„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 27. April 2013

Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012

1. Elliptische Argumentation
2. Blumann und Luhmenberg
3. Konvergenz statt Interdisziplinarität
4. Benutzerillusionen
5. Rückkopplung: positiv?
6. Gesellige Technik
7. Körperleibvariationen
8. Der Unternehmerführer

Die doppelte Negation, mit der nach Luhmann Systeme die Komplexität ihrer Umwelt so reduzieren, daß diese Komplexität erhalten bleibt, also nur auf Vorbehalt reduziert wird, bildet nicht nur eine Reminiszenz an den zwischen Vorder- und Hintergründen differenzierenden Gestaltcharakter der menschlichen Wahrnehmung. (Vgl. hierzu meinen Post vom 24.04.2013) Darüber hinaus bildet die doppelte Negation eine Homöostasefunktion: die Reduktion der Umweltkomplexität setzt sich nicht bis zum Grenzwert Null fort, sondern sie wird in Form einer negativen Rückkopplung (doppelte Negation) auf einem systemverträglichen Niveau stabilisiert.

Das Gestell ist aber aus dem Gleichgewicht geraten. In ihm ist der Mensch mit sich selbst kurzgeschlossen. Der Mensch ist nicht mehr Teil eines durch die Natur regulierten ökologischen Gleichgewichts. Das Gestell bildet einen „Handlungskreis“, in dem „die Rückmeldung des Erfolgs mit der Selbststimulation zur Fortsetzung der Handlung“ verknüpft ist: „Der Mensch ist also mit sich selbst über das Ergebnis seines Handelns rückgekoppelt.“ (Bolz 2012, S.32) – Wir können „den Menschen als ein kybernetisches System begreifen, das auf seine eigene Technik reagiert.“ (Ebenda)

War der Mensch der ‚Natur‘, um mit Rousseau zu sprechen, noch von ‚natürlichen‘ Bedürfnissen bestimmt, unter denen als erstes und drängendstes Bedürfnis Rousseau den Überlebenswillen ausgemacht hatte, so hat Bolz zufolge die Technik des Gestells „nichts mit Bedürfnisbefriedigung zu tun“. (Vgl. Bolz 2012, S.32) Der Mensch ist in eine „Koevolution“ „mit seiner eigenen Technik“ eingetreten (vgl. ebenda), und ‚Koevolution‘ meint letztlich nichts anderes als „positives Feedback“, und zwar „zwischen Technik, Wissenschaft und Industrie“. (Vgl. Bolz 2012, S.35; vgl. auch S.75)

Der stabilisierende Effekt der Luhmannschen doppelten Negation ist also außer Kraft gesetzt. An ihre Stelle tritt die positive Rückkopplung, die, wie man weiß, immer instabil und damit katastrophenträchtig ist. Auch das Wachstumsmodell des globalisierten Kapitalismus bildet so eine positive Rückkopplung und ist deshalb so krisenanfällig, mit Tendenz zu einer immer näher rückenden, allen zyklischen Krisen ein Ende setzenden großen Katastrophe.

Damit ist klar, daß der ins Gestell exteriorisierte ‚Vollzug‘, von dem in meinem Post vom 23.04.2013 die Rede gewesen war, die Struktur einer positiven Rückkopplung hat. Ursprünglich ist der Mensch mit seinen Lebens- und Bewußtseinsvollzügen Teil einer Pyramide des Lebens. (Vgl.u.a. meine Posts vom 01.06.201130.01.2012 und vom 08.03.2012) Die anachronistische Struktur seiner Befindlichkeit, die sich daraus ergibt, pendelt sich in der Ontogenese auf eine individuelle Lebensführung ein: der Mensch gibt seinem Leben Sinn.

Aber aufgrund der zunehmenden technischen Verfügbarkeit der verschiedenen Aspekte der aus drei Entwicklungsebenen zusammengesetzten Pyramide werden die unterschiedlichen, sich wechselseitig begrenzenden Kräfte dieser anachronistischen Struktur funktionalisiert und verlieren so ihre sich selbst begrenzende Dynamik. Positive Rückkopplung und permanente Selbstbedrohung durch Auslöschung der Menschheit ist also das Ergebnis der Exteriorisierung von Lebensvollzügen. Und ich hatte in meiner Naivität das Schlimmste nur darin gesehen, daß wir mit den Computern aufhören könnten, selber zu denken.

Aber Norbert Bolz gibt Entwarnung und beruhigt seine Leser. Sie sollten sich nicht in einen „Bürgerkrieg zwischen Machern und Mahnern“ (Bolz 2012, S.51) hineintreiben lassen. Die Deutschen bilden Bolz zufolge „weltweit die Avantgarde der Angst“, worin sie von einer „medialen Angstindustrie“ bestärkt werden. (Vgl. Bolz 2012, S.53) Im Farbenspektrum der Parteien macht Bolz insbesondere die ‚grünen‘ Apokalyptiker verantwortlich für anscheinend unberechtigte Hinweise auf die „Grenzen des Wachstums“. (Vgl. Bolz 2012, S.92)

Aber könnte es nicht sein, daß gerade die „German Angst“ ein notwendiges negatives Moment in die globale positive Rückkopplung von Technik, Wissenschaft und Industrie hineinbringt, das deren sich exponentiell beschleunigende Tendenz, die natürlichen Ressourcen und die Artendiversität auf diesem Planeten auf Null zu reduzieren, in einer nunmehr nachhaltigen Gegenkopplung auffängt und stabilisiert? Daß nach neuesten statistischen Zahlen 60 % der Deutschen meinen, daß die Energiewende zu langsam voranschreitet, und viele damit beginnen, im eigenen Haus die Energiewende auf eigene Kosten umzusetzen, ist – jenseits des von Bolz ausgemalten Bürgerkriegsszenarios – vielleicht letztlich doch ein positives Zeichen.

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