„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 19. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Daß es sich beim Strukturalismus um einen Konstruktivismus handelt, wird auch an Lévi-Straussens Definition von Begriffen wie ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ deutlich. Lévi-Straus ordnet die damit verbundene Thematik der Nachrichtentechnik bzw. der Informationstheorie zu: „Die Vorstellung, daß die Welt der Primitiven (oder der sogenannten Primitiven) hauptsächlich aus Nachrichten besteht, ist nicht neu. ... Man wird einwenden, daß zwischen dem Denken der Primitiven und dem unseren ein wesentlicher Unterschied fortbesteht: die Informationstheorie interessiert sich für Nachrichten, die authentisch solche sind, während die Primitiven bloße Manifestationen des physischen Determinismus fälschlich für Nachrichten nehmen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.308)

Lévi-Strauss verweigert sich einer Unterscheidung zwischen ‚authentischen‘ und bloß scheinbaren Nachrichten, zwischen Information und Materie. Er verweist darauf, daß die moderne Informationstheorie über diese Unterscheidung längst hinaus ist – und sich damit tatsächlich auf einer Ebene mit den ‚Primitiven‘ befindet; denn inzwischen erstreckt sich die Informationstheorie auch „auf Erscheinungen, die nicht von sich aus den Charakter von Nachrichten haben, namentlich auf die der Biologie ...“ (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.309)

Lévi-Strauss verweist hier insbesondere auf die binäre Struktur der Chromosomen, als dem „tieferen Grund für die bevorzugte Bedeutung, die der Mensch dem Begriff der Art zuerkennt“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.161) Demzufolge hätte das wilde Denken schon geahnt, daß den Arten ein binärer Code zugrundeliegt. Wenn das wilde Denken also „physische und semantische Eigenschaften“ gleichsetzt, ist es „auf dieselbe Weise logisch, wie es unser Denken ist“. (Vgl.Lévi-Strauss 1973, S.308)

Genau wie in den binären Formeln der Informationstheorie schafft das wilde Denken Bedeutung mit Hilfe von „Gegensatzpaaren“. Die einfachste Art, Bedeutung zu stiften, besteht Lévi-Strauss zufolge darin, eine bestimmte Art (Pflanze oder Tier) als Nahrungsquelle zu verbieten: „In erster Linie erklärt sich der Unterschied zwischen erlaubten und verbotenen Arten weniger aus der vermuteten Schädlichkeit, die der verbotenen Art zugeschrieben wird, also einer ihm immanenten Eigenschaft physischer oder mystischer Ordnung, als vielmehr aus dem Bemühen, eine Unterscheidung zwischen ‚ausgeprägter‘ und ‚nicht-ausgeprägter‘ Art einzuführen. Bestimmte Arten zu verbieten, ist nur ein Mittel unter anderen, sie zu Bedeutungsträgern zu machen ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.122)

Es ist also der Gegensatz zwischen erlaubt und nicht erlaubt, der Bedeutung stiftet. Das jeweilige konkrete Individuum als Teil einer Art oder auch die Art selbst spielen dabei überhaupt keine Rolle. Der Gegensatz zwischen zwei Gegenständen stiftet eine ‚Struktur‘, und auf diese Struktur kommt es an. Sie bildet den eigentlichen Kern des Lévi-Straussischen Bedeutungsbegriffs.

Wie strukturell und formal das gemeint ist, zeigt sich z.B. an Lévi-Straussens Behandlung bestimmter Riten wie etwa dem Frauentausch. Er setzt den „Austausch“ von Frauen ohne weiteres gleich mit dem „Austausch“ von Nahrung, ohne auch nur einen Gedanken oder auch nur ein Wort zur Differenz zwischen ‚Frauen‘ und ‚Nahrung‘ zu verschwenden. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.130ff.) Es kommt auf die Inhalte wie Frauen oder Nahrung gar nicht an, sondern eben nur auf deren kommunikative Funktion innerhalb einer Struktur, die die „gegenseitige Durchdringung der sozialen Gruppen“ gewährleistet. Wir haben es mit Kommunikationsmitteln zu tun. Jede darüber hinausgehende ‚Bedeutung‘, die an den konkreten Frauen haftet, ein persönlicher oder auch menschlicher Sinn, ist irrelevant. Es geht immer nur um die Form, nicht um den Inhalt: „Der Irrtum der klassischen Ethnologen bestand darin, daß sie diese Form verdinglichen, sie an einen bestimmten Inhalt knüpfen wollten, während sie sich dem Beobachter doch als eine Methode darstellt, die jede Art von Inhalt zu assimilieren erlaubt.“ (Lévi-Strauss 1973, S.92f.)

Wenn Lévi-Strauss von Metaphern und Metonymien spricht, meint er deshalb auch nicht bestimmte Aspekte oder Momente am Gegenstand, die ihn geeignet machen, einen Sinn zum Ausdruck zu bringen, der sich einer begrifflichen Logik entzieht, etwa im Sinne einer Theorie der Unbegrifflichkeit, wie sie Blumenberg beschrieben hat. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011) Es geht hier nicht um Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Vielmehr beschreiben bei Lévi-Strauss Metaphern und Metonymien Struktureigenschaften von Systemen. So ist Lévi-Strauss zufolge die Wissenschaft ‚metonymisch‘, weil sie der Wirklichkeit Naturgesetze abschaut, die sie in Maschinen wie den Webstuhl umsetzt, während die Kunst ‚metaphorisch‘ vorgeht, weil sie die Wirklichkeit in verkleinerte Modelle verwandelt. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.38) ‚Metonymisch‘ meint in diesem Fall, daß eine maßstabsgetreue ‚Verschiebung‘ bzw. Übertragung von Kräfteverhältnissen aus der Natur in die Technik stattfindet; und ‚metaphorisch‘ meint, daß eine nicht maßstabsgetreue (weil die Dimensionen der Wirklichkeit reduzierende) Verwandlung‘ des Originals zum Modell stattfindet. Mit Sinn bzw. Bedeutung im literarischen Sinne hat die Lévi-Straussische Definition von Metonymie und Metapher nichts mehr zu tun. Vielmehr haben wir es hier nur noch mit Algorithmen zu tun, die Kraftübertragungsprozesse bzw. Informationsprozesse in Gang setzen.

Was hier verloren geht, ist das Weltverhältnis des Menschen, in dem er so etwas wie Sinn oder Bedeutung für sich selbst und für andere allererst finden kann. Das Weltverhältnis wird reduziert auf die Gegenüberstellung zweier Reihen, der natürlichen und der kulturellen, von denen die natürliche Reihe als die ursprüngliche und die kulturelle als die abgeleitete Reihe bezeichnet wird. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.269) Beide Reihen verweisen nicht aufeinander, sondern laufen parallel nebeneinander her, wobei gelegentlich ‚Nachrichten‘ von der ursprünglichen Reihe zur abgeleiteten Reihe gesendet werden.

Es ist also nicht so, daß der Mensch die Natur anspricht und sie befragt, oder umgekehrt, daß die Natur den Menschen anspricht und ihm Anweisungen gibt. Eine Ansprache wie sie das anderthalbjährige Kind in Anne-Fischer-Bucks Studie praktiziert, das mit den Gegenständen seiner alltäglichen Umwelt einen Tanz aufführt, in dem es auf die Couch springt, auf den Tisch schlägt, dann auf ihn drauf klettert, an den Schrank klopft und zur Tür läuft, auf die er ebenfalls klopft usw., und dieses Spiel in den folgenden Tagen in gleicher Reihenfolge mehrfach wiederholt.

Fischer-Buck merkt dazu an: Das Kind „überträgt seine Sehnsucht nach Trost auf die Couch, auf der die Eltern schlafen. Denn Dirk warf sich immer darauf, wenn er Kummer oder Schmerz hatte. Tisch und Schrank dagegen waren Herausforderungen und er triumphierte, wenn er oben war. Die Tür jedoch war voller Geheimnis, denn durch sie verschwanden die Eltern und kehrten dann doch zurück. Er klopft und hört, was Schrank und Tür sagen und damit beginnt der Dialog mit der Umwelt, bei dem das Äußerliche – nämlich die Beschaffenheit von Couch, Tisch, Tür und vieler anderer Dinge mit hart oder weich, mit dumpf oder klangvoll antworten. Und durch die Bewegung vom einen zum anderen – immer wieder vollzogen – verinnerlicht sich seine Verbundenheit mit der ersten Umwelt, die er erlebt. Es beginnt so etwas wie der eigene Lebensrhythmus, die eigene Lebensmelodie.“ („Zum Sinn der frühkindlichen Bildung“, in: Franz-Fischer-Jahrbuch 2013, S.10f.)

Nichts davon beschreibt Lévi-Strauss im Verhalten des ‚Primitiven‘, und die Frage stellt sich, ob seine strukturalistische Methode überhaupt geeignet ist, solche Zusammenhänge sichtbar zu machen. Wenn überhaupt von einem Verweisungszusammenhang die Rede sein kann, dann besteht er in der ‚Stellvertretung‘. Lévi-Strauss spricht davon, daß die ‚Zeichen‘, also bestimmte signifikante Naturereignisse, mit den ‚Begriffen‘ die „Fähigkeit des Verweisens“ gemeinsam haben: „... beide beziehen sich nicht ausschließlich auf sich selbst, sie können für anderes stehen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.31)

Damit widerspricht sich Lévi-Strauss in gewisser Weise selbst, denn an anderer Stelle hebt er hervor, daß sich das Opfer vom Klassifikationssystem des wilden Denkens unterscheidet, in dem alles auf diskontinuierlichen Unterschieden bzw. Gegensatzpaaren beruht: „Beim Opfer ist es umgekehrt: obwohl verschiedene Dinge oft vorzugsweise bestimmten Gottheiten oder bestimmten Typen der Opferung vorbehalten sind, ist das Grundprinzip das der Stellvertretung ... Die Opferung liegt also im Bereich der Kontinuität ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.258f.)

Wenn also einmal eine bestimmte Art, Pflanze oder Tier, einem Individuum oder einer Gruppe (Clan) zugeordnet worden ist, bleibt diese Zuordnung unveränderlich erhalten. Die ‚Verweisung‘ kann nicht mehr aufgehoben oder umgewandelt werden, wohingegen ein Opfer jederzeit durch ein anderes Opfer ersetzt werden kann. – Nirgendwo ein tanzendes Kind, das sich und seine Welt erprobt und sich in dem Maße in sie einfügt, wie es sie sich zueigen macht. Es ist eben nicht so, daß die Zuordnung einer bestimmten Pflanze oder eines bestimmten Tieres über die Clanangehörigen irgendetwas aussagt. Sie müssen sich nur an die mit dieser Zuordnung verbundenen Regeln bzw. Riten halten, ohne daß jemand davon in seiner Individualität, in seiner Person betroffen wäre.

Deshalb sind die mit der ursprünglichen Zuordnung von Mineralien, Pflanzen oder Tieren verbundenen Mythen auch so einfallslos: kein Vergleich mit der narrativen Qualität der Odyssee oder der Ilias. Lévi-Strauss spricht von der „Bedeutungslosigkeit“ dieser Mythen, von ihrer „Ärmlichkeit“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.264) Sie beschränken sich oft auf die Beschreibung einer Wegstrecke, wo irgendein Vorfahr an einer Wasserstelle, einer Buschgruppe oder einem Felsen vorbeigekommen ist, und so wurde die entsprechende geographische Formation zu einem heiligen Ort: „... der Vorfahr ist an diesem oder jenem Ort erschienen, er ist hierhin gegangen, dann dorthin, er hat diese oder jene Geste gemacht ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.280) – Das ist die ganze dürftige und einfallslose Geschichte. Letztlich geht es tatsächlich nur darum, eine bestimmte Information an eine bestimmte Stelle zu heften, einer Pflanze, einem Tier oder eben einem Ort. Das erinnert an ein Gedächtnistraining, wo man lernt, wie man Informationen behält, indem man sie an verschiedenen Stellen eines fiktiven Ortes unterbringt.

Die beiden Reihen der natürlichen und der kulturellen Begebenheiten stehen also in einem sehr reduzierten Verweisungszusammenhang, der vor allem durch die zugrundeliegende Struktur, das System, getragen wird. Es gibt, so Lévi-Strauss, keinen kontinuierlichen Übergang vom „Akt des Benennens“, also des Zuordnens von Artbegriffen und Eigennamen, zum „Akt des Zeigens“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.250) Man könnte auch sagen: Es gibt keinen kontinuierlichen Übergang zwischen der Struktur bzw. dem System und dem konkreten Individuum. Und es gibt diesen Übergang deshalb nicht, weil das konkrete Individuum in diesem System nicht vorkommt; weder es selbst noch seine Perspektive, d.h. sein Weltverhältnis. Der eigentliche Verweisungsakt, der „Akt des Zeigens“, durchbricht das System und schlägt eine Bresche in die Struktur.

Indem auf dieses Individuum ‚gezeigt‘ wird oder indem dieses Individuum selbst auf etwas ‚zeigt‘, haben wir es mit einem echten Mensch-Welt-Verhältnis zu tun, in dem der Mensch seine Perspektiven auf sich und die Welt zum Ausdruck bringt. Wir haben es nicht mehr mit Algorithmen zu tun, sondern mit Sätzen mit einer S/P-Struktur, also mit Subjekten und ihren Prädikaten. Mit dieser Struktur gehören diese Sätze zu einem seiner selbst gewissen Bewußtsein; anders als das Klassifikationssystem des wilden Denkens, dessen „Prinzip“, so Lévi-Strauss, sich niemals „postulieren“ läßt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.74; vgl. auch S.82), weil es dem Bewußtsein entzogen ist. Das gilt nicht nur für die Willkürlichkeit in der wechselseitigen Zuordnung an sich bedeutungsloser „Einzelheiten“ in den beiden ‚Reihen‘ (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.70), sondern auch für die im letzten Post erwähnte schwangere Frau, die nicht wirklich begründen kann, warum jetzt gerade diese eine Melone, an der sie gerade vorbeigeht, eine solche tiefreichende Bedeutung für die Zukunft ihres ungeborenen Kindes haben soll.

Im Freudschen Sinne haben wir es beim wilden Denken nicht mit Bewußtseinsleistungen, sondern mit „Fehlleistungen“ zu tun (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.292); d.h. die Strukturen des Klassifikationssystems bilden nicht das Mensch-Welt-Verhältnis ab, sondern das Unterbewußtsein, in dem nach Freud tatsächlich niemals etwas so ist, wie es zu sein scheint. Wir haben es also niemals mit Phänomenen zu tun, sondern mit dem, was sich hinter ihnen verbirgt. Dem kommen wir nur auf die Spur, wenn wir die Phänomene nicht als das nehmen, was sie sind. Das Bewußtsein ist auf Gestalten bezogen. Wer Gestalten als Gestalten nimmt, d.h. wer sie wahrnimmt, betreibt Phänomenologie. Das Unter-Bewußtsein aber ist in Strukturen organisiert. Und wer die Gestalten in ihrer Funktion innerhalb dieser Struktur analysiert, erforscht das Unter-Bewußtsein und betreibt Psychoanalyse.

Letztlich steht Lévi-Straussens strukturalistische Anthropologie irgendwo zwischen Konstruktivismus und Traumdeutung. Vielleicht besteht ja nicht nur eine Affinität zwischen dem Bastler und dem Ingenieur, sondern auch zwischen dem Ingenieur und dem Analytiker.

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