinen möglichen Kunden aus den Schleppnetzen der Pharmakonzerne entkommen zu lassen, wurden im fünften Diagnosemanual die präzisen Krankheitsbilder, wie man sie aus der somatischen Medizin kennt, durch „Formenkreise“ ersetzt: „Aus ‚Autismus‘ wird der ‚Autismus-Formenkreis‘,() aus Schizophrenie wird das ‚Schizophrenie-Spektrum‘ und aus den Zwangsstörungen der ‚Formenkreis der Zwangsstörung‘. Dazu kommen neue Diagnosen wie die ‚Hypersexualitäts-Störung‘, die ‚Gemischte Angst-Depression‘,() das ‚Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom bei Erwachsenen oder die ‚Stimmungsregulations-Störung mit Dysphorie‘ bei Kindern.()“ (Hasler 2012, S.122)

So kann es schon mal dazu kommen, daß Schüchternheit als zu therapierende „soziale Phobie“ diagnostiziert wird. (Vgl. Hasler 2012, S.119f.)

Wenn es also der Profitabilität nützt, wird gerne auf das Informationsverarbeitungsmodell der Neurowissenschaften mit ihren Transmittern und Synapsen verzichtet und auf altehrwürdige Begriffe der Gestaltpsychologie zurückgegriffen. Innerhalb grob umschriebener Typen, eben den Formenkreisen, gibt es dann eine mehr oder weniger große Schwankungsbreite von diagnostizierbaren Einzelfällen, wobei es wiederum der mehr oder weniger großen Erfahrung der jeweiligen Ärzte bzw. ihrer hilfesuchenden Patienten – die auch gerne mal mit ihren Anwälten drohen, wegen unterlassener Hilfeleistung – überlassen bleibt, ob eine aktuelle Befindlichkeit als pathologisch eingestuft wird oder nicht.

Stimmungsschwankungen kommen und gehen. Dazu gehören auch Depressionen. Es ist bislang weder „mit Gentests, noch mit klinisch-chemischen Untersuchungen, noch mit bildgebenden Verfahren“ gelungen, „Normalität von Depression, Manie oder Schizophrenie zu unterscheiden“. (Vgl. Hasler 2012, S.87) Es gibt offensichtlich ein erhebliches Selbstheilungspotential, das gleichermaßen auf Gesprächstherapien, auf Placebos wie auf Psychopharmaka anspricht: „Gerade bei Depressionserkrankungen scheint es letzten Endes gar nicht so sehr darauf an zu kommen, was man dagegen unternimmt – Hauptsache man unternimmt irgendetwas.“ (Hasler 2012, S.141) – In einer Fußnote ergänzt Hasler: „Offensichtlich verstärkt sich der Placeboeffekt, wenn die Versuchsperson irgendeine Wirkung eines Medikaments spürt, und sei es auch nur in Form von Nebenwirkungen.() ... Gemäß dieser Theorie müssten lediglich die natürlichen Genesungs-Ressourcen des Patienten aktiviert werden.“ (Hasler 2012, S.141f.)

Dazu passen Äußerungen von Medizinern aus der Anfangszeit der Psychopharmakologie: „‚Die meisten Depressionen sind selbstlimitierend‘, schrieb Jonathan Cole, Psychopharmakologie-Pionier am National Institute of Mental Health.() Im selben Jahr, 1964, wies Rockland State Hospital Psychiater Nathan Kline darauf hin, dass man ‚bei der Behandlung der Depression immer einen Verbündeten darin hat, dass die meisten Depressionen in Spontanremission enden.‘() ... ‚Die meisten depressiven Episoden‘, so Schuyler in seinem Buch weiter, ‚werden ihren Lauf nehmen und ohne spezifische Intervention mit praktisch vollständiger Erholung enden.‘()“ (Hasler 2012, S.115f.)

Das Phänomen der „Spontanremission“ und der „natürlichen Genesungs-Ressourcen“ fällt unter die „Resilienz“, womit die Fähigkeit des Menschen gemeint ist, große soziale und persönliche Notsituationen psychisch unbeschadet zu überstehen. Das ist natürlich nur ein individuelles Phänomen und nicht verallgemeinerbar. Umstände, unter denen viele und sogar die meisten Menschen zerbrechen, können einige überstehen und sogar daran wachsen. Ein Beispiel für dieses unterschiedliche Schicksal sind für mich die unterschiedlichen Biographien von Adolf Hitler und Willi Münzenberg. Erich Fromm beschreibt in seinem Buch „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1973), wie Hitler sich aufgrund seiner Kindheitserlebnisse zwangsläufig zu einem Psychopathen hatte entwickeln müssen. Peter Weiss wiederum beschreibt in seiner „Ästhetik des Widerstands“ (1971-1981), wie sich Willi Münzenberg trotz einer Kindheit, die wesentlich schlimmer war, als die von Hitler, erst zu einem Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und dann, was für die damaligen Verhältnisse besonders bemerkenswert gewesen ist, auch noch gegen den Stalinismus entwickelt hatte. Münzenberg ist ein Beispiel für Resilienz.

Mit geht es jetzt nicht darum, einen Heroismus gegen die krankmachenden Umstände unserer Leistungsgesellschaft zu propagieren. Aber die verbreitete Bereitschaft, die eigenen „Befindlichkeitszustände“ pathologisieren zu lassen (vgl. Hasler 2012, S.173), hat für mich doch etwas Erschreckendes. Auch in diesem Post möchte ich Hasler das letzte Wort lassen:
„Die Forscher (Sozialmediziner der Universität Nijmegen – DZ) haben in einer retrospektiven Studie 222 Patienten untersucht, die zehn Jahre zuvor vom Hausarzt eine depressive Episode diagnostiziert bekommen haben. Der Befund der Holländer: 76 Prozent der Patienten, die nicht mit einem Antidepressivum behandelt wurden, erholten sich und hatten nie mehr einen Rückfall. Bei Patienten, die mit Antidepressiva behandelt wurden, blieb nur die Hälfte der Patienten rückfallfrei.“ (Hasler 2012, S.169f.) – „Auch wenn es seine Zeit braucht – und diese Zeit großes Leiden bedeuten kann – akute Depressionen vergehen in der Regel von selbst. Und behandelt man eine Depression nicht mit Medikamenten, so führt dies überhaupt nicht zwingend zu einer Chronifizierung der Krankheit.()“ (Hasler 2012, S.171)
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Freitag, 7. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Das Gehirn reagiert Hasler zufolge ständig auf Veränderungen im Organismus und in der Umwelt, wobei ‚Organismus‘ und ‚Umwelt‘ auf dasselbe, nämlich auf komplexe Stoffwechselprozesse hinauslaufen. Bei der von mir im letzten Post thematisierten Neuroplastizität geht es letztlich um nichts anderes: um ständige homöodynamische Anpassungsprozesse zwecks Stabilisierung eines für die Lebenserhaltung unverzichtbaren, fragilen Gleichgewichts. Genau das ist der eigentliche Grund für die von Hasler angesprochene „notorische“ Aktivität des Gehirns. (Vgl. Hasler 2012, S.50) Noch das „vollständig entwickelte erwachsene Gehirn“ ist „höchst reaktiv auf Umwelteinflüsse“. (Vgl. Hasler 2012, S.132)

Wenn die Pharmaindustrie deshalb dem sogenannten „chemischen Ungleichgewicht“ (Hasler 2012, S.130) insbesondere von „Teenager-Gehirnen“ (Hasler 2012, S.156) den Kampf angesagt hat und inzwischen auch Erwachsene zur „Optimierung“ ihrer Leistungsfähigkeit zu Ritalin, Prozac und anderen pharmazeutischen Produkten greifen, haben wir es dabei allererst mit einer logischen Absurdität mit erheblichen biochemischen Implikationen zu tun. Die logische Absurdität besteht darin, ein ‚Gehirn‘, dessen vordringlichste Aufgabe darin besteht, seinen Organismus im Gleichgewicht zu halten, zu ‚optimieren‘. Wie bitte optimiert man einen Gleichgewichtszustand?

Ungeachtet der pädagogisch wie anthropologisch höchst komplexen Frage nach der entwicklungspsychologischen Funktion der Pubertät, die sich nicht einfach auf ein chemisches Ungleichgewicht herunterbrechen läßt, weil dabei andere, das ganze Leben eines Menschen umfassende Gleichgewichte nicht berücksichtigt werden, muß doch jeder Versuch, ein bestehendes Gleichgewicht zu ‚optimieren‘, erst dazu führen – und darin besteht die biochemische Implikation dieser logischen Absurdität –, daß ein Ungleichgewicht überhaupt erst entsteht! Das Gehirn reagiert auf alle Umwelteinflüsse und paßt sich ihnen an. Also reagiert es auch auf Psychopharmaka und paßt sich ihnen an. Wenn man diese dann absetzt, entsteht genau das Ungleichgewicht, das die Psychopharmaka angeblich korrigieren sollten. Die Pharmaindustrie spricht hier verharmlosend vom sogenannten „Absetz-Syndrom“: „Der Begriff ‚Absetz-Syndrom‘ wurde mit Bedacht gewählt, um den belasteten Begriff ‚Entzugserscheinungen‘ zu vermeiden. ... Zugleich kommt es zu einer Schuldverschiebung – vom Entzugserscheinungen verursachenden Medikament hin zum Patienten, der aufhört, diese(s) zu nehmen.“ (Hasler 2012, S.124)

Die komplexe Neuroplastizität des Gehirns ist noch nicht mal ansatzweise verstanden. Angeblich sollen die Psychopharmaka Fehlregulationen im Neurotransmitter-Haushalt ausgleichen. Der Vorsitzende der Arbeitskommission zur Erstellung der vierten Version des Diagnosemanuals stellt die „Neurotransmitter-Hypothese“ allerdings auf eine Stufe mit der „Säftelehre der Griechen“. (Vgl. Hasler 2012, S.130)

In diese subtilen Gleichgewichtsmechanismen mittels Medikamenten eingreifen zu wollen, ist deshalb im höchsten Maße verantwortungslos: „Anstatt ein (hypothetisches) psychopathologisch bedingtes chemisches ‚Ungleichgewicht‘ auszugleichen, verursachen SSRI-Antidepressiva dieses erst. Vor der Behandlung mit SSRIs ist völlig unklar, ob das Serotoninsystem tatsächlich gestört ist. Während und nach der Behandlung hingegen ist es sicher, dass das Serotoninsystem weniger reaktiv und somit unnatürlich verändert ist.“ (Hasler 2012, S.134)

Es sind allererst die Neurowissenschaftler, die den Pharmakonzernen die ‚wissenschaftlichen‘ Argumente für ihre lukrativen Geschäfte mit den Psychopharmaka liefern und sich für ihre Studien auch gut bezahlen lassen. Dafür brauchen sie oft nicht mehr zu tun, als ihren Namen zur Verfügung zu stellen, während die wissenschaftlichen Artikel von konzerneigenen Ghostwritern geschrieben werden. (Vgl. Hasler 2012, S.109ff.)

Hasler zitiert aus einem Editorial des „PLoS-Medicine“ (2009), das ich hier als Schlußwort zu diesem Post verwenden möchte: „Die um sich greifende Ghostwriting-Praktik könne zu ‚bleibenden Schäden und sogar Todesfällen führen, weil verschreibende Ärzte und Patienten über Risiken falsch informiert werden.‘() Gewissermaßen als Warnschuss schlagen die PLoS Herausgeber vor, dass alle Artikel, bei denen Ghostwriting zweifelsfrei nachgewiesen wurde, offiziell zurückgezogen werden sollten. Das könnte tatsächlich Wirkung zeigen, schließlich ist der Rückzug einer Publikation für einen Wissenschaftler eine echte Image-Katastrophe. Die Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften ihrerseits sollten sich ‚doch entscheiden, ob sie nicht gleich überlaufen und den Marketingabteilungen von Pharmafirmen beitreten wollen.‘“ (Hasler 2012, S.112f.)

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Donnerstag, 6. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Zur Problematik einer Korrelation von Bewußtseinsqualitäten mit neurophysiologischen Befunden habe ich mich schon an anderer Stelle geäußert (u.a. in meinem Posts vom 19.03.2011 und vom 27.07.2012). Mein Hauptargument ist, daß das Bewußtsein nur eine Korrelation zuläßt: die Korrelation von Mensch und Welt bzw. von Bewußtsein und Gegenstand. Das primäre Korrelat des Gehirns wiederum bildet der jeweilige Körper, in dem es sich befindet. Plessner beschreibt das Verhältnis von Körper und Gehirn deshalb als Körperleib.

Im Zusammenhang dieses Körperleibs ist das Gehirn für ein Bewußtsein funktional. Wenn man von neurophysiologischen Korrelaten spricht, geht man auf empirisch nicht belegbare Weise über diese Feststellung hinaus. Man behauptet, lokalisierbare und spezifizierbare neuronale Gegebenheiten für einzelne, wiederum spezifizierbare Bewußtseinsqualitäten dingfest machen zu können. Daß das mit dem derzeitigen technologischen Stand nicht geht, habe ich schon im letzten Post diskutiert. Ich bezweifele allerdings auch grundsätzlich, daß das überhaupt geht.

Auch Felix Hasler schätzt die Aussagekraft der Neurowissenschaften zum menschlichen Bewußtsein und überhaupt zum menschlichen Verhalten sehr nüchtern ein: „Man hat noch nicht einmal ansatzweise verstanden, welche spezifische neuronale Konfiguration, welche Ausgestaltung kortikaler und subkortikaler Netzwerke zu welchem individuellen Erleben führt. Geschweige denn, zu welchem Verhalten.“ (Hasler 2012, S.156) – Bei der Präsentation neurowissenschaftlicher Ergebnisse kommt es, so Hasler, zu einer ständigen Verwechslung von ‚Daß‘ und ‚Wie‘. Daß es aufgrund aktueller Erlebnisse, die sich auch experimentell kontrollieren lassen, zu sichtbaren Veränderungen in der Neurophysiologie des Gehirns kommt, ist unbestreitbar. Wie aber diese Befunde mit den Erlebnissen zusammenhängen und wie man sie „zielgerichtet“ beeinflussen kann, ist völlig unklar. (Vgl. Hasler 2012, S.157) Dennoch behaupten viele Neurowissenschaftler mit ihren bunten Bilderchen, die ja nur – im übrigen recht fragwürdige – Befunde visualisieren, Ratschläge für die Behandlung von Kindern und Straftätern geben zu können.

Weil diese Befunde so unspezifisch und nicht reproduzierbar sind – von demselben Individuum, das zu unterschiedlichen Zeiten unter denselben Bedingungen einer fMRT unterzogen wird, werden unterschiedliche MRT-Bilder produziert –, hat man sich z.B. bei der Entwicklung von Psychopharmaka damit beholfen, deren Wirksamkeit nicht mehr auf die Synapsen zurückzuführen, sondern auf die generelle Neuroplastizität, was nichts anderes heißt als daß sich das Gehirn im Kontakt mit der Umwelt ständig verändert, gleichgültig was passiert: „Die Neuroplastizität als biologisches Korrelat pharmakologischer Intervention ins Spiel zu bringen ist ... ein todsicheres, da kaum zu widerlegendes Argument. Schließlich führt jegliche Form der Einflussnahme auf das Gehirn, sei sie pharmakologischer oder nicht-pharmakologischer Art, zu neuroplastischen Veränderungen. Entgegen früherer Annahmen ist nämlich auch das vollständig entwickelte erwachsene Gehirn noch höchst reaktiv auf Umwelteinflüsse.“ (Hasler 2012, S.132)

Meiner Ansicht nach deutet die generelle Plastizität des Gehirns weniger darauf hin, daß es als Korrelat für das Bewußtsein in Betracht kommt, als vielmehr darauf, daß es für dieses Bewußtsein extrem funktional sein muß. Denn wenn wir uns überlegen, welche Eigenschaften ein Organ haben muß, das das Weltverhältnis des Menschen auf materieller Ebene ermöglicht, so ist es genau diese umfassende Formbarkeit, wie sie die Neuroplastizität beinhaltet. Felix Hasler bringt einige wirklich erstaunliche Beispiele. Aufgrund von Gehirnerkrankungen kommt es gelegentlich vor, daß man Kindern und Erwachsenen eine Gehirnhälfte operativ entfernen muß. Die Betroffenen leben weiter ein normales Leben, und es gehen noch nicht einmal Erinnerungen verloren.

Hasler beschreibt den Fall eines siebenjährigen Mädchens, das nach der Entnahme einer Gehirnhälfte im Alter von drei Jahren sich nicht nur völlig normal weiterentwickelte, sondern auch „fließend zwei Sprachen“ lernte. (Vgl. Hasler 2012, S.57) In diesem Zusammenhang verweist Hasler übrigens auf eine These von Karl Pribram, „dass Erinnerungen als kohärente Muster in elektromagnetischen Feldern neuronaler Netzwerke gespeichert sind. Das Gehirn funktioniert gemäß Pribram wie ein Hologramm ...“. (Vgl. ebenda, Anm. 67) – Das erinnert an die morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake. (Vgl.u.a. meinen Post vom 01.02.2013)

Ein anderes Beispiel zur Neuroplastizität, das Hasler beschreibt, wird ebenfalls bei Sheldrake besprochen: der Wasserkopf bzw. „Hydrocephalus“. (Vgl. meinen Post vom 06.02.2013) Patienten, deren Gehirn zu bis zu 95 % mit Flüssigkeit ausgefüllt ist und denen also nur 5 Prozent der Gehirnmasse zur Verfügung steht, zeigen keine Bewußtseinsbeeinträchtigungen: „Der eindrücklichste Fall ist ein junger Student, der ‚einen IQ von 126 hat, erstklassige Noten in Mathematik schreibt und sozial völlig normal ist. Jedoch hat dieser Junge so gut wie kein Gehirn.‘()“ (Hasler 2012, S.56)

Angesichts solcher Fälle macht es einfach keinen Sinn, spezifische Gehirnfunktionen mit spezifischen Bewußtseinsqualitäten zu korrelieren. Es ist der gesamte Körperleib, der Bewußtsein hervorbringt, und nicht einzelne neurophysiologische Korrelate.

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Mittwoch, 5. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Ich hatte mich in einem Post (vom 26.07.2012) skeptisch gegenüber Darstellungen neurowissenschaftlicher Experimente geäußert, weil ich immer den Eindruck habe, daß in diesen Darstellungen entweder zu viele oder zu wenige Daten offengelegt werden. Zu viele Daten erzeugen eine Art ‚Rauschen‘ und behindern den kritischen Fokus auf den eigentlichen Zweck der Experimente, bei denen es oft darum geht, irgendwelche zentralen Aussagen zur Verknüpfung von Bewußtseinsqualitäten mit neurophysiologischen ‚Korrelaten‘ zu belegen. Insbesondere Laien wie ich fühlen sich dabei entmündigt, weil die für sie oft undurchschaubaren neurophysiologischen Begrifflichkeiten die Befunde mit einer blendenden Aura der Autorität versehen.

Zu wenige Daten wiederum rufen ebenfalls Verwirrung hervor, weil die oft weitreichenden Behauptungen der Neurophysiologen so lückenhaft und unzulänglich belegt sind, daß man auch das Gegenteil aus der vorhandenen Datenlage schließen könnte. Ich behelfe mir deshalb immer damit, daß ich bei den Auseinandersetzungen mit den Neurowissenschaften niemals einzelne Befunde als solche in Frage stelle – irgendwie wird das alles schon stimmen, was die Neurowissenschaftler so forschen –, sondern mich immer aufs Grundsätzliche beziehe: also auf die berüchtigten Aussagen zur Willensfreiheit, zum Gedächtnis oder zum Lernen etc.

Genau in dieser Grundhaltung war ich aber offensichtlich bislang noch zu naiv und zu leichtgläubig. Denn nicht nur auf anthropologischer und philosophischer Ebene betreiben viele Neurowissenschaftler mit ihren „umfassende(n) Erklärungsansprüche(n) weit jenseits der Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Fachs“ (Hasler 2012, S.7) Scharlatanerie und Bauernfängerei. Sogar in den Grenzen ihres eigenen Fachgebiets wird bei den Experimenten gepfuscht, und Daten werden manipuliert, verzerrt oder bewußt falsch ausgelegt, nur um der Öffentlichkeit und den Medien interessante, aufmerksamkeitsträchtige Ergebnisse präsentieren zu können. (Vgl. Hasler 2012, S.108f.u.ö.)  Auf forschungsleitende Hypothesen wird gelegentlich ganz gerne mal verzichtet und einfach drauf los geforscht, um im nachhinein die „planlos erhobenen Messdaten“ daraufhin zu sichten, was sich mit ihnen anfangen läßt: „Kurz gesagt: einfach mal im Trüben fischen und dann so tun, als hätte man von Anfang an gewusst, wonach man sucht.“ (Hasler 2012, S.52) – Dabei kann man natürlich gleich solche nachträglichen Erklärungen bevorzugen, die den größten finanziellen Gewinn versprechen; sprich: je reduktionistischer, desto höher die Bewertung (vgl. Hasler 2012, S.36).

Inzwischen gibt es sogar in den Neurowissenschaften selbst eine Gegenbewegung zu Singer, Roth und Co.: das Netzwerk der „Kritischen Neurowissenschaften“ (Hasler 2012, S.228), das „ganz grundsätzlich die Vorzugsstellung der Hirnforschung zur Erklärung des Menschen und seiner Lebenswelt in Frage“ stellt (vgl. Hasler 2012, S.229).

Als besonders aufschlußreich empfinde ich Haslers Darstellungen zur funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT), dem wichtigsten Instrument der Gehirnforschung. (Vgl. Hasler 2012, S.39-60) Diese Methode gehört in den Bereich der narrativen Mathematik, wie ich sie schon in einem Post zur Komplexitätsforschung (vom 31.08.2011) beschrieben habe. Neben der funktionellen gibt es noch die strukturelle MRT. Die strukturelle MRT kann man mit den traditionellen Röntgenbildern vergleichen, die die inneren Organe des menschlichen Körpers wie ein Photoapparat ‚ablichten‘. Tatsächlich sind aber auch die ‚Abbilder‘ der strukturellen MRT, die ja immerhin die tatsächliche ‚Struktur‘ der inneren Organe wiedergeben, nicht abphotographiert, sondern aus der Antwort (Resonanz) von Atomkernen auf starke Magnetfelder errechnet:
„Schon bevor die MRT-Aufnahme gemacht wird, muss eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen werden, die Einfluss auf das Messergebnis haben. So muss beispielsweise die Schichtdicke der Aufnahme festgelegt werden. Wird diese zu groß gewählt, können kleine Läsionen oder pathologische Veränderungen in der Aufzeichnung verpasst werden. Wird die Schichtdicke zu klein gewählt, wird die Aufnahmequalität schlecht oder die Messung dauert unzumutbar lange. Der maschinelle Blick in einen lebenden Menschen bedingt eine komplizierte Übersetzung seiner biologischen Struktur in Zahlen, die dann wiederum zu Bildern umgerechnet werden. Und am Ende der Übersetzungskette steht der fehleranfällige Mensch, meist in Gestalt eines Radiologen, der die MRT-Bilder liest, beurteilt und daraus eine Diagnose ableitet.()“ (Hasler 2012, S.40)
Wir haben es also schon bei der strukturellen und erst recht bei der funktionellen MRT nicht mit Abbildungen, sondern mit Bildgebungen zu tun: also mit bildgebenden Verfahren. (Vgl. Hasler 2012, S.43) Was die strukturelle MRT betrifft, hat dieser Sachverhalt für den Forscher noch keine sonderlich dramatischen Konsequenzen. Denn ob die strukturelle MRT die Lage und den Zustand der einzelnen Organe richtig wiedergibt, ist ‚nur‘ ein Problem für die Diagnose. Allerdings kommt es schon hier oft genug zu Über- oder Unterdiagnosen, zu falsch positiven oder falsch negativen Befunden. (Vgl. Hasler 2012, S.40) Das ist nur ein Problem für den Patienten, aber nicht für den Forscher. Denn daß das errechnete ‚Herz‘ im Computerbild dem tatsächlichen Herz im Körper des Patienten zugeordnet werden kann, ist nicht weiter zweifelhaft.

Von einer vergleichbaren Sachlage kann man aber nun bei der funktionellen MRT leider überhaupt nicht ausgehen. Die ‚funktionelle‘ MRT ist speziell für Gehirnscans entwickelt worden und soll es ermöglichen, dem Gehirn, salopp formuliert, beim Funktionieren zuzusehen. Anstatt aber nun die Gehirnprozesse auf Synapsenebene zu beobachten – die ja den eigentlichen Gegenstand der Neurowissenschaften bilden –, werden zeitabhängige lokale Veränderungen „im Blutfluss und Sauerstoffverbrauch“ gemessen. (Vgl. Hasler 2012, S.42) Die Eisenatome im Blut interagieren mit den Magnetfeldern des MRT und erzeugen so die sogenannten BOLD-Signale: bold = blood-oxygen-level-dependent.

Die Zeitabhängigkeit dieser lokalen Veränderungen bildet dabei die Crux dieses Verfahrens. Die Blutflußveränderungen bewegen sich im Sekundenbereich, während die elektrochemischen Prozesse zwischen den Synapsen im Millisekundenbereich stattfinden. Selbst im günstigsten Fall liegen zwischen den Blutflußveränderungen und den elektrochemischen Prozessen mehrere hundert Millisekunden. Die ‚Abbildungen‘ der funktionellen MRT hinken also den tatsächlichen neurologischen Ereignissen immer hinterher. Von einer ‚Abbildung‘ bzw. von einer eindeutigen Zuordnung der ‚Bilder‘ zu neurologischen Prozessen kann also keine Rede sein. Die Gehirnfunktionen mit Hilfe des Blutflusses sichtbar machen zu wollen, ist in etwa so sinnvoll, wie die „Funktionsweise eines Computers“ mit Hilfe der Messung des Stromverbrauchs ergründen zu wollen. (Vgl. Hasler 2012, S.56)

Läßt also schon die Methode der Bildgebung selbst nur eine globale Zuordnung von bunt eingefärbten Bildern zu grob umrissenen Gehirnbereichen zu, und keinesfalls zu spezifischen synaptischen Ereignissen und Netzwerken, gibt es aber auch in der Verwendung der fMRT weitere fehleranfällige Ungenauigkeiten. Die bunt eingefärbten Bilder von den Gehirnregionen, die als Ergebnisse neurophysiologischer Experimente präsentiert werden, kommen durch ein Differenzverfahren zustande. Es werden immer mindestens zwei Experimente gemacht: ein Testexperiment und ein Kontrollexperiment:
„Auf der Suche nach, sagen wir, dem Sitz der romantischen Liebe, werden Verliebten Fotos ihres geliebten Partners gezeigt und auch Bilder von Freunden gleichen Alters und Geschlechts, in die sie aber nicht ‚wahrhaftig, tief und wie verrückt‘ verknallt sind.() Man subtrahiert dann einfach die MRT-Aufnahme der Kontrollbedingung von der MRT-Aufnahme, die beim Betrachten des Subjektes der Begierde gemacht wurden. So hofft man, alle unspezifischen Hirnaktivierungen loszuwerden, die nichts mit dem Verliebtsein zu tun haben.()“ (Hasler 2012, S.45)
Nun muß man dabei aber wissen, daß das Gehirn ständig aktiv ist, selbst wenn wir schlafen. Also auch, wenn wir nicht wach und aufmerksam sind, gibt es eine Ruhezustandsaktivität. Dieser Ruhezustand an sich beinhaltet schon ein komplexes, das Bewußtsein ermöglichendes Aktivitätsspektrum. Hinzu kommen eine Unzahl an Wechselwirkungen zwischen dem Gehirn, dem übrigen Organismus und der Umwelt, so daß schon allein der Umstand, daß ein Experiment stattfindet, sich auf die neurophysiologische Aktivität auswirkt. Alles das wird nun beim Subtraktionsverfahren, wenn die Kontrollergebnisse von den Testergebnissen abgezogen werden, als bloßes „Hintergrundrauschen“ weggerechnet. Was übrigbleibt, gilt nun als neurologisches Korrelat für romantische Liebe. Das ist in etwa so, als würde man das Gewicht des Kapitäns einer Yacht errechnen, indem man beide wiegt und dann vom Endergebnis das Gewicht der Yacht wieder abzieht. (Vgl. Hasler 2012, S.45)

Die bunten Bilder der fMRT bilden also immer das Ergebnis statistischer Berechnungen: entweder werden auf individueller Ebene mehrere Bilder hintereinander oder Untersuchungen von mehreren Individuen und Gruppen zu Einzelbildern zusammengerechnet. (Vgl. Hasler 2012, S.34) Diese ‚Bilder‘ stellen also niemals Befunde einer einzelnen Untersuchung dar und ermöglichen deshalb auch keine Aussagen über individuelle Bewußtseinsprozesse. (Vgl. Hasler 2012, S.47f.) Und was das Gravierendste ist: sie lassen sich auch nicht reproduzieren! (Vgl. Hasler 2012, S.58f.)

Es ist also kein Wunder, wenn bei der geringen Spezifität der fMRT immer wieder die gleichen Gehirnregionen genannt werden, die für alle möglichen Bewußtseinsqualitäten verantwortlich gemacht werden. Zum anterioren cingulären Cortex schreibt Hasler: „Eine Aktivierung dieser Hirnregion findet man nicht nur bei frisch Verliebten und amerikanischen Wechselwählern, die Bilder von Hillary Clinton sehen, sondern auch wenn chinesisch-englische Zweisprachige bei der Wortbildung eine der Sprachen hemmen,(), wenn Frauen zwischen potenziellen Sexpartnern wählen müssen,() wenn Esssüchtige einen Schokolade- Milchshake vorgesetzt bekommen,() wenn Männer an die eigene Sterblichkeit erinnert werden,() wenn man Vegetariern Bilder von Tiermisshandlungen zeigt,() wenn sich Optimisten positive Gegebenheiten vorstellen() oder wenn man im MRT-Scanner gekitzelt wird.() Man könnte diese Liste beliebig fortführen. Als kleinster gemeinsamer Nenner wurde vorgeschlagen, der anteriore cinguläre Cortex sei das Bindeglied zwischen Emotion und Kognition.() Das macht wohl Sinn und würde auch erklären, warum der ACC notorisch aktiv ist, was immer man auch messen will.“ (Hasler 2012, S.50)

Wo für so viele unterschiedliche Experimente immer dasselbe Ergebnis präsentiert wird, verliert es jede Aussagekraft. Wenn also der anteriore cinguläre Cortex ein Korrelat des Bewußtseins bilden soll, dann gilt dasselbe auch für die Luft, die wir atmen, denn auf sie kann das Gehirn so wenig verzichten wie auf den Blutzufluß, den die fMRT mißt.

Zum Schluß möchte ich aber nochmal auf den Erfolg zurückkommen, den diese bunten Gehirnbilder beim Laien haben. Da läuft manches auf einer Ebene ab, die mit Wissenschaft überhaupt nichts zu tun hat. Bilder sind offensichtlich generell sehr wirkmächtig, denn insbesondere unser Unterbewußtsein spricht auf sie an. Hasler bringt diesen Effekt auf die Formel: „Sehen heißt glauben“ (Hasler 2012, S.43). Die Wirkung auf das Unterbewußte zeigt sich besonders deutlich bei Psychiatriepatienten, denen man „MRT-Bilder des eigenen Gehirns“ gezeigt hat:
„An klinischen Studien teilnehmenden Patienten wird zwar in der Regel mitgeteilt, dass die Hirnbilder, die von ihnen gemacht werden, der Grundlagenforschung dienen und für sie persönlich keine diagnostische Aussagekraft haben. Dies scheint bei den Patienten jedoch kaum anzukommen. Wie Simon Cohn ausführt, machen sich die Patienten ihre eigenen Geschichten zu den Hirn-Scans ... Über eine MRT-Aufnahme ihres Gehirns sagt eine bipolare Patientin: ‚Dieses Bild. Das ist das genaueste Portrait, das du jemals haben kannst. Ein Bild davon, wer du wirklich bist. Innen drin. Ich sage den Leuten: das ist mein Selbstportrait.‘()“ (Hasler 2012, S.68)
Die bunten fMRT-Bilder entwickeln eine „verführerische Suggestionskraft“ (vgl. Hasler 2012, S.43), und viele Neurowissenschaftler bedienen sich der fMRT deshalb nicht als eines wie auch immer problematischen Forschungsinstruments, dessen Fehleranfälligkeit einer beständigen kritischen Aufmerksamkeit bedarf, sondern als „Evidenzmaschine()“ (Hasler 2012, S.44), mit deren Hilfe man seine Reputation in der Öffentlichkeit aufwerten und staatliche Gelder einwerben kann.

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Samstag, 1. Juni 2013

Helmuth Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: Gunter Gebauer (Hg.), Anthropologie, Leipzig 1998, S.185-202

In seiner „Anthropologie der Nachahmung“ führt Plessner die Fähigkeit des Menschen, seine Mitmenschen nachzuahmen, auf seine exzentrische Positionalität zurück, die ihn für den Blick des Anderen ihm gegenüber empfänglich macht. In diesem Blick zeigt sich der Andere als ein beseeltes Innen und spiegelt dem, den er ansieht, sein eigenes Außen, d.h. seinen Körper wider, indem der Angeblickte die sichtbare Körperlichkeit des Anderen ihm gegenüber auf die eigene Körperlichkeit, insbesondere auch auf die für ihn selbst unsichtbaren Bereiche wie etwa die Mimik projiziert. So wird sich der Angeblickte seiner eigenen Doppelaspektivität aus Innen und Außen bewußt.

Dieses wechselseitige Projektionsverhältnis von Blicken baut Plessner nun in einem weiteren Aufsatz zu einer „Anthropologie des Schauspielers“ (1998/1948) aus. Ich hatte schon in einem Vergleich zwischen Merleau-Ponty und Plessner (vom 21.11.2011) auf eine entscheidende Differenz in ihren Anthropologien hingewiesen. Merleau-Ponty setzt das Verhältnis zwischen der Schauspielerin und ihrer Figur mit dem Verhältnis von Zeichen und Bedeutung gleich. Dabei ordnet er das ‚Zeichen‘, also die Schauspielerin, der ‚Bedeutung‘ (Figur) unter: „Alle Zeichen gehen unter in der Bedeutung ... Der ästhetische Ausdruck verleiht dem, was er ausdrückt, ein An-sich-sein, versetzt es als ein jedermann zugängliches Wahrnehmungsding in die Natur, oder umgekehrt, entreißt die Zeichen ihrerseits – die Person des Schauspielers, die Farben und die Leinwand des Malers – ihrer empirischen Existenz und versetzt sie gleichsam in eine andere Welt. Niemand wird bestreiten, daß hier der Ausdruck nicht lediglich eine Übersetzung, sondern die Realisierung und Verwirklichung der Bedeutung selbst ist.“ („Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1966), S.217)

Ich habe Merleau-Pontys Darstellung des Verhältnisses von Schauspielerin und Figur als eine Verschmelzung interpretiert. Merleau-Ponty fokussiert nur den Aspekt ihrer Kunst, in dem die Schauspielerin „unsichtbar“ wird, „wenn Phädra erscheint“. (Vgl. ebenda) Das wesentliche Moment der schauspielerischen Leistung besteht Merleau-Ponty zufolge darin, jede Differenz zwischen der darstellenden und der dargestellten Person zum Verschwinden zu bringen. Die Tatsache, daß die Schauspielerin aber als verkörpernde Person dennoch sichtbar bleibt, wird von Merleau-Ponty nicht weiter berücksichtigt. Nicht so Plessner. Er beharrt auch beim Schauspiel auf der exzentrischen Positionalität als einer fundierenden Möglichkeitsbedingung dieser Kunstform. Und diese Exzentrizität macht Plessner an beiden Seiten fest: an den Darstellern wie an den Zuschauern. Auf beiden Seiten hat die Doppelaspektivität von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Schauspielers eine wichtige anthropologische Funktion.

Zunächst einmal hält Plessner den entscheidenden Unterschied zwischen der Schauspielerei und anderen Kunstformen fest: „Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends sonst wird uns das gezeigt. Dichtung und bildende Kunst verkörpern ‚auf Umwegen‘ und ‚im Abstand‘, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst.“ (Plessner 1998/1948, S.185)

An dieser Stelle ist noch einmal interessant, daß Plessner „Dichtung und bildende Kunst“ in ihrer Funktion ähnlich beschreibt wie Lévi-Strauss, der der Kunst insgesamt eine Modellierungsfunktion zuschreibt, die darin besteht, daß sie von der Wirklichkeit verkleinerte Modelle erstellt. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Als „Verkleinerung“ bezeichnet er das Weglassen von Wirklichkeitsdimensionen. Indem das Kunstwerk also die Wirklichkeit ‚verkleinert‘, schafft es einen „Abstand“ zur Wirklichkeit, der es dem Menschen erlaubt, mit dieser Wirklichkeit zu spielen und so zu lernen, sie zu beherrschen und zu kontrollieren.

Dabei geht Lévi-Strauss nicht auf das Theater ein. Denkbar wäre, daß er das Theater insofern als verkleinertes ‚Modell‘ beschreiben würde, als das Theaterskript alle Zufälligkeit aus den dargestellten Ereignissen eliminiert und nur die für das Stück bzw. die ‚Struktur‘ notwendigen Ereignisse zur Darstellung kommen. In diesem Sinne hätten wir es hier also ebenfalls mit einem ‚verkleinerten‘ Wirklichkeitsmodell zu tun.

Damit würde Lévi-Strauss aber den von Plessner hervorgehobenen Aspekt verfehlen. Das Theaterstück unterscheidet sich von allen anderen Kunstformen eben gerade dadurch, daß seine Verkörperungen nicht verkleinern, sondern 1:1 umsetzen: verkörpernder Darsteller = verkörperte Figur. Die dem Theater eigene ‚Bildhaftigkeit‘ bedient sich eben nicht eines Modells zur Darstellung des Menschen, sondern des Menschen selbst: „Sie (die Theaterfiguren – DZ) existieren nicht als farbige Figuren auf einer Fläche, auch nicht als lebende Bilder und bewegte Skulpturen. Sie sind von Menschen verkörperte und bedeutete Menschen.“ (Plessner 1998/1948, S.186)

Das ‚Bild‘, das der Schauspieler verkörpert, existiert dabei aber nicht in dieser Verkörperung selbst. Die Verkörperung materialisiert es nur. Seine Wirklichkeit hat es vielmehr im „Reich der Phantasie“. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.185) Wir haben also zwei von einander getrennte ‚Wirklichkeiten‘: die der Phantasie und die der Realität, um es mal in dieser tautologischen Form auszudrücken. Denn obwohl der verkörpernde Darsteller mit der verkörperten Figur 1:1 zusammenfällt, funktioniert die ‚Figur‘ bzw. das ‚Bild‘ der Phantasie, das der Schauspieler beim Zuschauer hervorruft, wie eine ‚Maske‘, die sich zwischen die Person des Schauspielers und den Zuschauer schiebt: „Mit dem Fortfall der künstlichen Maske wird der Leib selbst zum Kunstmittel. Der Darsteller bleibt hinter seinem eigenen Aussehen genauso verborgen wie der kultische Tänzer.“ (Plessner 1998/1948, S.191)

Plessner macht diese Entwicklung, in der die künstliche Maske und mit ihr der Abstand zum Zuschauer im zunehmenden Maße wegfällt, an den drei Stationen des Ritus, des Theaters und des Films fest. Im Ritus ist es die Maske selbst, die eine Gottheit oder einen Dämon ‚verkörpert‘, während die Person des Maskenträgers überhaupt keine Rolle spielt. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.186f.) Im Theater wird schon die Person des Schauspielers hinter der Figur sichtbar. Allerdings bleibt seine Persönlichkeit noch an ein Ensemble gebunden und kann sich schon deshalb in seiner Verkörperungsfunktion nicht verselbständigen. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.189) Und auf Seiten des Zuschauers verhindert auch der Abstand zwischen Zuschauerraum und Bühne eine weitergehende Identifikation mit dem Schauspieler. Dennoch kennen wir schon auf dieser Ebene einen Starkult, in dem der Schauspieler selbst zum Gegenstand des Interesses und sogar der Verehrung wird.

Der im Theater noch vorhandene Abstand zwischen Schauspieler und Zuschauer wird im Film durch die Kamera, die ja letztlich nur das subjektive Auge des Zuschauers mitten im Geschehen ist, vollends überwunden. Die Kamera ist „wirklich an keinen Abstand mehr gebunden und (kann) vom Überblick einer Szene unvermittelt in die Großaufnahme eines Gesichts, einer Hand, eines Gegenstandes übergehen ...“ (Vgl. Plessner 1998/1948, S.188) – Der Schauspieler wird zum Filmstar.

Dabei besteht die suggestive Wirkung des Schauspiels nicht etwa darin, daß Plessner nun die Sichtbarkeit des Schauspielers an die Stelle der von ihm verkörperten Figur treten läßt, im Gegensatz zu Merleau-Ponty, der die suggestive Wirkung an der Unsichtbarkeit des verkörpernden Schauspielers festmacht. Vielmehr besteht der Identifikationsmechanismus des Schauspiels gerade in einer Verschränkung beider Aspekte, in ihrer Gleichzeitigkeit bzw. Doppelaspektivität: „Indem sich die Augenscheinlichkeit eines wirklichen Darstellers, der eine wirkliche Person spielt, zwischen den Zuschauer und die dargestellte Person schiebt, wird der scheinbar verringerte, im Grenzfall des Filmstars vernichtete Abstand zur Figur wiederhergestellt, freilich nur in den Menschen selbst verlegt und als das Verhältnis des Menschen zu sich selbst entdeckt. Als das Verhältnis seiner selbst zu sich selbst ist er die Person seiner Rolle, für sich und für den Zuschauer. In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Menschen zu sich und zueinander, die ihr tägliches Leben durchdringt ... Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolle-verpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen?“ (Plessner 1998/1948, S.194)

Der Schauspieler spiegelt also in seiner Sichtbarkeit als Verkörperung einer Figur bzw. Rolle das Verhältnis des Zuschauers zu seiner eigenen gelebten Wirklichkeit. Seine Spaltung spiegelt die Spaltung, d.h. die exzentrische Positionalität des Menschen schlechthin. Insofern ist jedes Schauspiel ein „anthropologisches Experiment“ (Plessner 1998/1948, S.199), in dem der Zuschauer seinen eigenen Wirklichkeitsbezug erproben kann, indem er sich mit dem Schauspieler identifiziert.

Wir haben es hier also weder auf Seiten des Zuschauers, noch auf Seiten des Schauspielers mit einer Verschmelzung zu tun, in der der individuelle Mensch in seiner Figur verschwindet. Ganz im Gegenteil funktioniert das Schauspiel nur aufgrund einer Spaltung, die durch die „Selbstbeherrschung“ des Schauspielers ermöglicht wird: „In der normalen Hingegebenheit an irgendeine Beschäftigung kann der Mensch, ja muß er sich vergessen. Nur das Stück seiner selbst, das für die Durchführung seiner Absichten als Mittel besonderer Beherrschung und Pflege bedarf, macht er sich bewußt, spaltet er von sich ab. Beim Schauspieler umfaßt dieses Stück ihn selbst, als Leib und Seele. Er ist sein eigenes Mittel, d.h., er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren. Nur in solchem Abstand spielt er.“ (Plessner 1998/1948, S.190)

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