„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 26. April 2013

Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012

1. Elliptische Argumentation
2. Blumann und Luhmenberg
3. Konvergenz statt Interdisziplinarität
4. Benutzerillusionen
5. Rückkopplung: positiv?
6. Gesellige Technik
7. Körperleibvariationen
8. Der Unternehmerführer

Auch wenn Norbert Bolz das Gestell als eine „bewusstlose Sinnstruktur“ kennzeichnet (Bolz 2012, S.100) – eine Begriffszusammenstellung, die man nur als Oxymoron bezeichnen kann –, so verweisen doch andere Begriffe wie „unsichtbare Maschine“ (Bolz 2012, S.43) oder „Benutzerillusion“ (Bolz 2012, S.100) auf den lebensweltlichen Charakter des Gestells und damit auf seine Bewußtseinsbezogenheit: „Benutzerfreundlichkeit ist die Rhetorik der Technik. Sie verschafft uns heute die Benutzerillusion der Welt.“ (Bolz 2012, S.100) – Es ist gerade die Unauffälligkeit, mit der die Geräte funktionieren, die Reduktion komplexer Handlungsfolgen auf einen einfachen „Knopfdruck“ (vgl. Bolz 2012, S.43), die vergessen macht, daß wir es mit einer künstlichen und nicht mit einer natürlichen Umwelt zu tun haben.

Überhaupt verbirgt die Benutzerillusion, daß in der technischen Lebenswelt die ‚Lebenswelt‘ zur ‚Umwelt‘ geworden ist, die nicht mehr durch Kommunikation, sondern durch Information gesteuert wird: „Eine Welt ist diejenige Realität, in der man sich umsieht, ehe man sich verhält; eine Umwelt diejenige, in der man sich verhält, ohne sich umsehen zu müssen, weil sie ständig die bestimmtesten Informationen für die Regelung des Verhaltens gibt.“ (Vgl. Blumenberg:  „Theorie der Lebenswelt“ (2010), S.66)

Außerdem verbirgt uns die Benutzerillusion, daß wir diese so leicht bedienbare Technik nicht mehr verstehen und schon gar nicht mehr kontrollieren können. An der Grenze zwischen Kontrollierbarem und Nicht-Kontrollierbaren haben wir Interfaces installiert, die eine weitere Grenze markieren, – die Grenze zwischen zwei ‚Umwelten‘, dem „psychischen System“ und dem technischem System: „Jedes Interface ist eine Zwei-Seiten-Oberfläche, die zwei Black-Boxes gleichzeitig verbirgt: das psychische System und die komplizierte Technik.“ (Bolz 2012, S.99) – Bolz bestimmt deshalb Technik als „Grenze“ (Bolz 2012, S.48)

Der Benutzerillusion entspricht die Konstruktion berechenbarer – ‚rechnen‘ ist längst bedeutungsgleich mit ‚simulieren‘ – virtueller Realitäten, die an die Stelle der überkomplexen Realität treten: „Computer und Kybernetik waren die Antwort auf die Kontrollkrise, die von der industriellen Revolution ausgelöst wurde. ... Das Problem heißt Komplexität. Und wir können das Problem der Komplexität offenbar nicht mehr durch Bildung bewältigen.“ (Bolz 2012, S.112)

War in der Aufklärung des 18. Jahrhuderts ‚Bildung‘ noch die Antwort auf die technischen Herausforderungen der modernen Welt, so tritt heute an ihre Stelle die ‚Simulation‘, die Kontrolle der virtuellen Realität, die aber – genau darüber täuscht ja die Benutzerillusion hinweg – nur ein Moment der wiederum unkontrollierbar gewordenen technischen Evolution ist: „So stellt sich die Frage, ob man den Einsatz von Technik überhaupt technisch regulieren kann. Ist Technik technisch möglich? Das sind Fragen nach einer Form, die bestimmte Kausalitäten verdrängt, die dann als Folgelasten wiederkehren. Doch wie anders wären diese abzuarbeiten als wiederum technisch? So wird die Technik von ihren eigenen Folgeproblemen weiter angetrieben.“ (Bolz 2012, S.50)

Wenn die EU bereit ist, eine Milliarde Euro für ein „Human Brain Project“ auszugeben, in dem Supercomputer der neuesten Generation die Arbeit des Gehirns simulieren sollen, so steckt darin genau dieser Verkennungszusammenhang, in dem Simulieren mit Denken gleichgesetzt wird. Diese ‚Gedankenlosigkeit‘ geht auf eine weit vor den aktuellen Computern zurückreichende Entwicklung zurück, in der einerseits Computer von Anfang an als von der materiellen Substanz unabhängige Universalmaschinen konzipiert worden waren (vgl. Bolz 2012, S.79) und in der andererseits die Schulbildung, orientiert am naturwissenschaftlichen Ideal einer mathematischen Formalisierung von Naturprozessen, zahllose Schülergenerationen daran gewöhnt hatte, daß es reicht, mathematische Formeln auswendig zu lernen, ohne sie verstehen zu müssen (vgl. Bolz 2012, S.68): „... dass Maschinen denken können und dass das, was wir in der Moderne Denken nannten, gar kein Denken war, sind zwei komplementäre Formulierungen desselben Sachverhalts.“ (Bolz 2012, S.86) – In der Tradition dieser Schulbildung bildet die Universalmaschine das „Extrem der Disziplinierung“. (Vgl. Bolz 2012, S.82)

Letztlich haben wir es hier aber vor allem mit einer Reduktionsillusion zu tun. Wenn die „Grundbausteine unserer Welt“ aus Bits, Atomen, Neuronen und Genen bestehen (vgl. Bolz 2012, S.90), so kann man eben auch Bewußtseinsprozesse mit Schaltungen in Supercomputern simulieren, zumal es ja im konstruktivistischen Wissenschaftskonzept aufs Verstehen nicht mehr ankommt (vgl. Bolz 2012, S.46, 58, 84, 73, 100): „Eine Maschine muss nicht denken und verstehen, wenn sie sich nur im Turing-Test bewährt.“ (Bolz 2012, S.84)

Darauf wird es wohl auch beim Human Brain Project hinauslaufen: Es wird eine Maschine konstruiert werden, deren denkähnliche Simulationsprozesse wir genauso wenig verstehen werden wie das Bewußtsein, das sie simuliert.

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