„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 31. März 2013

Hanno Charisius/Richard Friebe/Sascha Karberg, Biohacking. Gentechnik aus der Garage, München 2013

1. Faustkeil = Hammer = Atomkraftwerk?
2. Hinzukommendes Selbst oder Zugang zum Selbst?
3. Keine ‚Zurück‘-Taste
4. Bürgerwissenschaft

Es gibt Stellen in „Biohacking“, die hinsichtlich der Naivität der DIY-Bio-Aktivisten bezeichnend sind, weil sie für eine weitverbreitete Naivität in unserer wissenschaftlichen Lebenswelt stehen, also Amateure und Wissenschaftler gleichermaßen betrifft. So heißt es z.B. von einer Aktivistin: „Swan erinnert sich, wie aufgeregt sie war, als sie das erste Mal ihre eigenen Gene ausbuchstabiert vor sich sah, ‚all die As, Cs, Gs und Ts zu sehen, die mich zu dem machen, was ich bin‘.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.166) – Auch die Autoren selbst berichten davon, wie sich ihnen die „Härchen an den Unterarmen“ aufrichteten, als sich in der Lösung in ihren Schnapsbecherchen „weiße Fäden“ nach oben schlängelten. (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.25)

Die Naivität, von der ich hier spreche, besteht in der Gedankenlosigkeit, mit der sowohl Genetiker wie auch Neurophysiologen ihren Gegenstand, die Gene die einen, das Gehirn die anderen, mit dem Selbst des jeweiligen Menschen, zu denen diese Gene bzw. das Gehirn gehören, gleichsetzen. Als wäre es also nicht schon bemerkenswert genug, daß sich die DIY-Bio-Aktivisten mit den „Bausteinen“ des Lebens befassen (vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.74), sollen diese Bausteine auch noch die Quintessenz unserer Identität bilden. Wäre es tatsächlich so, könnte man tatsächlich demnächst statt Psychotherapie Gentherapie betreiben. Und jeder Hobby-Biotechniker hätte den persönlichen Zugang (Access) zu sich ‚selbst‘ in der Hand, was dem Recht auf „informationelle Selbst-Bestimmung“ eine ganz neue Bedeutung geben würde:
„‚Access‘, also ‚Zugang‘ ist das Schlagwort, das zahlreiche Initiativen vereint – von der Gemeinde der Computerhacker über die Linux-Community und Internet-Tauschbörsen bis hin zur Bewegung, die wissenschaftliche Veröffentlichungen zunehmend kostenfrei über das Web zugänglich macht. Im Fall des Genoms bekommt diese Diskussion über ‚Zugang‘ eine neue Dimension. Denn sie wird erstmals nicht mehr von Personen oder Gruppen geführt, die ihre Forderung nach Zugang an andere richten. Sie wendet sich vielmehr dem Individuum, dem Selbst zu.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.166)
Der ‚Zugang‘ zum Selbst beinhaltet also im Vergleich mit den bisherigen Initiativen zur Verteidigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung einen „qualitativen Unterschied“: „Während andere Gründe haben mögen, Zugang zu dem, was sie als ihr materielles oder geistiges Eigentum sehen, zu verweigern, ist es schwer zu begründen, jemandem den Zugang zu seinem molekularen Ich zu verstellen.“ (Ebenda) – Die Ingenieursperspektive richtet sich damit nicht nur auf das Leben, sondern auch auf die Psyche des Menschen.

Synthetische Biologie und synthetische Psychotherapie gehen Hand in Hand. Der Reduktionismus steckt dabei schon im Begriff des „Minimalgenoms“, dem Craig Venter auf der Spur ist, also die Vorstellung, das Leben auf seine „Essenz“ von nur noch 46 Genen zurückführen zu können. (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.72) Dieses Minimalgenom kann dann als Grundlage für die Zwecke der synthetischen Biologie dienen: je nach dem, was die minimalgenomreduzierten Mikroben können sollen – Arzneimittel oder Biotreibstoff produzieren –, brauchen ihnen nur noch die dazu nötigen Gene hinzugefügt zu werden.

Allerdings ist dieser Ansatz zu minimalistisch, um für solche biotechnologischen Zwecke wirklich brauchbar zu sein. Ein biologisches System braucht „Redundanzen“, um modulierbar, sprich für unsere Zwecke steuerbar zu bleiben: „Und Module einzubauen und auszutauschen und miteinander zu synchronisieren – auf eine Weise, dass Zellen oder Lösungen voller biologischer Moleküle das machen, was der Ingenieur will –, ist das erklärte Ziel.“ (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.73)

Aus Ingenieursperspektive kann es also nicht funktionieren, einzelne Gene auszutauschen, weil die Gene miteinander ‚kommunizieren‘! Wer synthetische Biologie betreiben will, „muss meist nicht nur ein Gen, sondern gleich mehrere miteinander kommunizierende Gene zwischen Organismen transferieren“. Und die Autoren fügen hinzu: „In unserer fast dreijährigen Recherche haben wir keinen Biohacker getroffen, von dem wir hätten sagten können, dass er bereits synthetische Biologie betreibt.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.77)

Daß die Gene miteinander kommunizieren, macht sie offensichtlich schwer beherrschbar. Die Einflußfaktoren bei einem Gentransfer sind für einen Laien kaum überschaubar. Was ist in den Wechselwirkungen redundant und was ist kausal? Diese Frage ist offensichtlich in der Komplexität des Lebens nicht leicht zu beantworten. Noch komplexer wird das Ganze, wenn wir berücksichtigen, daß auch der sogenannte Phänotyp einen Einfluß darauf hat, was in den Genen passiert. Es gibt nicht nur „Positionseffekte“ im Genom selbst. (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.76)

Das alles erinnert sehr an die Rekursivität, wie ich sie in diesem Blog immer als Möglichkeitsbedingung des menschlichen Bewußtseins diskutiert habe. Es gibt aber nicht nur intrasubjektive und intersubjektive Rekursivität, und es gibt auch nicht nur die den Computerprogrammen zugrundeliegenden rekursiven Algorithmen, sondern es gibt eben offensichtlich auch die genetische Rekursivität mit ihren Positionseffekten. Wer also meint, bei all den „As, Cs, Gs und Ts“, mit denen er es bei einer Bestimmung seines Erbguts zu tun hat, habe er es zugleich mit sich selbst zu tun, hat nicht verstanden, daß dieses Selbst erst noch hinzukommen muß, und zwar als letzte Spitze eines komplexen, gleichermaßen biologischen wie kulturellen Entwicklungsprozesses.

So jedenfalls sieht es Antonio Damasio, der in seinem Buch „Self Comes to Mind“ (2010/11) diesen Prozeß des Hinzukommens immer neuer Qualitäten von der einzelnen Körperzelle bis zum entwickelten Selbstbewußtsein beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 15.08.2012) Die Rekursivität dieses Prozesses ist offensichtlich. Auf jeder Ebene stehen alle organischen und mentalen Prozesse in nicht reduzierbarer, rekursiver Wechselwirkung miteinander.

Die bei der Bestimmung des Erbgutes ausgelesenen Buchstabenfolgen bedeuten gar nichts. Ein Selbst ist in ihnen nicht vorhanden. Daß es ein Selbst ohne sie nicht gäbe, ist wieder eine andere Sache, ändert aber nichts am Sachverhalt: erst auf der Verhaltensebene, im individuellen Selbst- und Weltverhältnis, bildet sich ein menschliches Selbstbewußtsein aus.

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Samstag, 30. März 2013

Hanno Charisius/Richard Friebe/Sascha Karberg, Biohacking. Gentechnik aus der Garage, München 2013

1. Faustkeil = Hammer = Atomkraftwerk?
2. Hinzukommendes Selbst oder Zugang zum Selbst?
3. Keine ‚Zurück‘-Taste
4. Bürgerwissenschaft

Mit großem Interesse habe ich das von Hanno Charisius, Richard Friebe und Sascha Karberg geschriebene Buch „Biohacking“ (2013) über einen neuen kultur-technologischen Trend gelesen, der auf biotechnologischer Ebene zu wiederholen scheint, was schon einmal auf informationstechnologischer Ebene in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begonnen hatte: die subversive Aneignung eines von Wissenseliten in Anspruch genommenen Spezialwissens und dessen Transformation in eine Alltagstechnik für Jedermann.

Immer wieder taucht in dem Buch die zum Klischee gewordene „Garage“ auf, in der die damaligen Computerkids für das heutige Internet den Grundstein legten, und denen es die heutigen DIY-Bio-Aktivisten (Do-It-Yourself-Biologie) in ihren Garagen, Küchen, Dachböden und Abstellkammern gleichzutun scheinen. Dabei wird die Vergleichbarkeit zum einen an der Bedeutung des Wortes „Hacking“ festgemacht, bei dem es um das „Zweckentfremden von Technologien“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.68) geht. Die Autoren reihen dieses Hacking in eine lange Tradition des Selbermachens ein: „Kaum eine traditionelle Branche ist sowohl in Amerika als auch in Europa seit Mitte der 90er Jahre so gewachsen wie die der Bau- und Heimwerkermärkte. Selbermachen können ist inzwischen mindestens so angesehen wie sich Fertiges und Angefertigtes leisten können. In den USA hatte sich zudem früh eine spezielle Selbermach-Kultur entwickelt, die besonders durch die Möglichkeiten der Vernetzung im Internet Schwung aufnahm.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.29)

Zum anderen verweisen die Autoren darauf, daß wie in den Speicher- und Kommunikationstechnologien heute auch in der Biologie, insbesondere in der synthetischen Biologie, der Informationsbegriff im Zentrum steht: „Die entscheidenden Zutaten heißen Wissen, Information, Code. Und darin liegt auch die unwiderlegbare Parallele zur Computertechnologie.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.12f.) – Insofern besteht der einzige, scheinbar nebensächliche Unterschied zwischen den Computerkids der siebziger Jahre und den heutigen DIY-Bio-Aktivisten, daß sich letztere nicht mit Platinen und Software-Schnipseln befassen, sondern mit den Bausteinen des Lebens.

In diesem Zusammenhang fällt eine Aussage der Autoren zur Qualifizierung von Technologien besonders auf: „Technologie allerdings ist neutral, sie tut nichts Gutes und nichts Schlechtes.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.248) – Ist das wirklich so? Wird hier nicht jede Technik auf eine gleiche Ebene gestellt und damit allzu sehr simplifiziert, nach dem Motto: Faustkeil = Hammer = Atomkraft? Ist es wirklich so, daß die Technik des Atome Spaltens sowohl zu Atombomben wie auch zu Atomkraftwerken führen kann und nur der Mensch es ist, der entscheidet, ob er sie im ‚guten‘ oder im ‚schlechten‘ Sinne verwendet?

Günther Anders hat schon früh Zweifel daran angemeldet, daß die Technik des Atome Spaltens in diesem Sinne wertneutral sein könne. (Vgl. meinen Post vom 26.01.2011) Schon die Fähigkeit dazu überschreitet die moralische Kraft des Menschen und korrumpiert ihn im Innersten. Vollends hat die Atombombe – also die ‚schlechte‘ Alternative zu den Atomkraftwerken – jede weitere Technologieentwicklung, so Günther Anders, unter Korruptionsverdacht gestellt.

Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, daß die Technik inzwischen so sehr zum Bestandteil der menschlichen Lebenswelt geworden ist, daß sie unsichtbar geworden ist. (Vgl. meinen Post vom 07.08.2010) Diese lebensweltliche ‚Unsichtbarkeit‘ bedeutet ein weiteres Problem hinsichtlich ihrer Beherrschbarkeit bzw. Kontrollierbarkeit. Was Teil der Lebenswelt geworden ist, ist ‚natürlich‘ geworden; d.h. es macht uns vergessen, daß wir es gemacht haben. Es scheint, um ein Lieblingswort der Kanzlerin zu verwenden, ‚alternativlos‘ geworden zu sein.

André Leroi-Gourhan verweist darauf, daß das Wesensmerkmal des Menschen nicht so sehr in seiner zerebralen, also letztlich informationstechnologisch beschreibbaren Intelligenz liegt, sondern vielmehr in einer Verbindung aus haptisch-visuellen und akustischen Sinnesleistungen. (Vgl. meinen Post vom 08.03.2013) Diese Sinnesleistungen sind in ein die Welt mit dem Selbst verbindendes Relationsfeld eingebunden. In diesem Relationsfeld aus Hand und Gesicht und Stimme und Gehör äußert sich die Intelligenz des Menschen vor allem über sein Verhalten. Die menschliche Intelligenz ist also hand- und umweltbezogen. Fällt die Hand aus diesem Selbst- und Weltverhältnis des Menschen weg, weil zunehmend Werkzeuge an ihre Stelle treten und der Mensch letztlich nur noch Knöpfe, Tastaturen und Touchscreens zu bedienen braucht, können wir dem Menschen, so Leroi-Gourhan, nicht länger die Gattungsbezeichnung ‚sapiens‘ zuordnen.

Das ist übrigens genau der Grund, warum Bau- und Heimwerkermärkte so einen großen Erfolg haben. Die Menschen wollen einfach wieder ihre Hände benutzen. Dieses Bedürfnis ist zutiefst im menschlichen Wesen begründet.

Technik ist also niemals neutral. Sie verändert das Verhalten des Menschen, und was das Verhalten des Menschen verändert, verändert den Menschen selbst. Wenn die Autoren also die „positive gesellschaftliche, individuelle Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten fördernde, Autoritäten kontrollierende, demokratisierende Kraft“ der „Computer- und Web-Technologie“ hervorheben (vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.13), so bewegen sie sich doch sehr an der Oberfläche einer technologischen Entwicklung, deren Ende wir noch gar nicht absehen können und für deren summarische Beurteilung es noch viel zu früh ist.

Man sollte zumindestens zwischen den Auswirkungen auf Erwachsene und Heranwachsende differenzieren. Während die biologische Entwicklung des Erwachsenen weitgehend abgeschlossen ist, befinden sich die Heranwachsenden entwicklungsbiologisch und entwicklungspsychologisch in einer äußerst prekären Situation. Vieles spricht dafür, daß die Heranwachsenden in ihrer Kindheit und Jugend die Basis für ein gesundes und erfüllendes Erwachsenenleben legen, bis ins Alter hinein. Ob die „Computer- und Web-Technologie“ dafür eine „hinreichend qualifizierte sapiens-Situation“ bietet, wie sich Leroi-Gourhan ausdrückt, darf bezweifelt werden.

Auch die DIY-Bio-Bewegung wendet sich nicht einfach einer wertneutralen Technologie zu. Wenn ich mir zeitweise beim Lesen des Buches und der darin beschriebenen Motive von DIY-Bio-Aktivisten selbst wie eine Art Hacker vorkam, der auf seiner Ebene, dem Lesen und Besprechen von Büchern, also des Aneignens und Zweckentfremdens von freiverfügbarem Gedankengut, Wissen zum eigenen Weiterdenken für alle zugänglich macht, so ist der Unterschied zwischen Gedanken-Hacken und Biohacking letztlich doch offensichtlich. Zum selbständigen Denken gibt es keinen „Dual Use“. (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.103)

Ob jemand sein Denken so oder anders ‚verwendet‘, schadet niemandem. So wenig wie es irgendjemandem schadet, wenn Hobbybotaniker oder Hobbyastronomen mit ihrem Wissen nicht verantwortungsvoll umgehen. Für dieses Denken und Wissen ist jeder vor sich selbst verantwortlich und vor niemandem sonst. Wer sich aber mit den Bausteinen des Lebens befaßt, hat seinen Mitmenschen gegenüber eine ungeheure Verantwortung. Dabei stellt sich weniger die Frage nach dem ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Gebrauch der Biotechnologien, als vielmehr die Frage, die schon Günther Anders hinsichtlich der Atomspaltung gestellt hatte: sind wir dieser Verantwortung gewachsen?

Es kann hier nicht einfach nur darum gehen, daß ein neues Hobby wie DIY-Bio ‚Spaß‘ macht und daß die Leute, als freie Bürger, wie die Autoren schreiben, ein Recht auf diesen Spaß haben, weil sie „nichts anderes tun, als sich etwas anzueignen, was ihnen ohnehin gehört: eine Technologie, deren Entwicklung sie als Steuerzahler weitgehend mitfinanziert haben.“ (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.210)

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Sonntag, 24. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

7.    Nachtrag: Stillstand und Bewegung

In diesem Blog war schon vom Unterschied zwischen Künsten und Medien die Rede gewesen. Friedrich Kittler hatte zwischen Standards und Stilen differenziert und damit einen prinzipiellen Unterschied zwischen beiden postuliert. Wo Kunststile vor allem die Individualität des Menschen zum Ausdruck bringen, zielen Medienstandards darauf, die Sinnesfunktionen nachzuahmen und den Menschen so über die Realität zu täuschen. (Vgl. meinen Post vom 30.04.2012)

Etwas ganz Ähnliches kann man bei Leroi-Gourhan lesen. Leroi-Gourhan spricht von einer „funktionellen Approximation“, in der das „Bild“ dazu tendiert, mit der „Realität“ möglichst vollständig übereinzustimmen. Der „ideale() Punkt“ ist dort erreicht, wo sich das Kunstwerk „nicht mehr vom Modell unterscheidet“.  (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.468)

Aber es ist nicht nur diese Ähnlichkeit zu den Kittlerschen Medienanalysen, die mich veranlaßt, einen Nachtrag zu meinen Kommentaren zu Leroi-Gourhan zu schreiben. Für sich genommen würde diese scheinbare Parallele zwischen Leroi-Gourhan und Kittler auch nicht so sehr auf eine Differenz als vielmehr auf eine Gleichartigkeit von Medien (Technik) und Künsten hinauslaufen: nämlich auf die gemeinsame Tendenz in Richtung auf einen immer größeren Realismus in der Abbildung von Realität auf der einen Seite und in Richtung auf eine immer größere Realitätsbeherrschung auf der anderen Seite. Die eigentliche Differenz zwischen Medien und Künsten stellt Leroi-Gourhan tatsächlich etwas anders dar als Kittler.

Zunächst einmal bleibt festzuhalten, daß Leroi-Gourhan die Menschheitsentwicklung als einen fortlaufenden Prozeß der Exteriorisierung von Fähigkeiten beschreibt, die wir – anders als die Tiere – nicht in körperlichen Organen ‚einverleiben‘, so daß zum Beispiel aus fünf Fingern am Ende ein Huf wird, wie beim Pferd. Statt ihre Hand in einen Hammer oder in eine Schere zu verwandeln, erfinden die Menschen Faustkeile und Feuersteinmesser. Die Exteriorisierung von Fähigkeiten trägt also dazu bei, daß der Mensch „durch die Vermeidung jeder Überspezialisierung seiner Organe“ (Leroi-Gourhan 1980, S.332) offen bleibt für weitere Entwicklungen.

Die ganze Technikgeschichte stellt also einen fortlaufenden Prozeß der Exteriorisierung und Differenzierung von immer neuen Fähigkeiten dar. Werkzeuge und Medien – ‚Medium‘ ist nur ein anderes Wort für ‚Werkzeug‘ – treten an die Stelle der köperlichen Organe und ersetzen sie im zunehmenden Maße. Ersetzen Hämmer und Zangen die menschliche Hand und Messer die menschlichen Zähne, so ersetzen ‚Medien‘ im Kittlerschen Sinne die Sinnesorgane. Kittler zitiert z.B. ein Wort von Edgar Morin, demzufolge die Kinoleinwand eine „nach außen gestülpte Netzhaut“ bildet. (Vgl. Kittler 1986, S.186; vgl. auch meinen Post vom 09.04.2012)

Die Fortschrittsgeschichte der menschlichen Techniken und Medien ist dabei eine materialgebundene, was sich auch in der Benennung der frühen Zeitalter widerspiegelt: Stein-Zeit, Bronze- bzw. Kupfer-Zeit, Eisen-Zeit. Geht es zunächst nur um das Material für Werkzeuge als Ersatz für menschliche Organe, so geht es im weiteren Verlauf der Menschheitsentwicklung um die Exteriorisierung von motorischen Fähigkeiten, also um Energie und Bewegung, wobei zunächst auch hier wieder vor allem die Materialien im Vordergrund stehen: Tiere und Maschinen als Ersatz für menschliche Muskelkraft und Wasser, Wind, Kohle, Öl, Elektrizität etc. als Antriebsenergien.

Einen weiteren riesigen Schritt vorwärts in der Technikentwicklung bildet die Exteriorisierung des Gehirns mit Hilfe der Informationstechnologien. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.311, 331f.) Angemerkt sei hier, daß der von Leroi-Gourhan beschriebene Vorgang der Exteriorisierung seine Möglichkeitsbedingung in der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität des Menschen hat. Stünde der Mensch nicht schon sich selbst gegenüber, als einem für sich selbst Äußeren, also als bloßem Objekt in der Welt, so könnte er auch nicht einzelne Organe und Fähigkeiten in Form von Techniken exteriorisieren.

Diese ganze Fortschrittsgeschichte ist also eine materialgebundene Fortschrittsgeschichte. Mit der Entdeckung und Entwicklung von immer neuen Materialen waren immer auch Quantensprünge in der Technikentwicklung verbunden. Die Technik eröffnet hier die Perspektive einer unendlichen, linearen Fortschrittsgeschichte der zunehmenden Perfektion, so daß dem Menschen die inhumane Perspektive einer biologischen Perfektionierung, wie sie Leroi-Gourhan am Beispiel von Ameisengesellschaften und Bienenvölkern beschreibt, bislang erspart geblieben ist.

Allerdings deutet sich hier schon ein Unbehagen an: denn, so Leroi-Gourhan, „(w)ir müssen uns wirklich fragen, ob die Menschheit völlig jener Gefahr entgangen ist ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.442; vgl. auch S.428f.) Zwar hat es die technische Exteriorisierung von Fähigkeiten dem Menschen ermöglicht, sich die Freiheit einer individuellen, nicht auf bestimmte Funktionen festgelegten Ontogenese zu bewahren, aber es scheint so zu sein, „daß die Freiheit des Individuums nur eine Etappe darstellt, und die Domestikation von Zeit und Raum letztlich zu einer vollkommenen Unterwerfung sämtlicher Teile des supra-individuellen Organismus führen wird.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.429)

Im weiteren Verlauf dieser Technikgeschichte droht der Mensch letztlich doch noch zu einer „spezialisierten Zelle“ in einem „sozialen Organismus“ zu werden: „Die beständige Suche nach stärkeren und präziseren Mitteln mußte notwendig zum biologischen Paradoxon des Roboters führen, der die menschliche Phantasie angesichts der Automaten schon seit Jahrhunderten beflügelt.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.310) – Das Idealbild dieser technologischen Entwicklung ist nicht mehr der Mensch, etwa im „spirituelle(n) Bild des Engels oder des glorreich verklärten Körpers“ sondern das „mechanische Ebenbild des Anthropoiden“. (Vgl. ebenda)

Dieser Entwicklungslogik von Techniken und Medien steht nun die Entwicklungslogik der Künste gegenüber. Anders als die lineare, approximativ unendliche, in der Abschaffung des Menschen gipfelnde Technikgeschichte ist die Entwicklungslogik der Künste zyklisch und endlich. Die Kunst richtet sich nicht auf die Beherrschung der Natur, sondern auf die „Wahrnehmung von Rhythmen und Werten.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.449) Das beinhaltet zunächst, daß ihre Entwicklung weniger einen Prozeß der Konstruktion darstellt, als vielmehr einen „Reifungsprozeß“ (Leroi-Gourhan 1980, S.468), der einen Anfang und ein Ende hat, an den sich ein neuer Zyklus des Reifungsprozesses anschließt. (Vgl. ebenda)

Die zyklische Entwicklungslogik der Kunst wird durch die Entwicklung neuer Materialen allenfalls etwas verlängert, bleibt aber letztlich von diesen Materialien selbst unabhängig, weil die dem Menschen von Natur aus zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel wie Ocker oder Mangan für die Farben und Haare für der Herstellung von Pinseln von Anfang an zur Verfügung standen und seine Werke deshalb „hinsichtlich der Ausdrucksmittel nicht hinter dem heutigen Menschen zurückstehen.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.456) Deshalb bezeichnet Leroi-Gourhan die Kunst als „ein besseres Maß für die Menschheit als die Technik“. (Vgl. ebenda)

An dieser Stelle bleibt uns Leroi-Gourhan aber eine weitere notwendige Differenzierung schuldig. Es ist nicht einzusehen, warum ein Faustkeil, technisch gesehen, weniger perfekt sein sollte als eine Schreibmaschine oder ein Computermonitor. Die Intelligenz des Menschen kommt – unabhängig vom Material – im Faustkeil genauso vollständig zum Ausdruck, wie in einem Ornament oder in der Nachbildung von Bisons und Pferden.

Der eigentliche Unterschied wird von Leroi-Gourhan angedeutet, wenn er von „Ausdrucksmitteln“ spricht. Technische Mittel richten sich auf die Beherrschung der Natur. Ausdrucksmittel richten sich aber auf die expressive Natur des Menschen selbst. Und diese hat sich tatsächlich vom Beginn der Menschheit an bis heute nicht verändert. Die expressive Natur des Menschen, sein ständiger Versuch, vor sich selbst verständlich zu werden, ist von den verwendeten Materialen letztlich unabhängig, und sie entwickelt sich nicht mit der Entwicklung neuer Materialien unendlich weiter. Die „Kunst kann sich lange Zeit im Kreise drehen“, schreibt Leroi-Gourhan. (Leroi-Gourhan 1980, S.461) Die Kunst gehört zu der „frühesten Entwicklung von homo sapiens“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.448) und ist als „figurative(s) Verhalten“ „derart tief mit der Qualität des Menschen verbunden, daß man es nur schwer einer systematischen Betrachtung unterziehen kann, ohne seine Realität zu verflüchtigen“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.438).

Was Leroi-Gourhan hier beschreibt, entspricht der expressiven Ambivalenz der Seele, wie sie Plessner auf den Punkt gebracht hat: die Seele entzieht sich ihrem Ausdruck, je mehr wir versuchen, sie präzisierend zu erfassen. Sie will sich, so Plessner, nicht ‚berühren‘ lassen. (Vgl. meinen Post vom 14.11.2010) Leroi-Gourhan selbst beschreibt diese Ambivalenz, der die Kunst dient, als das jedem Entwicklungszyklus der Kunst inhärente Ende: „Mit Ausnahme der Meisterwerke wird der Gewinn an Präzision durch eine Erstarrung der in den Werken mitgeteilten Eindrücke erkauft, die Geschicklichkeit erhält wachsende Bedeutung, und in einem irreversiblen Prozeß wird die Kunst zunehmend akademisch und fade.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.468)

Zwar ist diese Stelle auf das Verhältnis von Bild und Realität bezogen, in der das Bild in seiner Abbildfunktion technisch immer perfekter wird. Aber die von Leroi-Gourhan empfundene Fadheit solcher im technischen Sinne ‚präzisen‘ Kunst bezieht sich doch vor allem auf das Fehlen jeglichen seelischen Ausdrucks.

Die paläolithische Kunst bildet für Leroi-Gourhan ein perfektes, gut dokumentiertes Stadium der Menschheitsentwicklung, um die zyklische Entwicklungslogik der Kunst quasi unter Laborbedingungen zu studieren: „Die Entwicklung des Realismus in der paläolithischen Kunst zeigt – buchstäblich im Zeitlupentempo und unter idealen Bedingungen, denn die kulturellen Interferenzen sind schwach oder gar nicht vorhanden –, daß die bildliche Darstellung einem Reifungsprozeß unterliegt, dessen Etappen an ein der technischen Erfindung ähnliches Phänomen gebunden sind; die Kumulation graphischer oder plastischer Innovationen ist auf eine immer engere Annäherung an die exakte physische Darstellung ausgerichtet.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.468)

Das „Zeitlupentempo“ bezieht sich auf die Jahrzehntausende, über die sich der Entwicklungszyklus der paläolithischen Kunst erstreckt, während ‚moderne‘ Kunstzyklen sich nur über wenige Jahrzehnte oder sogar Jahre erstrecken. Und die „idealen Bedingungen“, also die Laborbedingungen, beziehen sich auf die wechselseitige Isolation der wenigen, weitverstreuten Menschengruppen, so daß die im eurasischen Raum verteilten Fundorte von Skulpturen und Felsmalerien mehr Rückschlüsse auf das allgemeine Wesen des Menschen ermöglichen, als wenn diese Menschengruppen damals schon in einem der modernen Infrastruktur gleichenden täglichen und stündlichen Informationsaustausch gestanden hätten.

Jeder Entwicklungszyklus der Kunst endet also im Realismus, von dem aus als Umschlagspunkt dann „andere Künste“ zu „neuen Zyklen“ aufbrechen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.468) Der Anfangspunkt der Kunst, und das läßt sich eben gerade in der paläolithischen Kunst so schön beobachten, liegt im Abstrakten und Symbolischen. Abstrakt und symbolisch sind die regelmäßigen in Knochen eingeritzten Rillen und die seltsamen Formen von Materialien (Muscheln, Steine etc.), die die Menschen zu Beginn der Menschheitsentwicklung sammelten und die ihr Interesse an Formen und Rhythmen zum Ausdruck bringen: „Die präfigurative Periode umfaßt die ersten Manifestationen: die Sammlung von Kuriositäten, gravierte parallele Striche, Reihen von Vertiefungen und die vielfältige Verwendung von Farbstoffen freilich ohne Bildzeugnisse. ... Die rhythmischen Markierungen gehen den eigentlichen Figuren voraus, aber die Figuren integrieren sich durch Addition, so als handelte es sich um einen einzigen fortschreitenden Kontext, der sich in den visuellen Symbolen explizierte. ... Wir können die ersten bekannten Manifestationen der Kunst nur ‚primitiv‘ nennen. Die primitive Kunst beginnt also im Abstrakten, ja sogar noch im Präfigurativen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.456ff.)

Die weitere Entwicklung führt von diesen gleichzeitig abstrakten wie symbolischen Reminiszenzen an „Rhythmen und Werte()“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.449), in denen „expressive Details“ wie Phallus, Vulva und Kopf – pars pro toto – für ein Ganzes stehen (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.458), zu einer immer realistischeren Darstellung der Objekte. So beginnt die paläolithische Kunst bei einem abstrakten „Nullpunkt der Bilder, die sich als abstrakte Ansammlungen präsentieren, und entwickelt sich individuell hin zum photographischen Realismus, ohne daß die Komposition mehr als Konsistenz in den Figuren erreichte. Das folgende Stadium, in dem die Komposition ein narratives Gerüst erhält, beginnt erst zu dem Zeitpunkt, da die paläolithische Kunst verschwindet.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.477f.)

Diese Schlußbemerkung ist noch einmal besonders interessant, weil sie auf einen seltsamen Aspekt der paläolithischen Kunst verweist, den Schrott/Jacobs als ein spezielles, poetologisches Merkmal von Gedichten beschreiben: die Zeitlosigkeit bzw. den Stillstand oder den Mangel an Bewegung. (Vgl. meinen Post vom 25.07.2011) Die paläolithische Kunst stellt nur Konfigurationen zusammen; sie erzählt keine Geschichten, in denen etwas passiert. Das ist gemeint, wenn Leroi-Gourhan vom fehlenden „narrativen Gerüst“ spricht. Insofern habe ich in meinem ersten Post zu Leroi-Gourhan vom 01.03.2013 einen Fehler gemacht, als ich von den „narrativen Techniken“ gesprochen habe, die ganz am Anfang der menschlichen Sprach- und Kulturentwicklung gestanden hätten.

Ich hatte das Narrative an den von Leroi-Gourhan beschriebenen Figurengruppen auf die dreidimensionale Darstellungsform bezogen, die es ermöglicht, verschiedene Ausdrucksebenen ‚rekursiv‘ aufeinander zu beziehen. Rekursivität gehört für mich zur Narrativität, weil die erzählerischen Darstellungsmittel die Fähigkeit des Menschen unterstützen, sich einen komplexen Sinnkontext auf individuelle Weise anzueignen. Dabei habe ich den Unterschied zwischen Stillstand und Bewegung bislang immer vernachlässigt und bin nur an der Stelle darauf eingegangen, wo es darum ging, zwischen Mathematik und Kommunikation zu unterscheiden. Dort hatte ich dann die Informationstechnologien, die mathematische Algorithmen in Form beweglicher Bilder auf Monitore übertragen, als narrative Mathematik bezeichnet, weil sie etwas eigentlich Zeitlosem und Statischem, eben mathematischen Formeln, ‚Zeit‘ bzw. ‚Bewegung‘ hinzufügen. (Vgl. meinen Post vom 31.08.2011)

Im Rahmen dieses Blogs werde ich deshalb weiterhin den Begriff der Narrativität verwenden, wenn es darum geht, sowohl Rekursivität wie auch zeitliche Dynamik als anthropologische Möglichkeitsbedingungen darzustellen.

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Freitag, 8. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf eine Stelle in Leroi-Gourhans Buch eingehen, deren Mutmaßungen über das Schicksal des Menschen an die Medienanalysen von Günther Anders und Friedrich Kittler erinnern. (Vgl. meine Posts vom 23.01. bis zum 29.01.2011 und vom 08.04. bis zum 03.05.2012) Nachdem Leroi-Gourhan den Verlust des Gleichgewichts zwischen Gesicht und Hand und seine kulturellen und neuro-psychischen Implikationen als eine Folge des Wechsels vom mehrdimensionalen zum eindimensionalen, alphabetischen Graphismus beschrieben hat (vgl. meinen Post vom 01.03.2013), wendet er sich den audiovisuellen Medien des 20. Jahrhunderts zu.

Zunächst hält Leroi-Gourhan fest, daß trotz der kulturellen Verarmung der linearen Schriftlichkeit gegenüber der mehrdimensionalen Bildersprache die Buchstabenschrift dem Individuum doch eine gewisse Freiheit, einen „Spielraum“ der Visualisierung und damit auch der Deutung des Geschriebenen läßt. Die Schrift beläßt dem lesenden Individuum den „Vorteil“ einer „Interpretationsanstrengung“. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.265) Mit den audiovisuellen Medien geht auch dieser Deutungsspielraum verloren:
„Der Stummfilm veränderte die herkömmlichen Bedingungen nicht merklich; der stumme Bildstreifen stützte sich auf unbestimmte, lautliche Ideogramme, die von einer Musikbegleitung geliefert wurden und den Spielraum zwischen dem vorgestellten Bild und dem Individuum bewahren. Die Bedingungen wandelten sich erst grundlegend mit dem Tonfilm und dem Fernsehen: sie mobilisieren gleichzeitig die visuelle Wahrnehmung der Bewegung und die akustische Wahrnehmung und erfordern die passive Beteiligung des gesamten Wahrnehmungsbereiches. Die Bandbreite individueller Interpretation findet sich hier in extremem Maße reduziert, weil das Symbol und sein Inhalt sich in einem Realismus verschmelzen, der auf höchste Perfektion zielt, und weil auf der anderen Seite die so geschaffene reale Situation dem Zuschauer keinerlei Möglichkeit eines aktiven Eingriffs beläßt. Diese Situation unterscheidet sich von der eines Neandertalers, weil sie vollkommen zwanghaft und passiv ist, und auch von der eines Lesers, weil sie ein totales, d.h. visuelles und auditives Erlebnis ist. Unter diesem doppelten Aspekt erscheinen die audiovisuellen Techniken als neue Stufe in der menschlichen Evolution, als eine Stufe, die den Kern des Menschen trifft, das reflektierende Denken. Aus sozialer Perspektive bedeutet das Audiovisuelle fraglos eine Errungenschaft, denn es gestattet eine präzise Information und wirkt auf die informierte Masse in einer Weise ein, die deren sämtliche Interpretationsmöglichkeiten eliminiert. Darin folgt die Sprache der allgemeinen Evolution des kollektiven Überorganismus und entspricht damit der immer vollkommeneren Konditionierung der individuellen Zellen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.266)
Wenn Leroi-Gourhan hier von der „höchsten Perfektion“ audiovisueller Techniken spricht, die den „Kern des Menschen“ betrifft, erinnert das an Andersens prometheische Scham des Menschen über seine biologische Unvollkommenheit angesichts der Vollkommenheit der Technik. (Vgl. meinen Post vom 23.01.2011) Wenn Leroi-Gourhan im weiteren Textverlauf auf die Arbeitsteilung „zwischen einer schmalen Elite, als einem Organ intellektueller Verarbeitung, und den Massen, die zu bloßen Aufnahmeorganen geworden sind“ und vom „Prozeß der Vorverdauung“ durch die Medienelite spricht (vgl. Leroi Gourhan 1980, S.267), erinnert das an Andersens Darstellung der Rundfunkmedien, die die Wirklichkeit ‚arrangieren‘ (vorverdauen), bevor sie in die Wohnstuben der Konsumenten ausgestrahlt wird (vgl. meinen Post vom 24.01.2011).

Wenn Leroi-Gourhan vom totalen, visuellen und auditiven Erlebnis in höchster Perfektion spricht, so erinnert das auch an Friedrich Kittlers Analyse, daß der eigentliche Zweck der Medien darin liege, die ‚Menschen‘ zu täuschen, wobei er vom ‚Menschen‘ nur noch in Anführungsstrichen spricht (vgl. meinen Post vom 29.04.2012). Was Kittler als eine technologische Errungenschaft feiert, beklagt Günther Anders: der Mensch sei zum „Phantom“ geworden. Und auch Leroi-Gourhan ist nicht gerade glücklich über das „Dilemma“, in dem sich die kulturelle Evolution des Menschen befindet, am Umschlagspunkt einer Entwicklung vom „Individuum als Motor eines sozialen Mikrokosmos, der nach seinem Maß gestaltet ist und in dem er selbst das ganze Spektrum seiner ästhetischen und technischen Möglichkeiten entfaltet“ zum „Individuum als bloßem Element, als Rädchen im grenzenlos perfektionierbaren Mechanismus einer total sozialisierten Gesellschaft.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.440)

Seine Bemerkung über die Evolution, die sich mehr für die „Menschheit“ interessiert „als für den einzelnen Menschen“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.317), wirft ein erhellendes Schlaglicht auf den evolutionären Antihumanismus in Niklas Luhmanns Systemtheorie, derzufolge die Gesellschaft nicht aus Menschen besteht. Anstatt sich in solcherlei misanthropischen Zynismen zu verlieren, geht es Leroi-Gourhan zufolge „entschieden darum, den Menschen in einer hinreichend qualifizierten sapiens-Situation zu halten und eine Entmenschlichung zu verhindern, die für den Output der sozialen Maschinerie berechenbar würde“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S. 440f.).

Wer nun meint, wir hätten es hier wiedermal mit einem allzu bekannten Stereotyp des Kulturpessimismus zu tun, der seit Rousseau – eigentlich sogar schon seit Platon – alle Medien als Verkümmerungsformen des Denkens diffamiert, sollte zuvor berücksichtigen, daß sich hier mit Leroi-Gourhan eine Entwicklungslinie abzeichnet, die direkt in unsere heutigen Kommunikationsmedien gipfelt. Beklagt sich schon Leroi-Gourhan über den Verlust der ‚Handfertigkeit‘ im Gebrauch beider Hände und der ‚Fingerfertigkeit‘ aller zehn Finger in einer Welt, in der ein einzelner Finger reicht, um mit ihm auf „Knöpfe“ zu drücken (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.319), so brauchen wir nur an die Kommunikationsform des SMS oder den Touchscreen zu denken, um zu verstehen, wieso Leroi-Gourhan befürchtet, daß mit dem Verlust der Hand auch die spezifische Menschlichkeit unseres Denkens verloren zu gehen droht. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.320)

Vor wenigen Tagen sprach mich ein Kollege aus unserer Schule darauf an, daß sich seine Schüler nicht mehr selbst reflektieren können. Sie beschäftigen sich nur noch mit ihren technischen Surrogaten, auf deren miniaturisierten Bildschirmen sie mit ihren Fingern herumwischen, befangen in einem Bann, der keinen Raum mehr läßt für das freie Schweifen der Blicke.

An dem Problemzusammenhang ändert auch der Hinweis auf das chemische Ungleichgewicht in der Pubertät nichts. Denn als Entwicklungshilfen bieten wir unseren Kindern und Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden keine Initiationsriten, sondern Ipods, Handys und Tablets etc. Ob wir es hier mit einer „hinreichend qualifizierten sapiens-Situation“ zu tun haben, darf bezweifelt werden

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Donnerstag, 7. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Nachdem ich im gestrigen Post Leroi-Gourhans Verhältnisbestimmung von Körper und Gehirn vor allem mit Bezug auf die Mechanik des Knochengerüstes diskutiert habe und dabei zu dem Ergebnis gekommen bin, daß Leroi-Gourhan hier im Unterschied zu Plessner Körper und Gehirn nicht als Körperleib, sondern als Behälter und Inhalt thematisiert (vgl. meinen Post vom 06.03.2013), möchte ich heute noch einmal die Parallelen in der Bestimmung des Körperleibs hervorheben.

Diese Parallelen bestehen nicht nur im zweipoligen Verhältnis von Gesicht und Hand, sondern auch in der Beschreibung der Physiologie des ‚Fleisches‘. Schon Leroi-Gourhans Beschreibung der am Knochengerüst ansetzenden Muskeln geht über eine bloß mechanische Bestimmung des Körpers hinaus und nähert sich der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität, also der Gleichzeitigkeit von Mitte und Peripherie an. Zwar hält sich Leroi-Gourhan immer noch an der mechanistischen Redeweise vom ‚Apparat‘, aber die Funktion des osteo-muskulären Apparates, nämlich als „Instrument zur Situierung in der Existenz“ zu dienen (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.355), entspricht der exzentrischen Positionalität des Körperleibs. Wir können es auch einfach Haltung nennen. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010)

Die Ebene mechanischer Gleichungen (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.82) verläßt Leroi-Gourhan vollends, wenn er von der Physiologie der Sinnesorgane spricht, also von der „viszeralen Sensibilität“ (Ernährungsverhalten), der „muskulären Sensibilität“ (physische Aktivität) und von dem „Gesichtssinn“ (räumliche Integration). (Vgl. Leroi-Gourhan1980, S.350) Leroi-Gourhan setzt sich also mit den Sinnesorganen in ihrer Bedeutung für das Verhalten eines Organismus auseinander. Und das Verhalten eines Organismus versteht er wiederum als eine „Verbindung von Bewegung und Form“ (Leroi-Gourhan 1980, S.351), also mit Husserl: als Kinästhetik! In diesem Sinne ist die schon angesprochene „Situierung in der Existenz“ nichts anderes als Kinästhetik. Der Verhaltensbegriff führt also bei Leroi-Gourhan eindeutig über den Mechanismus eines Apparatebegriffs hinaus.

Schon Plessner hatte das Verhalten des Menschen wesentlich anders bestimmt als die Behavioristen. ‚Verhalten‘ legen nur lebende Organismen an den Tag. Als solche befinden sie sich immer schon in einer Um-Welt bzw. mit Bezug auf den Menschen: in einer Welt. Plessner hält deshalb fest: „Menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten läßt sich nicht unter einem Teilaspekt begreifen.“ (Plessner 1975 (1928), S.XVIII; vgl. auch meinen Post vom 22.10.2010) Wir können also nicht in mechanistischer Weise vom menschlichen Verhalten sprechen. Vielmehr muß die ganze Fülle der kulturellen Überlieferungen berücksichtigt werden, wie Plessner schreibt. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.295)

Mit der Betonung dieser Verhaltensebene bewegt sich Leroi-Gourhan also bei der Beschreibung der verschiedenen Funktionen der Sinnesorgane auf dem Niveau des Plessnerschen Körperleibs. Auf deren einzelne Funktionen und ihre Parallelen zu Plessners Ästhesiologie will ich hier kurz eingehen. So fällt auf, daß Leroi-Gourhans Beschreibungen der viszeralen Sensibilität den Zustandssinnen bei Plessner gleichen, und daß wir hier eine ähnliche Funktion vorfinden, die Plessner als ‚Seele‘ beschreibt. Plessner beschreibt die Zustandssinne bzw. die Seele als „sinnfrei“, weil sie zu Beginn der individuellen Ontogenese noch nicht auf bestimmte Qualitäten der Wahrnehmung im Sinne von ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ festgelegt sind. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.270f.)

Dieser „Sinnfreiheit“ der Zustandssinne entsprechen bei Leroi-Gourhan die „viszeralen Rhythmen“, die zunächst unser Ernährungsverhalten bestimmen, in Form von Hunger, Durst und Sättigung. Nimmt man „die Gleichgewichtsorgane und die Wahrnehmung des Körpers im Raum“ hinzu, so verbinden sie sich zu einer die Lebenswelt umfassenden „Körperrhythmik“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.350). Es ist letztlich diese Körperrhythmik, die gemeinsam mit dem osteo-muskulären ‚Apparat‘ die körperleibliche „Situierung in der Existenz“ bewirkt. Diese Körperrhythmik ist das, was Plessner als ‚Seele‘ bezeichnet, deren ursprünglich für jede mögliche Welt offene „Sinnfreiheit“ über die Körperrhythmik in eine bestehende Welt bzw. Um-Welt eingepaßt wird.

Eine wesentliche Bestimmung des Plessnerschen Körperleibs besteht im Ausdrucksverhalten. An der Grenze zwischen Innen und Außen muß der Mensch versuchen, seine Mitte zu finden. Auch dies ist Seele: sich zeigen wollen, aber sich zugleich nicht auf eine bestimmte Sichtweise festlegen lassen zu wollen. Leroi-Gourhan vergleicht nun die Sinnesorgane hinsichtlich ihrer Beteiligung an diesem Ausdrucksverhalten des Menschen. Darin unterscheidet er sich interessanterweise von Plessners Versuch, die verschiedenen Sinnesfunktionen zu ordnen. Plessner fragt vor allem nach ihrer gegenstandsbildenden Qualität und zählt hier vor allem Gesicht, Gehör und Tastsinn auf, denen er alle anderen Sinnesorgane, die nur eine sekundäre Bedeutung für die Gegenstandsbildung haben, gegenüberstellt. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2010 und vom 30.01.2012)

Leroi-Gourhan zufolge bieten vor allem zwei Sinnesorgane das Potential einer nicht nur reflexiven, sondern auch kommunikativen Verständigung der Menschen über sich und die Welt: Gesicht und Gehör. Den Grund dafür macht Leroi-Gourhan am Geruchssinn deutlich, der bei anderen Arten durchaus Teil der sozialen Kommunikation ist. Beim Menschen kann er das deshalb nicht sein, weil dieser „kein komplementäres Organ zur Emission von Geruchssymbolen“ besitzt: „So bleibt er außerhalb jenes Dispositivs, das gerade das markanteste Charakteristikum des Menschen ausmacht; die Reflexion vermag zwar die Wahrnehmungen zu kodifizieren, diese Wahrnehmungen lassen sich aber nicht mitteilen.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.363)

Beim Gesichtssinn sind es die Hand und ihre Gesten, und beim Gehör ist es die Stimme und das gesprochene Wort, die unsere subjektiven Wahrnehmungen mitteilbar machen und somit das seelische Bedürfnis, sich auszudrücken (und sich zu verbergen), befriedigen. Daß auch der Geruch einen Teil der kommunikativen Praxis bildet, als ein Moment der Haltung, das Sympathien und Antipathien bedingt, wird von Leroi-Gourhan nicht weiter diskutiert.

Schon der Titel seines Buches, „Hand und Wort“, deutet also eine körperleibliche Bestimmung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses an. So muß man sein Buch also immer auf zwei verschiedenen Ebenen lesen und sorgfältig zwischen dem Körperapparat, zu dem Leroi-Gourhan auch den „physiologischen Apparat“ zählt (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.490), und dem Verhalten unterscheiden, das über eine bloß mechanische Bestimmung der menschlichen Evolution weit hinausgeht und nur „in der Totalität der Erde“ verstanden werden kann. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.22)

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Mittwoch, 6. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Die Parallelen zum Plessnerschen Körperleib scheinen bei Leroi-Gourhan schon in seiner Darstellung des Verhältnisses von Gehirn und Körper selbst hervorzutreten. Schon Leroi-Gourhans Gebrauch des Begriffes „Anthropomorphismus“ wertet die Anatomie des Körpers erheblich auf, insofern er das wichtigste Menschheitskriterium an der Gestalt des menschlichen Körpers festmacht und – scheinbar –  nicht am Gehirn: „Anthropomorph bedeutet also ‚mit menschlicher Gestalt‘ und umfaßt sämtliche Anthropinen einschließlich des Australanthropus.“ (S.58, Anm.4)

So hebt Leroi-Gourhan hervor, wie peinlich klein das Gehirn der Australanthropinen geraten sei, zu denen er auch den Australopithecus zählt (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.87), und sie eigentlich nur aufgrund von rhythmisch beschlagenen Steinartefakten der Menschheit zuzuordnen seien (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.384). Es ist also auch hier wieder der aufrechte Gang – und der damit zusammenhängende Merkmalskomplex der befreiten Hand, der Aufhängung des Schädels, der mechanischen Organisation der Wirbelsäule, dem Gebiß und unter anderem eben auch dem Gehirn –, der den Menschen ausmacht. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.56)

Das Gehirn wird von Leroi-Gourhan in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Menschen immer wieder relativiert: „... es lag näher den Menschen durch seine Intelligenz statt durch seine Mobilität zu charakterisieren, die Theorien haben darum zunächst die vorrangige Bedeutung des Gehirns herausgestellt, ein Umstand, der die Interpretation der Fossilien insbesondere von den Primaten an in eine falsche Richtung geführt hat. ... Die zerebalistische Sicht der Evolution erscheint heute ungenau, dagegen scheinen genügend Belege dafür vorzuliegen, daß die Fortschritte in der Anpassung des Bewegungsapparates eher dem Gehirn genützt haben, als daß sie von diesem hervorgerufen worden wären. Aus diesem Grunde werden wir die Lokomotion als Determinante der biologischen Evolution ansehen, so wie sie im dritten Teil als Determinante der aktuellen sozialen Evolution erscheinen wird.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.43)

Der aufrechte Gang, also die spezifisch menschliche Form der „Lokomotion“, hat erst die spezifisch menschliche Intelligenz ermöglicht, die wiederum nicht in erster Linie im Größenwachstum des Gehirns zum Ausdruck kommt – siehe das kleine, schimpansenähnliche Gehirn des Australopithecus –, sondern im zweipoligen Weltverhältnis von Gesicht und Hand als den „beiden Manifestationen menschlicher Intelligenz“ (Leroi-Gourhan 1980, S.268), – eine Intelligenz, die sich im Gleichgewicht von Graphismus und mündlicher Sprache erfüllt.

Dieses Intelligenzmerkmal des Gleichgewichts, das Leroi-Gourhan vor allem an der mit dem aufrechten Gang verbundenen Zweipoligkeit von Hand und Gesicht festmacht und nicht an der „bloße(n) Vergrößerung des Volumens“ des „menschlichen Gehirns“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.38), ist ihm so wichtig, daß ihm die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Hand in der modernen, technologischen Zivilisation für die menschliche Intelligenz nichts Gutes verheißt: „Es wäre nicht sonderlich wichtig, daß die Bedeutung der Hand, dieses Schicksalsorgans, abnimmt, wenn nicht alles darauf hindeutete, daß ihre Tätigkeit eng mit dem Gleichgewicht der Hirnregionen verbunden ist, die mit ihr in Zusammenhang stehen. ... Mit seinen Händen nicht denken können bedeutet einen Teil seines normalen und phylogenetisch menschlichen Denkens verlieren. Auf der Ebene des Individuums und vielleicht auch auf der Ebene der Spezies stehen wir also in Zukunft vor dem Problem einer Regression der Hand.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.320)

Die „Entwicklung des Gehirns“ scheint für Leroi-Gourhan also in jeder Hinsicht „ein zweitrangiges Merkmal“ darzustellen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.36) Tatsächlich ist aber das Gehirn nur hinsichtlich der biologischen Phylogenese ein zweitrangiges Merkmal. Als biologisches Merkmal im engeren Sinne setzt das Gehirnwachstum – siehe Australopithecus – erst so spät ein, daß die Menschheit und mit ihr die spezifisch menschliche Intelligenz weiter zurückreichen, als der heutige quantitative Gehirngewichtsstandard von anderthalb Kilogramm vermuten läßt.

Aber dennoch behält das Gehirn seine einzigartige Position unter den übrigen Organen, insofern es die „letzte Errungenschaft“ des Menschen bildet, „denn die technischen Ergebnisse haben keinerlei Voraussetzungen in der osteo-muskulären Ausstattung, die nicht auch schon die höheren Affen besäßen: worauf es ankommt, ist der Nervenapparat.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.299) – Das ist jetzt eine deutliche Umkehrung der bisherigen Verhältnisbestimmungen von körperlicher Anatomie und Gehirn. Zwar ist das Gehirn in der biologischen Evolution nur eine Folge des aufrechten Ganges und bildet in der Reihe der Menschheitskriterien nur ein letztes, speziell mit dem homo sapiens verbundenes Merkmal. Aber als dieses letzte, relativ spät auftretende Merkmal ist es eng verbunden mit dem Aufstieg der technologischen Zivilisationen.

Allerdings muß man die Bedeutung des Gehirnvolumens auch hier nochmal dahingehend relativieren, als der eigentliche Schub zu den modernen Zivilisationen auch hier nicht direkt vom Gehirn ausging, sondern von einer Umstellung des mehrdimensionalen Graphismus der Bilderschriften auf den linearen Graphismus der alphabetischen Schrift. (Vgl. meinen Post vom 01.03.2013)

Letztlich beschreibt Leroi-Gourhan den menschlichen Körper aber eben doch nicht als Leib, sondern nur als mechanisches Gehäuse für das Gehirn: „Das Verhältnis zwischen Gehirn und Knochengerüst ist das von Inhalt und Behälter, mit allem, was man sich an evolutiven Wechselwirkungen vorstellen mag; Inhalt und Behälter sind jedoch ihrem Wesen nach nicht in eins zu setzen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.81)

Das Knochengerüst bildet einen mechanischen Apparat, dessen vornehmster Zweck es ist, eine Evolution des Gehirns auf ein zunehmendes Volumen hin zu ermöglichen: „Nach der Gewinnung eines bestimmten, bei den verschiedenen Gruppen unterschiedlichen mechanischen Typs sehen wir eine fortschreitende Invasion des Gehirns und die Verbesserung des mechanischen Apparates in einem Anpassungsvorgang, an dem das Gehirn ganz offensichtlich beteiligt ist – aber nicht durch eine direkte Steuerung der physischen Anpassung, sondern indem es die Vorteile in der natürlichen Selektion der Typen bestimmt.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.81f.)

Der Selektionsdruck geht also nicht direkt vom Gehirn aus – insofern bleibt es nur eine Folge der Entwicklung des Körperapparates –, aber es bildet einen selektiven Vorteil, so daß seine Vergrößerung einer technischen Spezialisierung des Körperapparates – etwa im Sinne einer Zurückbildung der fünffingrigen ‚Hand‘ zum einzelnen ‚Finger‘ des Hufes beim Pferd – entgegenwirkt: „... die Paläontologen wissen schon seit langem, daß die am wenigsten spezialisierten Arten die zerebral fortgeschrittensten Formen hervorgebracht haben. Diese Sicht der Evolution ist geeignet, die engen Verbindungen zwischen den beiden Tendenzen sichtbar zu machen, zwischen der Tendenz des Nervensystems und der der mechanischen Anpassung.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.82)

Wo Plessner also das menschliche Bewußtsein an der Gegenüberstellung von  Körper und Gehirn festmacht und so den Körper zum Körperleib aufwertet, bleibt bei Leroi-Gourhan der Körper letztlich nur ein mechanisches Gehäuse, ähnlich einem Uhrwerk, das ein Gehirn beherbergt. Aber dennoch macht Leroi-Gourhan die „Intelligenz“ nicht am Gehirn selbst fest, sondern wiederum an einer körperlichen Verhältnisbestimmung: dem zweipoligen Verhältnis von Gesicht und Hand. Erst in dieser Verhältnisbestimmung zeigt sich die spezifisch menschliche Intelligenz: nicht im Gehirn selbst. Die Parallele zum Plessnerschen Körperleib besteht also in der „Dualität der facialen und manuellen Operationsfelder“ und in der „fundamentale(n) Verbindung von Greifen und Sehen“. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.366)

Sollte es eines Tages so weit kommen – und aus unserer heutigen Sicht, 50 Jahre nach dem Erscheinen von „Hand und Wort“, ist es bereits so weit gekommen –, daß die Exteriorisierung unserer Fähigkeiten auch die Intelligenz selbst exteriorisiert, dann verlassen wir endgültig das „Dreieck“ aus Hand, Sprache und sensomotorischem Kortex (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.332), und wir haben eine Artgrenze überschritten: die des homo sapiens. Als solchen können wir uns dann nicht länger bezeichnen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.318f.)

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Sonntag, 3. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Es ist erstaunlich, daß Leroi-Gourhan das rhythmische Schlagen als Menschheitskriterium aufführt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.384) Anscheinend gehört zu solchen ausdauernden, rhythmischen Wiederholungen eine spezifische konzentrierte Aufmerksamkeit, wie sie so nur der Mensch an den Tag legt: „Von Anfang an stehen die Fertigungstechniken in einem rhythmischen Rahmen, der gleichermaßen muskulären, auditiven und visuellen Charakter hat und aus der Wiederholung von Schlagbewegungen hervorgeht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.384)

Eine ganze Reihe von motorischen und sensitiven Funktionen werden also über den Rhythmus zum Ganzen eines Produktionsprozesses zusammengefügt. Aber nicht nur eine Vielzahl organischer Funktionen fügen sich über den Rhythmus zu einer Handlung, sondern der menschliche Organismus selbst wird über Rhythmen in einen größeren natürlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt: „... bis in unsere Zeit und in allen Kulturen haben diese Bewegungen einen wesentlichen Teil der Techniken ausgemacht. Zum rhythmischen Rahmen des Ganges tritt beim Menschen also noch die rhythmische Bewegung des Armes hinzu; während die Rhythmik des Ganges für die raum-zeitliche Integration sorgt und am Ursprung der Bewegung im sozialen Bereich steht, öffnet die rhythmische Bewegung der Arme einen anderen Weg; die Integration des Individuums in ein Dispositiv der Schöpfung nicht mehr von Raum und Zeit, sondern von Formen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.384)

Hier deutet sich schon die Ambivalenz rhythmischer Integrationsprozesse an: die „Rhythmik des Ganges“ ist nicht nur eng mit der Menschwerdung, dem aufrechten Gang, verbunden. Im gleichen Rhythmus sich fortbewegende Menschengruppen verschmelzen darüberhinaus zu einem Kollektivkörper: „Die Wissenschaft der muskulären Konditionierung wird empirisch zu Zwecken politischer Uniformität schon seit den Anfängen der Stadt praktiziert, auf ihr beruhen die Bewegung von Mengen und das Verhalten von Massen, die ‚wie ein Mann‘ marschieren.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.357)

Das Vorgeben eines Zeittaktes als eine Form der gesellschaftlichen Verfügung über den menschlichen Körper beschreibt auch von Braun am Beispiel der „Räderwerkuhr“ in „Der Preis des Geldes“. (Vgl. von Braun 2/2012, S.177ff.) Die individuellen Lebensrhythmen werden auf diese Weise den Rhythmen von Maschinen angeglichen: „Derzeit sind die Individuen getränkt und bestimmt von einer Rhythmizität, die das Stadium einer praktisch totalen Maschinisierung (eher als das einer Humanisierung) erreicht hat.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.385)

Leroi-Gourhan beobachtet allerdings auch eine Gegenbewegung zu dieser Maschinisierung des Menschen, die darin besteht, die „Figuration“ – wie er die symbolischen Formgebungen nennt, mit denen der Mensch seinem Leben einen individuellen ‚Stil‘ bzw. einen individuellen ‚Sinn‘ zu geben versucht – auf ‚Augenhöhe‘ mit den jeweils neuesten Technologien zu bringen. Auf diese Individualisierung sogar von Maschinen zu verzichten, würde darauf hinauslaufen, so Leroi-Gourhan, „den Sinn des menschlichen Abenteuers überhaupt in Frage zu stellen.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.386)

Die Ambivalenz rhythmischer Methoden der Lebensführung und der Menschenführung besteht also darin, daß sie gleichermaßen in den Dienst der individuellen Emanzipation wie in den Dienst eines vergemeinschaftenden Funktionalismus gestellt werden können. Die Lebenswelt, von der in diesem Blog immer die Rede ist, verschmilzt in den organischen Rhythmen der Tageszeiten und der Jahreszeiten, der Nahrungsaufnahme, der Feiertage und des Alltags etc. unmittelbar mit unserer körperlichen Physiologie. Allerdings können diese Rhythmen aus dem Gleichgewicht gebracht werden, und genau hier setzt die Möglichkeit einer „individuellen Befreiung“ (Leroi-Gourhan 1980, S.352) aus diesen alltäglichen Rhythmen an.

Solche Befreiungstechniken verortet Leroi-Gourhan z.B. in der Kunst und in bestimmten Meditationstechniken, mit deren Hilfe nicht nur soziale Institutionen, sondern eben auch Individuen Einfluß auf ihre „psychisch-physiologische() Konditionierung“ (Leroi-Gourhan 1980, S.352) nehmen können: „Dagegen wird man zugeben müssen, daß die Brüche im rhythmischen Gleichgewicht eine bedeutende Rolle spielen, wenn man sich vor Augen hält, daß ein beträchtlicher Teil der nicht-habituellen motorischen oder sprachlichen Äußerungen dort auftritt, wo in einer geistigen Grenzüberschreitung nach einem zweiten Zustand gesucht wird. Bei den außergewöhnlichen Ritualen, ekstatischen Offenbarungen und Besessenheitspraktiken, in deren Verlauf sich die Subjekte Tänzen oder Gesängen hingeben, die mit einem übernatürlichen Potential geladen sind, besteht eines der universell verwendeten Mittel darin, den Handelnden aus seinem alltäglichen Rhythmus herauszureißen, indem man die Routine des physiologischen Apparates durch Fasten und Schlafentzug zerbricht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.352f.)

Ich hatte in diesem Blog schon mehrfach auf Nishitanis „Niesen“ verwiesen („Was ist Religion?“ (2/1986), S.93ff.; vgl.u.a. meinen Post vom 01.01.2011), das unsere organischen Rhythmen brutal unterbricht. Auch das von Plessner beschriebene Lachen und Weinen (ebenda), die beide ihre eigenen Rhythmen haben, befreien uns aus der unter Umständen beklemmenden, einengenden „Routine des physiologischen Apparates“.

Die Suche nach einem „zweiten Zustand“, auf die Leroi-Gourhan hinweist (vgl. Leroi Gourhan 1980, S.353f.), wie sie ihm zufolge die „großen Mystikschulen Indiens, Chinas, des Islams und des Westens“ kennzeichnet (vgl. Leroi Gourhan 1980, S.354), ähnelt dem, was ich in diesem Blog immer als „zweite Naivität“ bezeichnet habe (vgl.u.a. meine Posts vom 17.11.2010 und vom 24.01.2011). Sie befreit uns aus der Abhängigkeit von der lebensweltlichen ersten Naivität und eröffnet einen neuen Spielraum des Handelns.

Leroi-Gourhan ergänzt also das Thema der Lebenswelt mit einem eigenständigen Beitrag, der sowohl über die Blumenbergsche Version einer Autodestruktion der Lebenswelt (vgl. meinen Post vom 08.08.2010) wie auch über die Habermassche Version ihrer ständigen Reparaturbedürftigkeit (vgl. meine Posts vom 17.02. und vom 22.02.2013) hinausgeht, weil er nicht nur den organischen Reproduktionsmechanismus der Lebenswelt beschreibt, sondern auch die Mittel, sie individuell neu zu organisieren: „Rhythmisches Stampfen, Drehen, Choreographie, Verbeugungen, periodische Kniefälle und Prozessionen, sämtlich Techniken der Integration in außergewöhnliche Operationsketten, gehörten auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten zum festen Bestand religiöser und profaner Äußerungen. Gestützt auf die Musik, gewinnen sie im Verhältnis zu den Manifestationen, die wir im letzten Abschnitt behandelt haben, den Charakter eines wahrhaften Herausreißens aus der alltäglichen Lebenswelt.“ (Leroi-Gourhan S.357)

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Samstag, 2. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Wenn Leroi-Gourhan von „Menschheitskriterien“ spricht (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.35-41), so sind damit nicht nur die sogenannten „Monopole“ gemeint, also anatomische und intellektuelle Merkmale, die den Menschen in seiner evolutionären Position einzigartig machen (vgl. meinen Post vom 15.05.2011). Leroi-Gourhan stellt auch immer wieder die Frage nach seinem Schicksal, also die Sinnfrage, etwa hinsichtlich des Übergangs von einem mehrdimensionalen zu einem linearen Graphismus und den damit einhergehenden Verlusten:
„Wenn man der Ansicht ist, der von der Menschheit bis heute verfolgte Weg sei ihrer Zukunft uneingeschränkt nützlich, d.h. wenn man in die bäuerliche Seßhaftwerdung mit allen ihren Konsequenzen ein vollständiges Vertrauen setzt, so kann man diesen Verlust eines mehrdimensionalen symbolischen Denkens nicht anders beurteilen als die Verbesserung des Laufvermögens der Pferde, die eintrat, als sich ihre drei Zehen auf einen einzigen reduzierten. Wenn man dagegen der Ansicht ist, der Mensch verwirkliche sich erst voll in einem Gleichgewicht, in dem er den Zugang zur Totalität der Wirklichkeit behielte, so kann man sich fragen, ob nicht das Optimum nur allzu schnell in dem Augenblick überschritten wurde, als der technische Utilitarismus in einer vollständig kanalisierten Schrift das Mittel einer unbegrenzten Entwicklung fand.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.264f.)
So bildet also der Graphismus nicht nur ein „Monopol“ in dem Sinne, daß zuvor noch kein Tier auf die Idee gekommen ist, seine vorderen Extremitäten zur Erschaffung einer imaginären Welt zu verwenden (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.238), sondern mit dem Graphismus stellt sich auch die Frage nach der Erfüllung unserer Menschlichkeit.

Insgesamt zählt Leroi-Gourhan eine recht große Menge von Merkmalen auf, die er ausschließlich dem Menschen zuspricht, und meine folgende Aufzählung ist deshalb wohl nicht vollständig. Es ist verblüffend, welche einfachen, simplen Merkmale Leroi-Gourhan als menschheitstypisch einordnet, so z.B. das rhythmische Schlagen: „Schon in den frühesten Entwicklungsstadien bestand eines der operativen Merkmale der Menschheit in der Anwendung oft wiederholter rhythmischer Schläge. Diese Operation markiert sogar als einzige den Eintritt des Australanthropus in die Menschheit, denn sie hat als Spuren die Choppers aus zerschlagenen Geröllsteinen und die polyedrischen Kugeln hinterlassen, die durch ausdauerndes Hämmern entstehen.“ (Leroi-Gourhan 1980,  S.384) – Den Begriff „Australanthropus“ benutzt Leroi-Gourhan als Sammelbezeichnung für Australopithecus, Plesiantrhopus, Paranthropus und Zinjanthropus. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.87) Leroi-Gourhan datiert also die „Menschheit“ – trotz des „unglaublich klein“ ausfallenden Gehirns, „daß es die Anatomen schon geniert“ (vgl. Leroi-gourhan 1980, S.88) – allein aufgrund rhythmischer Schlagtechniken auf 4 Millionen Jahre zurück.

Ein anderes, auffälligeres Merkmal ist der aufrechte Gang, dem gegenüber Leroi-Gourhan sogar die „Entwicklung des Gehirns“ als ein bloß „zweitrangiges Merkmal“ darstellt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.36) Leroi-Gourhan zufolge bildet das Gehirn bloß ein „Korrelat des aufrechten Ganges“. (Vgl. ebenda) Beim aufrechten Gang haben wir es sogar mit einem regelrechten Merkmalskomplex zu tun, zu dem nicht nur das Gehirn gehört, sondern auch „die Wirbelsäule, das Gesicht und die Hand“, deren Entwicklungslinien „untrennbar miteinander verbunden“ sind. (Vgl. ebenda) Wir haben es also mit einer Ko-Evolution von Merkmalen zu tun, von denen keines für sich allein untersucht werden darf.

Diese Ko-Evolution beginnt mit der Aufrichtung des Menschen: „Der gemeinsame Ursprung von Affe und Mensch ist deutlich, sobald aber der aufrechte Gang gewonnen ist, kann man nicht mehr von Affen sprechen und folglich auch nicht von Halb-Menschen. Die durch die aufrechte Haltung beim Menschen geschaffenen Bedingungen führen zu neuro-psychischen Entwicklungen, die aus der Evolution des menschlichen Gehirns etwas anderes machen als die bloße Vergrößerung des Volumens. Das Verhältnis von Gesicht und Hand ist in der Entwicklung des Gehirns ebenso eng wie zuvor: das der Hand zugeordnete Werkzeug und die dem Gesicht zugehörige Sprache bilden nur verschiedene Pole der gleichen Einheit ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.36ff.)

In diesem Zitat fällt nicht nur die wiederholte Relativierung der neurologischen Perspektive auf das Gehirn auf, – insbesondere was die quantifizierende Bewertung seines Volumens betrifft. Es wird auch deutlich, in welcher Hinsicht der aufrechte Gang für die menschliche Evolution so bedeutsam geworden ist: er ermöglicht die Entwicklung eines zweipoligen Weltverhältnisses aus Gesicht und Hand, die einen ‚Spielraum‘ des Selbst- und Weltverhältnisses eröffnen, der an Plessners Körperleib erinnert: „Das Aufkommen graphischer Symbole gegen Ende der Herrschaft des Paläanthropus setzt die Einrichtung neuer Beziehungen zwischen den beiden kooperativen Polen voraus, die ein exklusives Merkmal des Menschseins im engen Sinne des Wortes bildeten, insofern es einem Denken entsprach, das in gleichem Maße symbolisierendes Denken war wie das unsrige. In diesen neuen Beziehungen erhält der Gesichtssinn eine Vorrangstellung in den Paaren Gesicht-Lesen und Hand-Zeichnen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.237f.)

An den Plessnerschen Körperleib erinnert mich die zweipolige Bestimmung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses von Gesicht und Hand, weil hier das menschliche Bewußtsein unmittelbar von der körperlichen Anatomie her interpretiert wird, in der das Gehirn nur ein Organ unter einer Gesamtheit von Organen bildet: „Für uns ist es wegen des fehlenden Abstandes schwierig abzuschätzen, was die westliche Kunst einer bestimmten Konzeption des Lebens verdankt, die ihre Grundlage im Pakt zwischen dem Menschen und seinem Körper findet. Dagegen zeigt das klassische China, weil es uns diesen Abstand bietet und sicher auch weil es den Ausdruck dieses Paktes sehr weit getrieben hat, in seiner Lebensweise wie in seinen Werken die Kontinuität, die zwischen dem Grund und dem Gipfel besteht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.355)

Der Hinweis auf „Grund“ und „Gipfel“ erinnert an die Plessnersche Pyramide (vgl. meine Posts vom 01.06.2011 und vom 30.01.2012), und auch Leroi-Gourhan verwendet dieses Bild, wobei er die Pyramide verdoppelt: er spricht von einer, von einer breiten biologischen Basis ausgehenden, sich zum Menschen hin verjüngenden Pyramide, an dessem Gipfelpunkt, dem homo sapiens, jetzt eine umgedrehte Pyramide ansetzt, sich in Form einer kulturellen Evolution fortsetzend und nach oben hin immer weiter verbreiternd. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.490f.)

Die Leroi-Gourhansche Version des Körperleibs beinhaltet also einen „Pakt“, eine unauflösliche Verschränkung körperlicher und psychischer Momente, die aus dem Körper mehr machen als nur einen mechanischen und physiologischen Apparat:
„Wenn das Knochenskelett auch im normalen Zustand nicht wahrgenommen wird, so ist die Muskelhülle doch der Ort wichtiger Eindrücke, und der osteo-muskuläre Apparat mag zwar nicht als Werkzeug verstanden werden, wohl aber als Instrument zur Situierung in der Existenz. Die Integration der Bewegungen, die im motorischen Hirnkortex erfolgt, müssen wir als intellektuelle Operation beiseite lassen. Dagegen können wir auf den paläontologischen Zusammenhang verweisen, der zwischen dem Innenohr und dem osteo-muskulären Apparat beim Gleichgewicht des Individuums hinsichtlich seiner Umwelt, bei den unmittelbaren Wahrnehmungen und in der Organisation der Bewegungen besteht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.355)
Auch hier schränkt Leroi-Gourhan die Bedeutung einer neurophysiologischen Verortung des Körpermodells im Gehirn ein und hebt die psychische Dynamik der körperlichen Bewegungen selbst hervor. Wir haben es nicht nur mit einem Apparat zu tun, sondern mit einer Haltung. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Denn wo wir uns über unseren Körper in einer Existenz situieren, wird er mehr als nur ein Instrument, ein Objekt, – er wird zur Mitte, zum Leib: „Das normale Funktionieren des gesamten intellektuellen Apparates ist an die organische Infrastruktur gebunden, und das nicht nur hinsichtlich eines guten oder schlechten Körperbefindens, sondern in jedem Augenblick des Lebens, in den Rhythmen, die das Individuum in Raum und Zeit integrieren.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.356)

Das zweipolige Verhältnis von Gesicht und Hand führt also zu einer graphischen und zu einer mündlichen Verdopplung der Welt, so daß sich nicht mehr nur eine symbolische und eine materielle Welt gegenüberstehen. Wir haben es vielmehr mit zwei verschiedenen Formen der Symbolisierung zu tun, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Zunächst diente das mündliche Wort in Form des Mythos zur Kommentierung von Höhlen- und Felsmalereien, die wiederum mehrdeutige Gedächtnisstützen darstellten, dann diente der lineare Graphismus bzw. die Schrift der Speicherung des gesprochenen Wortes, die sich der „Strenge“ des ebenfalls linearen Rechnens annäherte: „... aus Symbolen mit dehnbaren Implikationen wurden Zeichen, wirkliche Werkzeuge im Dienste eines Gedächtnisses, in das die Strenge des Rechnens Eingang fand.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.253).

Neben einer anatomischen Relativierung der Bedeutung des Gehirns fällt auch auf, daß die Sprache bei Leroi-Gourhan nirgendwo eindeutig als Menschheitskriterium bezeichnet wird. Er ordnet die mündliche Sprache dem Gesicht zu, und wenn vom Gesicht die Rede ist, ist im Rahmen des zweipoligen Verhältnisses immer zugleich auch von der Hand die Rede. So steht die mündliche Sprache immer schon in einer Relation zum Graphismus, den Leroi-Gourhan – in enger Verbindung mit der Sprache – dann in erster Linie zum Menschheitskriterium macht. Und erst der lineare Graphismus, also die Schrift, steht als „Instrument“ des „Aufstiegs“ der „großen Zivilisationen“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.261) am Anfang einer exponentiellen Beschleunigung der Menschheitsentwicklung, – nicht die mündliche Sprache.

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Freitag, 1. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

In meinem letzten Post zu Habermas (vom 24.02.2013) hatte ich zwischen einer rekursiven Argumentationsweise, die ihre Argumente bzw. Gründe ‚narrativ‘ auf verschiedenen Ebenen verteilt, und einer linearen Argumentationsweise unterschieden, die ihre Argumente in einer syntaktischen Reihe ‚semantisch verknüpft‘, also die Ebene des einfachen Satzes nicht verläßt. Dem rekursiven Verfahren hatte Habermas vorgeworfen, zu „anspruchsvoll“ zu sein (vgl. Habermas 2012, S.64f.), weshalb er an anderer Stelle die Rekursivität als einen nur „abgeleitete(n) Modus der Verständigung“ bezeichnet (vgl. Habermas 3/1985, Bd.1: S.371; vgl. auch meinen Post vom 19.01.2013).

Bei André Leroi-Gourhan, „Hand und Wort“ (1980), bin ich nun auf Stellen gestoßen, die den anspruchsvollen Charakter narrativer Techniken zwar bestätigen, diese aber ganz an den Anfang der menschlichen Sprach- und Kulturentwicklung stellen, denen gegenüber das lineare Verfahren der Schrift eine relativ späte Entwicklungsstufe darstellt. Von Leroi-Gourhans Analysen her liegt es näher, den auf das lineare Aneinanderreihen von Gründen ausgerichteten pragmatischen Konstruktivismus von Habermas eher als eine Folge der „Unterordnung des Graphismus unter die gesprochene Sprache“ zu beschreiben – im Sinne einer 1:1-Abbildung der hintereinander ausgesprochenen Silben und Wörter auf graphische Elemente (Buchstaben) –, die mit einer „Verarmung an Mitteln zum Ausdruck irrationaler Momente“ einhergeht. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.264)

André Leroi-Gourhan († 1986) ist ein französischer Paläontologe, der die Frage der Menschheitsentwicklung auf allen Ebenen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses zu beschreiben versucht. Dieses Selbst- und Weltverhältnis unterteilt er in die Modi der Technik, der Sprache und der Kunst. So stellt also auch die Technik keine einfache instrumentelle Manipulation der materiellen Welt dar, sondern ist eng verwoben mit ‚ethnischen‘ bzw. kulturellen Formen der Selbstdarstellung. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.371-386)

Leroi-Gourhans Zugang zu seinem Thema umfaßt alle Bereiche der Wissenschaft und ist deshalb umfassend interdisziplinär: „Es mag sich wohl das Urteil aufdrängen, einem Werk, das die Hauptbereiche der Wissenschaft vom Menschen heranzieht, müsse es an Harmonie mangeln; ich habe diese Schwächen und Unvollkommenheiten während der Redaktion nur allzu deutlich bemerkt, seine Angreifbarkeit ist mir durchaus bewußt; aber wie hätte man ohne die Einbeziehung von Paläontologie, Sprache, Technik und Kunst herausarbeiten können, daß der Mensch ein Säugetier von gleichwohl einzigartiger körperlicher Organisation ist und von einem sozialen Körper umschlossen und verlängert wird, der wiederum Eigenschaften besitzt, die der Zoologie keinerlei Gewicht mehr in seiner materiellen Evolution belassen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.39f.)

Unter „Graphismus“ – den er der gesprochenen Sprache gegenüberstellt – versteht Leroi-Gourhan eine Form des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, die eine eigenständige imaginäre Welt neben die reale Welt stellt, die sie nicht einfach abbildet wie eine Photographie oder ein Portrait. Von Anfang an sind die Höhlen- und Felsmalereien, so Leroi-Gourhan, „abstrakt“: „... der Graphismus hat seinen Ursprung nicht in der naiven Darstellung der Wirklichkeit, sondern im Abstrakten. ... Von besonderem Interesse für unsere Fragestellung ist die Tatsache, daß der Graphismus nicht von einem Ausdruck ausgeht, der in einem gewissermaßen dienenden oder photographischen Verhältnis zur Wirklichkeit steht, daß er sich vielmehr in einer Zeitspanne von etwa 10.000 Jahren im Ausgang von Zeichen organisiert, die zunächst einmal nicht Formen ausgedrückt haben dürften. ... Aus diesen Überlegungen läßt sich der Schluß ziehen, daß die bildende Kunst in ihrem Ursprung unmittelbar mit der Sprache verbunden ist und der Schrift im weitesten Sinne sehr viel näher steht als dem Kunstwerk. Sie ist eine symbolische Umsetzung und nicht Abbild der Realität ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.240)

Der Graphismus gehört nicht etwa zur Schriftlichkeit im engeren Sinne, die vor etwa 5.000 Jahren einsetzt und die kulturelle Phylogenese des Menschen so sehr beschleunigt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.244, 491; zur kulturellen ‚Explosion‘ vgl. auch meinen Post vom 18.11.2012) Der Graphismus selbst reicht weiter zurück in die Menschheitsgeschichte als die lineare Schrift und bildet das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und Tieren: „... wenn man vom Werkzeug sagen kann, daß es auch bei manchen Tierarten vorkommt, und von der Sprache, daß sie lediglich eine Erweiterung der in der Tierwelt anzutreffenden Lautsignale sei, so gibt es bis zum Erscheinen des homo sapiens nichts dem Zeichnen und Lesen von Symbolen Vergleichbares.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.238)

Die symbolische Funktionsweise des Graphismus besteht nach Leroi-Gourhan darin, daß die abgebildeten ‚Figuren‘ –  Leroi-Gourhan spricht in diesem Zusammenhang immer von „Figuration“ – nicht einfach jede für sich mehr oder weniger realistisch ‚abgebildet‘ werden, sondern daß sie sich gruppieren: „Bison und Pferd nehmen das Zentrum der Fläche ein, Steinböcke und Hirsche umgeben sie auf beiden Seiten, Löwen und Nashörner nehmen den Rand der Fläche ein. Das gleiche Thema kann sich mehrfach in der gleichen Höhle wiederholen: Es findet sich, trotz seiner Variationen identisch, in einer Vielzahl von Höhlen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.247)

Ähnlich werden in den Bilderschriften der Azteken, der frühen Ägypter und Chinesen nicht ‚Buchstaben‘ aneinandergereiht, sondern in Gruppen angeordnet: „In der Tat bieten sich die ältesten chinesischen Inschriften (aus dem 11. und 12. Jahrhundert vor unserer Zeit) wie die ersten ägyptischen Inschriften und die aztekischen Glyphen in Gestalt von Figuren dar, die zu Gruppen versammelt sind und den Gegenstand oder die Handlung mit einem Halo versehen, der den verengten Sinn, den die Worte in den linearen Schriften angenommen haben, weit übersteigt. Transkribiert man ngan (der Friede) und kià (die Familie) in Buchstabenschrift, so reduzieren sich die so hervorgegangenen Vorstellungsgehalte auf ihr Skelett. Vergegenwärtigt man dagegen die Vorstellung des Friedens, indem man eine Frau unter ein Dach setzt, so eröffnet man damit eine im eigentlichen Sinne mythographische Perspektive, weil darin weder die Transkription eines Lautes noch die piktographische Darstellung einer Handlung oder einer Qualität zum Ausdruck kommt, sondern die Verschränkung zweier Bilder, die mit der ganzen Tiefe ihres ethnischen Umfeldes ins Spiel kommen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.256f.)

Nebenbei bemerkt: das Wort ‚Halo‘ könnte man auch mit ‚Hof‘ übersetzen, und steht so wiederum dem Feld-Begriff nahe. (Vgl. meinen Post vom 01.02.2013) Und insofern die ‚Worte‘ in der Bilderschrift einen größeren, weil ungenaueren Bedeutungshof haben und ihre Figurengruppen zu ‚Verschränkungen‘ bzw. ‚Überblendungen‘ führen, bewegen wir uns auch im Bereich der Blumenbergschen Metaphorologie. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011; vgl. außerdem meinen Post vom 20.07.2011)

Der von Leroi-Gourhan angesprochene „Halo“ bildet eine „strahlenförmige“ Organisationsform von zusammengehörigen Bedeutungen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.247) Dabei haben wir es nicht etwa mit einer veralteten Ausdrucksform zu tun, mit der wir in unserer wissenschaftlich-technologischen Zivilisation nichts mehr anfangen können. Tatsächlich operieren verschiedene wissenschaftliche Disziplinen auf der Ebene dieser Ausdrucksform: „Vorrangige Bedeutung erhält sie auch in jenen Wissenschaften, in denen die Linearität der Schrift ein Hindernis darstellt; die algebraische Gleichung und die Formeln der organischen Chemie vermögen den Zwang zur Eindimensionalität in Figuren zu überwinden“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.249) – Bei der organischen Chemie denke man z.B. an die Proteinfaltung, von der schon in meinem Post vom 04.02.2013 die Rede war.

In dem letzten ausführlichen Zitat ist auch von der „mythographischen Perspektive“ der Bilderschrift die Rede. Hierin kommt eine im Vergleich zur linearen Schriftlichkeit umgekehrte Verhältnisbestimmung von Graphismus und gesprochener Sprache zum Ausdruck. Hinter den Figurengruppen der Höhlen- und Felsmalereien steht ein „mündlicher Kontext“, der „in einem engen Zusammenhang mit der symbolischen Anordnung stand und dessen Werte räumlich reproduzierte“. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.247) ‚Mytho-graphisch‘ meint also eine Verschränkung mündlicher Texte mit graphischen Figuren. Die graphischen Figuren ‚fixieren‘ mythische Elemente, die Leroi-Gourhan auch als „Mythogramme“ bezeichnet. Verstanden werden können diese graphischen ‚Pflöcke‘ aber nur, wenn die zugehörigen Mythogramme auch erzählt werden.

Bei den frühesten graphischen Darstellungen wie den Höhlen- und Felsmalereien bis hin zu den aztekischen und ägyptischen Hieroglyphen und der chinesischen Schrift steht also das gesprochene Wort im Dienst der Zeichnungen, während bei der linearen Buchstabenschrift die Zeichen im Dienst des gesprochenen Wortes stehen. – Dabei muß allerdings angemerkt werden, daß Leroi-Gourhan das gesprochene Wort nur in seiner zeitlichen Dimension thematisiert: „Die Leistung der Schrift bestand eben darin, den graphischen Ausdruck durch die Verwendung der linearen Anordnung vollständig dem phonetischen Ausdruck unterzuordnen. ... Das Bild besitzt noch eine dimensionale Freiheit, die der Schrift stets fehlen wird ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.246)

Leroi-Gourhan unterschlägt hier die räumliche Dimension der Sprache, ihre  „Voluminosität“. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2010) Die räumlichen Dimensionen behält er dem Graphismus vor, während „die phonetische Sprache“ das menschliche Selbst- und Weltverhältnis „in der einzigen Dimension der Zeit zum Ausdruck bringt“. (Leroi-Gourhan 1980, S.246). Und die „Buchstaben“ machen „aus dem Denken“ endgültig „eine buchstäblich eindringende Linie ..., eine Linie, die zwar von großer Reichweite, aber dünn wie ein Faden ist“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.249).

Davon abgesehen leuchtet mir aber die Umkehrung des Dienstverhältnisses von gezeichneter und gesprochener Welt durchaus ein. Die unterschiedlichen phylogenetischen Funktionen des Graphismus und der linearen Schrift, die Beschleunigung des Entwicklungsganges durch die lineare Schrift, werden von Leroi-Gourhan auf plausible, gut nachvollziehbare Weise dargestellt. Vor diesem Hintergrund jedenfalls ist es nicht mehr so einfach, die Rekursivität als einen zu anspruchsvollen, gegenüber der linearen Verkettung von Begründungszusammenhängen bloß abgeleiteten „Modus der Verständigung“ zu bezeichnen.

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