„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 29. Mai 2013

Helmuth Plessner, Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), in: Gunter Gebauer (Hg.), Anthropologie, Leipzig 1998, S.176-184

Zoologen wie Anthropologen haben gleichermaßen das Problem, wie es zwischen zwei Lebewesen zu einer motorischen Korrespondenz kommen kann: Wie ist Nachahmung möglich? Während nun der vergleichende Anthropologe Michael Tomasello und der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner darin übereinkommen, daß Nachahmung ein menschliches Monopol sei, das den Menschen vom Schimpansen bzw. ‚Affen‘ unterscheidet – „Nachäffen kann nur der Mensch, nicht der Affe.“ (Plessner 1998/1948, S.182) –, verweist der Primatologe Frans de Waal auf artenübergreifendes „Body-Mapping“, etwa wenn ein Mensch mit den Armen wedelt und ein Delphin, ihn nachahmend, mit den Brustflossen wackelt. (Vgl. de Waal 2011/2009, S.75f.)

Das Problem der Nachahmung wird von de Waal vor allem auf der Ebene der Empathie, also einer weitgehend vorbewußten Verhaltensebene thematisiert. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „Body-Mapping“ und meint damit eine wechselseitige „Gefühlsansteckung“. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2011) Tomasello und Plessner hingegen sprechen von einer genuinen Bewußtseinsleistung. Insbesondere von Plessner wird das Problem der Nachahmung als Frage danach gestellt, wie wir davon wissen können, daß z.B. bei der Mimik bestimmte Partien unseres Gesichtes, die wir nicht sehen können, den Partien eines Gesichtes von jemandem uns gegenüber entsprechen, den wir sehen können. Nur in diesem Fall nämlich, so Plessner, können wir von „echter Nachahmung“ sprechen: „Man wird daher zwischen dem Phänomen der Erwiderung von Bewegungen, die vitalen Ursprungs sind und der affektiven Miterregung zugerechnet werden dürfen, und der echten Nachahmung zu unterscheiden haben. Diese ist dem Menschen vorbehalten, insofern als Distanz zum eigenen und fremden Gebaren ihre Basis bildet.“ (Plessner 1998/1948, S.182)

Tomasello und Plessner führen also das menschliche Monopol der Nachahmung auf eine Bewußtseinsleistung zurück. Ein Mitarbeiter von Tomasello hat in der festen Überzeugung, daß auch Schimpansen nachahmen können, Experimente durchgeführt, die zu seiner eigenen Überraschung Tomasellos These zu bestätigen scheinen. (Vgl. ZEIT-ONLINE vom  04.03.2013) Aber mit Experimenten ist das immer so eine Sache, wenn es um Bewußtseinsleistungen geht. Kausale 1:1-Beziehungen zwischen dem, was im Experiment geschieht, und dem, was im Bewußtsein vor sich geht, lassen sich einfach nicht herstellen. Dazu bedarf es immer hermeneutischer Anstrengungen, sprich: Interpretationen.

Meine Faustregel ist: um Schimpansen ein dem Menschen vergleichbares Bewußtsein zusprechen zu können, muß man erstmal zeigen, daß sie Bewußtseinskrisen durchmachen, wie sie sich z.B. in der Pubertät manifestieren. Als Antwort auf solche Bewußtseinskrisen hat der Mensch Initiationsriten erfunden, an deren Stelle im Laufe der Kulturentwicklung mehr und mehr die Erziehung getreten ist. Und das ist auch genau der Ansatz, den Plessner einnimmt, wenn er Nachahmung als ein spezifisch menschliches Monopol bezeichnet.

Zunächst nochmal die Parallele zu Tomasello: wie er unterscheidet Plessner zwischen ‚Schimpansen‘ – Plessner selbst spricht immer von ‚Affen‘ – und Menschen, insofern alle zur Nachahmung befähigten Tierarten nur Techniken nachahmen, aber niemals das jeweilige Tier selbst: „Jemandem etwas nach-machen ist nicht dasselbe wie jemanden nachmachen. ... Das Tier läßt sich, wie u.U. auch der Mensch von einem Bewegungsablauf, der sein Ziel erreicht, mitführen und verfällt damit dem Schein der Imitation, während in Wahrheit nur Mitvollzug im Spiel ist.“ (Plessner 1998/1948, S.182)

Die Fähigkeit, jemanden nachzumachen, im Unterschied dazu, ihm etwas nachzumachen, beruht Tomasello zufolge auf der gemeinsamen Aufmerksamkeit bzw. auf der geteilten Intentionalität. Damit bleibt Tomasello aber noch an der Oberfläche des menschlichen Monopols. Letztlich sind ja auch viele Tierarten zu einer gemeinsamen Aufmerksamkeit fähig, und deshalb bedarf die spezifisch menschliche Differenz in dieser Bewußtseinsleistung noch einer weiteren Erläuterung.

Plessner führt die Befähigung des Menschen zur gemeinsamen Aufmerksamkeit auf zwei einander bedingende Momente zurück: auf den Blick und auf die Exzentrizität. Die exzentrische Positionalität des Menschen bildet dabei die anthropologische Fundamentalbedingung, die ihn für den Blick des Anderen erst empfänglich macht: „Als exzentrisches Wesen sich selbst gegenwärtig (Sartre) und in eins damit undurchsichtig (Merleau-Ponty) verfügt der Mensch über die einander begegnenden Blicke als Leitfaden zwischen sich und dem Anderen, an dessen Stelle er stehen könnte und dessen Mienen und Gesten er daher auch mit seinem eigenen Leibe nachahmen kann.“ (Plessner 1998/1948, S.181)

Plessner beschreibt die exzentrische Positionalität als Doppelaspektivität von Innen und Außen. Der Mensch ist zugleich Mitte und Peripherie, in der Welt und der Welt gegenüber. Das entspricht der im Zitat angesprochenen Gleichzeitigkeit von Gegenwärtigkeit und Undurchsichtigkeit. ‚Gegenwärtigkeit‘ meint Unmittelbarkeit: wie das Tier ist sich der Mensch unmittelbar gegeben. Er ist da, hier und jetzt. Aber anders als das Tier ist er sich selbst ‚fremd‘. Der Mensch ist sich selbst unzugänglich und undurchsichtig, wie seine eigene Mimik, als „unsichtbare Bewegungsfelder des eigenen Gesichts“. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.181)

Wenn ihm nun jemand anderes ins Gesicht sieht, über den ‚Blick‘, so werden ihm über die sehenden Augen des Anderen die eigenen sehenden Augen bewußt. Und da ihm die eigenen Augen unsichtbar sind, treten nun die sehenden Augen des Anderen an die Stelle der eigenen Augen: sie werden zu seinen eigenen Augen. Das ist der Kern der menschlichen Nachahmung: der gesehene Leib des Anderen tritt an die Stelle des eigenen unsichtbaren Leibes. Deshalb ist, so Plessner, „(e)chte Nachahmung ... nur der exzentrischen Position möglich, d.h. ein Monopol des Menschen.“ (Vgl. Plessner 1998/1948, S.183)

Im Detail beschreibt Plessner nun die Funktion des Blicks im Prozeß der Nachahmung analog zu einer Landschaftsvermessung. Der Blick bzw. die Augen bilden einen Fixpunkt des unsichtbaren ‚Leibes‘ bzw. des Gesichtes, um den herum sich eine Mimik organisiert, ähnlich wie bei einer Trigonometrie. Weniger umständlich formuliert ruft der Blick des Anderen in uns das „Körperschema“ wach, so wie es sich in unseren Gehirnfunktionen abbildet und „dessen Ausbildung mit der Ausbildung und Beherrschung der Motorik vermutlich gleichen Schritt hält“. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.180)

Auf dieser Ebene des Körperschemas bewegen sich sicher auch die nachahmenden Tiere. Ihnen fehlt aber die entscheidende Voraussetzung des ‚Blicks‘, in dem sich der Mensch der eigenen Augen, des eigenen Gesichts und des eigenen Leibes bewußt wird. Über den Blick des Anderen wird sich der Mensch seiner eigenen „unvollkommenen Vergegenwärtigung“ bewußt (vgl. Plessner 1998/1948, S.183f.), und er beginnt nun den Anderen als Person nachzuahmen, um sich seiner selbst als Person zu vergewissern. Er beginnt nun, mit der „Reziprozität des Körperschemas“ zu spielen (vgl. Plessner 1998/1948, S.180f.), „z.B. in der Koketterie, im Flirt, in der Verstellung“ (Plessner 1998/1948, S.181). So eignet er sich den eigenen Körper an, der er ist, um ihn als Leib zu haben.

Deshalb zum Schluß nochmal meine Frage: Haben Schimpansen eine Pubertät?

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen