„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 8. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Die Naturwissenschaft hat in der Nachfolge von Galilei dazu geführt, daß die „gesamte unendliche Natur“ (Husserl 3/1996, S.38) sich von einer außerwissenschaftlich in „sinnlicher Fülle“ (Husserl 3/1996, S.29) gegebenen Welt in eine „eigenartig angewandte() Mathematik“ (Husserl 3/1996, S.38) verwandelt hat. Der Naturwissenschaftler von heute hat vergessen, daß die Naturwissenschaft einmal von einem lebensweltlichen Naturverständnis ihren Ausgang genommen hat. Oder er hat es verdrängt, weil er davon ausgeht, daß sich in der Mathematisierung der Natur der Sinn der Naturwissenschaft erfüllt:
„In seiner wirklichen Forschungs- und Entdeckungssphäre weiß er (der Naturwissenschaftler – DZ) gar nicht, daß all das, was diese Besinnungen zu klären haben, überhaupt klärungsbedürftig ist, und zwar um des höchsten für eine Philosophie, für eine Wissenschaft maßgeblichen Interesses willen, des der wirklichen Erkenntnis der Welt selbst, der Natur selbst. Und gerade das ist durch eine traditionell gegebene, zur έχνη gewordene Wissenschaft verloren gegangen, soweit es überhaupt bei ihrer Urstiftung bestimmend war. Jeder von einem außermathematischen, außernaturwissenschaftlichen Forscherkreis herkommende Versuch, ihn zu solchen Besinnungen anzuleiten, wird als ‚Metaphysik‘ abgelehnt.“ (Husserl 3/1996, S.61)
Aber in den sedimentierten „Sinnes-Implikationen“ (Husserl 3/1996, S.56) der Lebenswelt ist der ursprüngliche lebensweltliche Sinn, aus dem die neuzeitlichen Naturwissenschaften seit der an der griechischen Antike sich orientierenden Renaissance hervorgegangen sind, aufbewahrt (vgl. Husserl 3/1996, S.S.6f., 12, 14, 16) und auf sie müssen wir uns bzw. die ‚Philosophen‘ sich zurückbesinnen, wenn sie den ‚gegenwärtigen‘ „Zusammenbruch der Wissenschaft“ (Husserl 3/1996, S.63) – Husserl veröffentlicht sein Buch zu einer Zeit, in der der Faschismus sich in ganz Europa auszubreiten droht – in eine Chance zu einer neuen Entwicklung umwenden wollen.

Husserl fordert also eine Neubewertung des Verhältnisses von Lebenswelt und Naturwissenschaft, von Naivität und Reflexion, – ähnlich wie auch schon Nietzsche von der Notwendigkeit einer zweiten Naivität gesprochen hat. (Zur zweiten Naivität vgl. meine Posts vom 28.10.2010, 17.11.2010, 07.12.2010, 14.12.2010, 01.01.2011, 24.01.2011 und 26.11.2012) Um eine zweite Naivität handelt es sich, weil in der Rückwendung auf die erste Naivität des Lebens diese sich verwandelt hat, in eine Möglichkeit, eine Freiheit des Denkens und Handelns.

Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei der ersten Naivität um die Naivität des „Lebens“ handelt oder um eine „philosophische Naivität“, in der die Philologen im Eifer ihrer Textexegesen vergessen, sich die Frage nach dem Sinn ihres Tuns zu stellen, oder wenn heutige Philosophen glauben, ohne Bezug auf die Erkenntnisse der Neurophysiologie nicht mehr philosophieren zu dürfen:
„Daß der rechte Rückgang zur Naivität des Lebens, aber in einer über sie sich erhebenden Reflexion, der einzig mögliche Weg ist, um die in der ‚Wissenschaftlichkeit‘ der traditionellen objektivistischen Philosophie liegende philosophische Naivität zu überwinden, wird sich allmählich vollkommen erhellen und wird der schon wiederholt vorgedeuteten neuen Dimension die Tore öffnen.“ (Husserl 3/1996, S.64)
Die Reflexion, die sich auf die erste Naivität zurückwendet, erhebt sich zugleich über sie und eröffnet eine neue Denk- und Handlungsebene, eine neue Sinndimension, die die bisherigen Denk- und Handlungsebenen transzendiert. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer „Ebenentranszendenz“. (Vgl. meine Posts vom 13.07. und vom 16.07.2012) Und das gilt nicht nur für Menschheitsfunktionäre wie die Philosophen, sondern für jeden von uns. Der notwendige, kritische Rückgang auf die „Naivität des Lebens“ ist die Aufgabe eines jeden denkenden Menschen, nicht im Sinne einer „finalen Harmonie“ (Husserl 3/1996, S.80), sondern im Sinne einer immer wieder neu zu findenden Balance zwischen Naivität und Reflexion.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen