„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

In „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) bezeichnet Tomasello die extravagante Syntax als einen „Modus der Narration“. (Vgl. Tomasello 2009, S.261; vgl. auch meinen Post vom 27.04.2010). Das rekursive Konzept der geteilten Aufmerksamkeit beinhaltet nämlich das durchaus „anspruchsvolle“ Problem – an dieser Stelle (vgl. Habermas 2012, S.65) stimme ich Habermas zu –, sicherzustellen, daß eine Gemeinschaft von Zuhörern – es kann immer nur einer sprechen – nicht den Faden verliert, wenn der Sprecher – wiederum mit Habermas – seine ‚Gründe‘ auf verschiedenen ‚argumentativen‘ Ebenen verteilt. Tomasello spricht in diesem Fall von dem Problem der „Referenzverfolgung“. (Vgl. Tomasello 2009, S.305) Ich möchte an dieser Stelle lieber von ‚Referentenverfolgung‘ sprechen, um damit den Umstand hervorzuheben, daß bei der Erörterung eines Sachverhaltes viele verschiedene Gegenstände (Referenten) angesprochen werden können, die wiederum auf verschiedenen Ebenen verteilt sein können.

Wollte man so einen komplex gegliederten Sachverhalt vor einer Vielzahl von Zuhörern, die wiederum ihre eigenen Perspektiven an diesen Sachverhalt herantragen, ausschließlich in linear aneinandergereihten Sätzen (Tomasello: „ernsthafte Syntax“) ‚verhandeln‘, würden die Zuhörer, und wahrscheinlich auch der Sprecher, die Sache, um die es geht, bald aus den Augen verlieren. Um das zu verhindern, schaltet der Sprecher in einen anderen ‚Modus‘ um, den Modus der Narration, und erzählt eine Geschichte, die, wie Tomasello schreibt, einen „Kommunikationskontext“ darstellt, der eine „filigrane zeitliche Buchhaltung“ erlaubt. (Vgl. Tomasello 2009, S.304)

Die ‚Syntax“ der Narration besteht nicht einfach in einer grammatischen Aneinanderreihung von Sätzen, sondern verteilt sich auf verschiedene Ebenen. Sie entspricht der rekursiven Dynamik verschiedener ‚Egos‘, die ihr Wissen im Verlauf der Erzählung aufeinander abstimmen. Harald Welzer beschreibt das sehr schön am Prinzip der „Montage“ (vgl. meinen Post vom 20.03.2011): Die Zuhörer kombinieren die verschiedenen ‚syntaktischen‘ Elemente der Erzählung so miteinander, daß sie innerhalb ihres jeweiligen Verstehenshorizontes einen sinnvollen Zusammenhang ergeben.

Verstehenslücken füllen die Zuhörer auch schon mal mit eigenem Sinn. Dabei gehören die Verstehenslücken zum narrativen Prinzip! Sie liegen nicht etwa an der Unfähigkeit des Erzählers. Um eine Vielzahl von Zuhörern ‚ansprechen‘ zu können, muß eine Erzählung Lücken haben, weil diese Lücken es den Zuhörern ermöglichen, sich die Erzählung zueigen zu machen, also mit eigenem Sinn zu füllen.

Es macht also Sinn, wenn auch Habermas mit seinem pragmatischen Re-Konstruktivismus auf narrative Elemente zurückgreift. Dabei knüpft er wie Tomasello an ihre ‚extravagante‘ Syntax an: „Aus dem Narrativen entsteht ein Netz von ‚Korrespondenzen‘, in das auch rituelle Handlungen eingebettet sind ...“ (Habermas 2012, S.27) – Habermasens Hinweis auf das „Netz von ‚Korrespondenzen‘“ ist auch im Sinne der Tomaselloschen Referentenverfolgung zu verstehen. Um die Vielzahl von Bezügen (Korrespondenzen) zwischen den verschiedenen ‚Referenten‘ zu verstehen bzw. zu ‚verfolgen‘, bedarf es eben komplexer Erzähltechniken, die über einfaches, lineares Argumentieren hinausgehen.

Anstatt aber nun auf den Sinnreichtum narrativer Erzähltechniken einzugehen, setzt Habermas diese Erzähl-‚Techniken‘ mit magischen Praktiken der Kontrolle und Gewaltausübung gleich: „So verschmilzt in magischen Praktiken die performative Einstellung, in der sich eine erste Person auf eine zweite Person einstellt, um sich mit ihr über etwas zu verständigen, mit der objektivierenden Einstellung eines Technikers gegenüber unpersönlichen oder überpersönlichen Mächten, auf die er kausalen Einfluss ausüben möchte. Indem der Zauberer mit einem Geist kommuniziert, erlangt er Gewalt über ihn.“ (Habermas 2012, S.27) – Und nicht nur der Zauberer erlangt Gewalt über einen dämonischen Geist, wie man ergänzen muß, sondern eben auch der Erzähler über den Geist seiner Zuhörer.

Natürlich läßt sich nicht leugnen, daß narrative Techniken der Referentenverfolgung etwas mit ‚Kontrolle‘ zu tun haben, weil es in ihnen ja essentiell um Aufmerksamkeitslenkung geht. Aber der ursprüngliche Sinn einer Erzählung besteht doch vor allem in der Stiftung und in der Übung der gemeinsamen Aufmerksamkeit selbst! In der Erzählung findet sich eine Gemeinschaft zusammen; und über die Erzählung bildet sie sich überhaupt erst. Das Erzählen von Geschichten führt, wie Tomasello festhält, zur „Erweiterung“ eines „gemeinsamen Hintergrunds“ und schafft damit neue „Kommunikationsgelegenheiten“. (Vgl. Tomasello 2009, S.310) Tomasello vergißt auch nicht den ‚technischen‘ Aspekt: „Außerdem werden wir dadurch den anderen ähnlicher und verbessern unsere Aussichten auf soziale Akzeptanz ...“ (Ebenda)

Habermas aber beschränkt sich auf diesen technischen bzw. pragmatischen Aspekt der Narrativität. Die ‚semantischen‘ Potentiale des Geschichtenerzählens im Dienste der gleichzeitig individuellen wie gemeinschaftlichen Sinnfindung werden von ihm zugunsten der syntaktischen Verkettung von Gründen vernachlässigt: „Sobald sich die Gestenkommunikation in den alltäglichen Kooperationszusammenhängen zur vollen grammatischen Rede ausgebildet hat, öffnen sich beide Kommunikationsformen für Aussagen und für die narrative Verknüpfung von Aussagen, das heißt für Gründe.“ (Habermas 2012, S.69)

Das liegt ganz wesentlich daran, daß die individuelle Sinnfindung bei Habermas nur eine untergeordnete, abgeleitete Funktion darstellt. Im Vordergrund stehen die „Vergemeinschaftung“ individueller „Motive“ und der „Zangendruck aus simultaner Vergesellschaftung und Individualisierung“. (Vgl. Habermas 2012, S.68) Deshalb sind es bei einer Erzählung auch nicht die erzählerischen ‚Lücken‘ und die individuelle ‚Montage‘, die Habermasens Interesse wecken, sondern der „Sog“, den die Erzählung auf das Individuum in die Gemeinschaft des Zuhörens hinein ausübt. (Vgl. ebenda) An die Stelle der ‚Lücken‘ treten „bedeutungsidentisch verwendete Symbole“ (ebenda), die für individuelles Sinnverstehen gar keinen Raum mehr lassen.

So tritt, unterstützt von der Narrativität, die „starke Normativität“ der „rituellen Praxis“ zur ansonsten eher „schwachen Normativität eines übersubjektiven Sprachlogos“ hinzu, um sie abzusichern und die „störanfällige Balance“ zwischen „individueller und kollektiver Selbstbehauptung“ aufrechtzuerhalten. (Vgl. Habermas 2012, S.68f.) Allerdings ist die von Habermas behauptete „strukturelle Spannung zwischen individueller und kollektiver Selbstbehauptung“, die diese Balance so störanfällig macht, in keiner individuellen Materie begründet. In seiner gesamten Darstellung ist für das Individuum nirgendwo der Raum, in dem es sich finden und behaupten könnte.

Download

Samstag, 23. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Im Zuge seiner Differenzierung zwischen Alltagswelt, Lebenswelt und objektiver Welt (vgl. meinen Post vom 16.02.2013) unterscheidet Habermas zwischen objektiver Welt und Lebenswelt, indem er vor allem den Vollzugscharakter der Lebenswelt hervorhebt, „in deren Horizont wir uns intentional auf etwas ‚in der Welt‘ richten“ und von der wir uns „so lange nicht lösen, wie wir im Vollzug dieser intentionalen, ob nun sprachlichen oder nichtsprachlichen, Aktivitäten begriffen sind.“ (Vgl. Habermas 2012, S.25) Die Lebenswelt bildet also einen Innenhorizont, zu dem es keinen Außenhorizont gibt, wie ich selbst es schon in einigen Posts zur Lebenswelt dargestellt habe. (Vgl.u.a. meinen Post vom 13.01.2012)

Die objektive Welt beschreibt Habermas hingegen als „Gesamtheit der beschreibungsunabhängig existierenden Gegenstände oder Referenten“. (Vgl. Habermas 2012, S.25) Die Beschreibungsunabhängigkeit dieser objektiven Gegenstände entspricht weitgehend dem, was ich als „Außenhorizont“ bezeichne und dem Wahrnehmungsglauben zuordne. (Vgl.u.a. meinen Post vom 13.01.2012) Mit dem Lebensweltglauben bezeichne ich also den Binnenhorizont der Lebenswelt und mit dem Wahrnehmungsglauben den Außenhorizont der objektiven Welt.

Die Alltagswelt wird von Habermas nun als eine pragmatische Lebenswelt bestimmt, insofern er sie als den „natürliche(n) Ort“ (Habermas 2012, S.54) bzw. „eigentlichen Ort“ (Habermas 2012, S.55) des „Gebrauch(s) von Gründen“ beschreibt. (Vgl. Habermas 2012, S.54f.) Sie stellt eine Vermischungsform von Lebensweltglauben und Wahrnehmungsglauben dar, also eine gleichzeitige Befangenheit im Binnenhorizont einer Lebenswelt und in der Selbstpositionierung gegenüber einer unveränderlichen Außenwelt: „Zwar können wir uns von der im Hintergrund präsenten Lebenswelt, in deren Horizont wir uns intentional auf etwas ‚in der Welt‘ richten, so lange nicht lösen, wie wir im Vollzug dieser intentionalen, ob nun sprachlichen oder nichtsprachlichen, Aktivitäten begriffen sind. Aber wir können wissen, dass dieselbe objektive Welt – aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters – wiederum uns, unsere Interaktionsnetze und deren Hintergrund Seite an Seite mit anderen Entitäten einschließt. Das prägt unsere inklusive Alltagswelt, die Welt des Common Sense.“ (Habermas 2012, S.25f.)

Da beide Glaubensformen Vollzüge darstellen, also im Rücken unseres Bewußtseins fungieren, ist es leicht nachvollziehbar, daß in der Alltagswelt Innenwelt- und Außenweltperspektiven einander auf unreflektierte Weise abwechseln, obwohl sie nicht wirklich miteinander verschmelzen. Denn die Lebenswelt hat prinzipiell keinen Außenhorizont, und der Wahrnehmungsglaube ist prinzipiell auf eine Außenwelt bezogen. Die Alltagswelt ist also in der Tat inklusiv, und in dieser Hinsicht stimme ich Habermasens Analyse ausdrücklich zu. Aber diese Analyse darf nicht dazu führen, daß wir die weiter bestehende Differenz von Lebensweltglauben und Wahrnehmungsglauben übersehen. Denn genau darin besteht letztlich die Doppelaspektivität des Körperleibs und seine exzentrische Positionalität.

Download

Freitag, 22. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Die Ausgangsproblematiken, von denen aus Jürgen Habermas und Helmuth Plessner ihre jeweiligen Anthropologien ‚konstruieren‘, sind äußerst verschieden. Plessner eröffnet mit dem „Körperleib“ eine individuell-subjektive Perspektive auf die Welt, die darin besteht, daß der Mensch, an der Grenze von Innen und Außen stehend, sich finden muß, um sein Leben führen zu können. Die Gegenüberstellung von ‚Körper‘ und ‚Leib‘, von Außen und Innen eröffnet einen inneren Bewußtseinsraum, dessen Hauptbedürfnis darin besteht, sich auszudrücken.

Der nach außen gerichtete Intentionsstrahl bricht sich an den verschiedenen Medien des Sagens und Handelns und wendet sich so auf sich selbst zurück, um sich dessen, was wir meinen bzw. wollen, aufs Neue zu vergewissern. Denn Sagen und Meinen, Handeln und Wollen, kommen aufgrund der Doppelaspektivität von Innen und Außen prinzipiell nicht zur Deckung. (Vgl. meinen Post vom 26.10. und vom 29.10.2010)

Es gibt bei Plessner also keinen Handlungsdruck, sondern einen Existenzdruck bzw. einen Präsentationsdruck. Bevor wir sprechend und handelnd unsere Zwecke und Ziele verfolgen und einholen können, müssen wir uns vor uns selbst und anderen wie uns selbst verständlich werden. Anders bei Habermas. Sein pragmatischer Konstruktivismus geht von vornherein von einem Handlungsdruck aus, der die Menschen dazu zwingt, zu kooperieren. Die intersubjektive Perspektive auf die Welt hat bei Habermas das Primat, von dem her eine egozentrische Perspektive sich erst absetzen läßt, „da sich die Selbstverhältnisse, die die Rede von einem ‚Ich‘ gestatten, erst auf der erreichten sprachlichen Kommunikationsstufe herausbilden. Das ‚Ich‘ ist eine soziale Konstruktion ...“ (Vgl. Habermas 2012, S.62, Anm.Nr.8)

Deshalb konzipiert Habermas die Lebenswelt nicht als ein kollektives Unterbewußtes, das seine Motive unter Umgehung des Bewußtseins zum individuellen Handeln beiträgt, sondern als einen „Raum der Gründe“ (Habermas 2012,  S.24, 55, 57 (Anm.Nr.3), 74). Wenn es deshalb bei Habermas so etwas wie eine Differenz gibt, so nicht auf der Ebene der Semantik – Habermas spricht von „bedeutungsidentisch verwendete(n) Symbole(n)“ (vgl. Habermas 2012, S.68) –, sondern nur auf der Ebene der Pragmatik: „Der Inhalt eines Sprechakts selbst stellt für den Adressaten einen Grund dar und lässt sich nicht auf eine Intention, die ein Sprecher einem Hörer zu erkennen geben möchte, reduzieren. ... Im Raum der Gründe erschöpft sich das Gesagte nicht im Gemeinten.“ (Habermas 2012, 57, Anm.Nr.3)

Hier gerät Habermas aber wieder in einen inneren Widerspruch (vgl. hierzu meine Posts vom 15.01. und vom 16.01.2013), denn entweder ist die Lebenswelt selbst schon der Raum der Gründe, wie es der Titel des ersten Teils seines Buches, „Die Lebenswelt als Raum der Gründe“, vorwegnimmt, oder der „Raum der Gründe“ muß selbst noch einmal als etwas Eigenes von dieser Lebenswelt unterschieden werden, wie es folgende Feststellung von Habermas impliziert: „Der Raum der Gründe ist in einen nichtverbalisierbaren oder vorprädikativen Sinnhorizont eingebettet.“ (Habermas 2012, S.74) – Wäre der Raum der Gründe nur in diesen lebensweltlichen Sinnhorizont eingebettet, gäbe es kein begriffliches Problem mit einer gleichzeitig irrationalen („nichtverbalisierbaren oder vorprädikativen“) und rationalen Funktion der Lebenswelt. Der rationale Teil wäre eben mit dem in die Lebenswelt bloß eingebetteten, aber von ihr unterscheidbaren „Raum der Gründe“ verknüpft.

Habermas schwankt immer wieder zwischen diesen verschiedenen Versuchen, die Lebenswelt zu bestimmen, hin und her. Mal soll die Lebenswelt als „Wissensvorrat“ dienen, den die Kommunikationspartner wechselseitig nach Bedarf aktualisieren, d.h. in dem jeweiligen Situationszusammenhang verwenden können, um ihre Handlungen zu koordinieren; ein andermal aber ‚fungiert‘ diese Lebenswelt in der Form eines Unterbewußten. Denn wenn sich im „Raum der Gründe“ das Gesagte nicht im Gemeinten erschöpft, bleibt das Ungesagte auf unkontrollierbare Weise virulent. Der betreffende Satz wäre nur dann widerspruchfrei, wenn da statt das ‚Gesagte‘, das ‚Behauptete‘ stünde, also: „Im Raum der Gründe erschöpft sich das Behauptete nicht im Gemeinten.“

Denn nur dort, wo ich einem Gesprächspartner gegenüber behaupte, daß sich mein Gesagtes im von mir Gemeinten ‚erschöpft‘, also daß sich beides ohne Differenz deckt, müßte ich auf dessen Nachfrage hin nachträglich das im Gesagten ungesagt bleibende Gemeinte in Form von Gründen einholen. Und diese Prozedur bliebe prinzipiell unendlich, es sei denn, sie ‚erschöpft‘ sich in der Bereitschaft des Gesprächpartners, die bereits angeführten Gründe als ausreichend zu akzeptieren.

Habermas selbst kommt diesem Zusammenhang von Gesagtem, Gemeintem und Behauptetem recht nahe, wenn er vom „interne(n) Zusammenhang des semantischen Gehalts mit einem Potential von Gründen“ spricht. (Vgl. Habermas 2012, S.58) Hier ist eine Differenz angedeutet, die die Differenz der Lebenswelt selbst ist. Der in der Lebenswelt ‚gespeicherte‘ semantische Gehalt bildet ein argumentatives Potential, auf das wir, wenn wir argumentieren bzw. Behauptungen aufstellen, zurückgreifen können, wenn wir unsere Behauptungen belegen müssen. Der semantische Gehalt wird in Gründe umgeformt und wird so teilweise explizit.

Gründe sind nämlich nur dann Gründe, wenn sie im Gespräch als Gründe angeführt werden. ‚Als‘ Gründe können sie nicht ungesagt bleiben, in einem wie auch immer verborgenen ‚Raum von Gründen‘. Sie können auch nicht, wie Habermas schreibt, „im Hintergrund“ „operieren“. (Vgl. Habermas 2012, S.56) Das würde nämlich nur bedeuten, daß sie entweder von einem von (mindestens) zwei Gesprächspartnern absichtlich verschwiegen würden oder daß sich alle anwesenden Gesprächspartner über ihre eigentlichen Motive täuschen und gerade etwas ganz anderes tun, als sie denken.

‚Motive‘ und ‚Gründe‘ sind nicht dasselbe. Unausgesprochene ‚Gründe‘ sind bloß Motive. Motive, die ausgesprochen werden, sind Gründe. Insofern wir niemals alle unsere Motive kennen können – siehe Plessner –, bestimmen sie uns unbewußt. Nur insofern wir sie aussprechen können, bestimmen nicht die Motive uns, sondern wir die Motive. Erst jetzt können sie als Gründe verhandelt und bewertet werden.

Aufgrund seines pragmatischen Re-Konstruktivismus befinden sich die Menschen bei Habermas immer schon in einer Welt, in der sie sich orientieren müssen, und „Gründe verschaffen orientierungsbedürftigen Personen Aufklärung über intransparente oder rätselhafte Umstände, die stören, weil sie in den Horizont eines wie immer auch nur vage – oder, wie sich herausstellen kann, falsch – verstandenen Ganzen ein Loch aufreißen.“ (Vgl. Habermas 2012, S.55)

Anstatt sich also überhaupt erst eines Selbst- und Weltverhältnisses vergewissern zu müssen, wie bei Plessner, muß bei Habermas das immer schon vorhandene Selbst- und Weltverhältnis, die Lebenswelt, vor allem repariert und ausgebessert werden: „Gründe stellen das durch Unverständnis gestörte epistemische Verhältnis zu einer vertrauten Welt wieder her. Sie reparieren selbst dann eine aufgescheuchte lebensweltliche Naivität, wenn sie unser Weltverständnis revolutionieren.“ (Habermas 202, S.55; vgl. hierzu auch meinen Post vom 17.02.2013)

Störungen der fungierenden Lebenswelt bieten bei Habermas also nicht die individuelle Chance einer Selbstvergewisserung, sondern stellen nur die gesellschaftliche Aufgabe einer Reparatur dieser Lebenswelt. Um keinen Zweifel an dieser pragmatischen Funktion von Gründen zu lassen, bezeichnet Habermas sie auch schon mal als „Gleitmittel ungestörter Kooperation.“ (Vgl. Habermas 2012, S.56) – Als solche sorgen sie für die Bedeutungsidentität von Welt (vgl. Habermas 2012, S.48, 89) und Symbolen (vgl. Habermas 2012, S.68).

Zur Problematik der Bedeutungsidentität versus einer Bedeutungsdifferenz vergleiche auch meinen Post vom 07.07.2011.

Download

Donnerstag, 21. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Ich habe schon in meinen Posts vom 16.02. und vom 18.02.2013 darauf hingewiesen, daß der Intersubjektivität, an der sich Habermas orientiert, die materielle Basis fehlt. Nach Habermasens Darstellung beruht die Evolutionsgeschichte vor allem auf kognitiven Schüben: „Die folgende, sehr grobe Skizze der Weltbildentwicklung ist ein Vorschlag, drei Zäsuren auf dem Wege ‚von den Weltbildern zur Lebenswelt‘ als kognitive Schübe zu begreifen, die zu erweiterten Weltbildperspektiven geführt haben.“ (Habermas 2012, S.28).

Habermas zählt zwei (vgl. Habermas 2012, S.73) bis drei (vgl. Habermas 2012, S.29, 32, 34) solcher Schübe auf, von denen der erste in der sogenannten ‚Achsenzeit‘ um 500 vor unserer Zeitrechnung liegt, wo „in Persien, Indien und China, in Israel und Griechenland die bis heute wirksamen religiösen Lehren und kosmologischen Weltbilder“ entstehen (vgl. Habermas 2012, S.29), der zweite im europäischen Mittelalter über den Nominalismus „in Richtung eines dezentrierten Begriffs der Welt als der Gesamtheit physikalisch beschreibbarer Zustände und Ereignisse“ geht (vgl. Habermas 2012, S.32) und mit dem dritten Schub „zum säkularen und verwissenschaftlichten Weltverständnis der Moderne ... sich erneut die begriffliche Konstellation von Lebenswelt, objektiver Welt und Alltagswelt (verändert)“ (vgl. Habermas 2012, S.34).

Die menschliche Evolution bezeichnet Habermas insgesamt als „kulturellen, sich immer weiter beschleunigenden“ Lernprozeß, der den „Mechanismus von Mutation und Selektion“ ablöst, indem er an dessen Stelle die „reziproke() Verwendung von Symbolen“ setzt. (Vgl. Habermas 2012, S.87) Bei der Darstellung des beschleunigenden Effektes einer vollausgebildeten Sprache auf die kulturelle Entwicklung versäumt es Habermas, auf die Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu verweisen. Stattdessen spricht er summarisch von „pragmatischen Rahmenbedingungen“: „Für eine symbolisch vermittelte Kommunikation ‚sprachlichen‘ Charakters genügt der konventionalisierte Austausch von Gesten. Dafür ist die Beherrschung einer grammatischen Sprache noch nicht nötig. Der semantische Gehalt, den beispielsweise Interjektionen, Einwortsätze oder kindliche Gesten ausdrücken, besteht – wie beim Ausruf ‚Feuer!‘, der sich gleichzeitig auf einen Vorgang bezieht, Furcht ausdrückt und um Hilfe bittet – aus einem Syndrom von drei noch ungetrennten Elementen: der Wahrnehmung einer Episode oder eines Zustandes in der Welt, den Expressionen der jeweils eigenen Stimmungen oder Affekte sowie den dazugehörigen, an Andere gerichteten Imperativen und Verhaltenserwartungen.()“ (Habermas 2012, S.88)

Wo aber für die „evolutionär entscheidende Innovation“ die „Beherrschung einer grammatischen Sprache noch nicht nötig ist“, bedarf es auch keiner Schriftlichkeit, um die eigentliche kulturelle Revolution in Gang zu bringen. Sogar zur „grammatischen Verknüpfung solcher einfachen semantischen Konventionen“, zu denen „es im Laufe von Phylo- bzw. Ontogenese“ kommt, mit ihren aus „referentiellen und prädikativen Ausdrücken zusammengesetzten Struktur von Aussagen“ und der „Unterscheidung zwischen propositionalen Bestandteilen und dem illokutionären Modus ihrer Verwendung“ (vgl. Habermas 2012, S.89) brauchen wir nur die mythologischen Erzähltraditionen mit ihrer „extravaganten Syntax“ (vgl. Tomasello (2009) und meine Posts vom 26.04. und vom 27.04.2010) und keine eigene Schriftlichkeit. Habermas ordnet den Mythos dem „sakralen Komplex“ zu und spricht von „Mythen und Riten“. (Vgl. Habermas 2012, S.78f.) Ein Blick auf die evolutionären Zeiträume einer solchen Mündlichkeit zeigt aber, daß sich hier in der Menschheitsentwicklung nicht viel tut. Ich verweise auf Habermasens eigene Darstellung:
„Wenn wir den sakralen Komplex verstehen wollen, müssen wir auf die kulturanthropologischen Beobachtungen von sogenannten modernen Naturvölkern zurückgreifen, aus denen sich Rückschlüsse auf die bis ins 11. Jahrtausend v.Chr. zurückreichenden neolithischen Lebensformen ziehen lassen. Denn in den jüngeren literarischen Zeugnissen und archäologischen Funden der besser zugänglichen frühen Hochkulturen spiegelt sich bereits die Rekonstruktion eines älteren Bestandes an Mythen und Riten. Dessen Ausarbeitung und literarische Fortbildung hat seit etwa 3000 v.Chr. unter dem Einfluss der Interessen staatlich organisierter Herrschaft und auf dem Niveau eines sich herausbildenden historischen Bewusstseins stattgefunden. Die Anfänge des sakralen Komplexes reichen allerdings auch hinter die jüngere Steinzeit noch weit zurück. Die ältesten in Australien aufgefundenen Felsenmalereien, die auf Kultstätten schließen lassen, werden auf ein Alter von 50.000 Jahren datiert, während die erste bei homo sapiens nachgewiesene Bestattung etwa 100.000 Jahre alt ist. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten Funde von Schmuckgegenständen. Das unverwüstliche Material dieser Muschelperlen erinnert freilich daran, dass noch ältere mythische Erzählungen und rituelle Handlungen in den flüchtigeren Medien von Rede, Gesang und Tanz gar keine Spuren hinterlassen haben können.() Daher gibt es naheliegende Spekulationen über ältere, hinter die archäologischen Funde zurückreichende Ursprünge des sakralen Komplexes in der Periode der Entstehung von homo sapiens und homo neanderthalensis aus dem älteren homo heidelbergensis (vor 300.000 bis 100.000 Jahren).“ (Habermas 2012, S.78f.)
So verliert sich die kulturelle Phylogenese immer weiter in die Vergangenheit – Günter Dux spricht sogar von einem Zeitraum von 1,8 Millionen Jahren (vgl. meinen Post vom 10.09.2012) – und man weiß nicht recht, wo man die Beschleunigung der kulturellen Evolution nun eigentlich genau hindatieren soll, eine ‚Beschleunigung‘ die sich über hunderttausende von Jahren erstreckt und mehr an biologische Zeiträume denken läßt als an im engeren Sinne kulturelle. (Vgl. meinen Post vom 18.11.2012)

Es ist zwar in dem ausführlichen Zitat auch von einer etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung einsetzenden literarischen Fortbildung der Mythen und Riten die Rede, wie etwa in Blumenbergs „Arbeit am Mythos“ (1979), aber anders als Blumenberg geht Habermas auch hier mit keinem Wort auf den fundamentalen Einschnitt in der kulturellen Evolution ein, den diese literarische Bearbeitung des Mythos bedeutete. Dabei liefert die Umstellung von der Mündlichkeit auf die Schriftlichkeit, die vor etwa 5000 Jahren begann, eine materielle Erklärung für ein neues Welt- und Selbstverhältnis, in das jene kognitiven Schübe, von denen Habermas spricht, eingebettet sind.

War der Mensch, folgt man Plessner, aufgrund der Anatomie seines Körperleibs in eine exzentrische Position zu sich und seiner Welt geraten, so war er in den langen Jahrzehntausenden und Jahrhunderttausenden auf der Basis einer Mündlichkeit, die kulturelles Wissen nur im drei bis vier Generationenrhythmus weitergeben konnte, nach dem alles, was weiter zurücklag als 80 Jahre, zur grauen Vorvergangenheit ferner Ahnen gehörte, in eine Welt eingebettet, die sich niemals änderte, sondern zyklisch wiederholte. Der exzentrischen Positionalität der Individuen entsprach keine gesellschaftliche Struktur. Die Gemeinschaft, in der dieser Mensch lebte, basierte auf Verwandtschaftsbeziehungen und dem Gabentausch.

Erst mit der Schrift begannen sich die Menschen Gedanken über ihre Vergangenheit zu machen und sogar das Bedürfnis zu entwickeln, anders zu leben als die Vorfahren und etwas Neues mit dem eigenen Leben anzufangen. (Vgl. hierzu Assmann und meinen Post vom 05.02.2011) So wurde die Schrift zur materiellen Basis einer exzentrisch positionierten Kulturalität, ähnlich wie der Körperleib die materielle Basis der exzentrischen Positionalität des individuellen Menschen bildet. Erst jetzt, wo sich die individuelle und die gesellschaftliche Anatomie entsprachen, konnten sich beide wechselseitig dynamisieren und genau jene kulturelle Beschleunigung in Gang setzen, von der immer gerne geredet wird, wenn es um die Menschheitsentwicklung geht, die aber tatsächlich erst vor 5000 Jahren einsetzt.

Wenn man wissen will, wie sich die Schrift auf unser Verhältnis zu unserem Körper ausgewirkt hat, kenne ich nichts Besseres als Christina von Brauns „Der Preis des Geldes“ (2/2012). (Vgl. meine Posts vom  09.11. bis zum 22.12.2012)

PS (13. Dezember 2020):
Meine Kritik an Habermasens Fortschrittsgeschichte konzentriert sich hier auf die Vernachlässigung der Schrift als kulturelles Beschleunigungsmoment. Es gibt aber noch ein anderes Moment, das Habermas konsequent unterschlägt und auch in seinem neuesten Werk, „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2 Bde., 2019), kommt es nicht vor: der Beginn des Patriarchats vor drei- bis viertausend Jahren. In meiner aktuellen Lektüre, „Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011) von Carola Meier-Seethaler, beschreibt die Autorin, wie der Wechsel vom Matrizentrismus zum Patriarchat zur Etabierung einer ‚Kultur‘ der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen durch eine ihr destruktives Potential fortwährend steigernde Technologie, wie wir sie heute vor Augen haben, geführt hat.
Im Titel des Buches steht „Ursprünge“ für den „Beginn unserer heutigen Kulturbasis“, also für das Patriarchat, mit dem ein „tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel“ einhergegangen ist. (Vgl. CMS 2011, S.27) Dabei ist das Patriarchat in seinen Ursprüngen motiviert durch die biologische „Outsiderposition“ des Mannes, nämlich nicht gebären zu können. Viele Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende, je nachdem wie weit man den homo sapiens zurückdatiert, war den Menschen nicht bewußt, daß der Mann zum Zeugungsakt eines Kindes was beitrug. Die Rolle des Vaters hatte immer der Bruder der Mutter inne. Diese Unkenntnis war auch durch eine „Ovulationshemmung“, die es heute nicht mehr gibt, während der drei- bis vierjährigen Stillzeit bedingt, in der die Mutter Sex haben konnte, aber nicht ‚befruchtet‘ werden konnte. ‚Befruchtung‘ ist übrigens wieder so ein verfälschender Terminus, weil die ‚Frucht‘ ja nicht vom Mann stammt, sondern von der Frau.
Als dann über die Viehzucht im Neolithikum der Beitrag des Mannes erkannt wurde, begannen die Männer diesen ‚Zeugungsakt‘ so zu überhöhen, daß sie auf lange Sicht, also im Verlauf von mehreren Jahrtausenden, allmählich die matrizentrische Kultur verdrängten und, vor allem in den letzten drei- bis viertausend Jahren, ihre ‚Minderwertigkeit‘ hinsichtlich der Gebärfunktion mit Hilfe des Patriarchats überkompensierten.
So viel zu den ‚Ursprüngen‘. Was die „Befreiungen“ betrifft, geht es der Autorin um eine gleichzeitig gesellschaftliche wie individuelle „Befreiung zur Partnerschaft“, in der sich die „Fragen der Sexualität ebenso neu zu stellen haben, wie die Frage nach der Ehe oder anderen dauerhaften Gemeinschaften“. (Vgl. CMS 2011, S.34) Dabei ist Meier-Seethaler zwar Feministin, aber sie hält nach wie vor an der verschiedenartigen Körperlichkeit von Männern und Frauen fest. Männer können eben nicht Kinder gebären; das macht auch psychologisch einen Unterschied. Letztlich gibt es der Autorin zufolge nur eine Ebene, auf der Frauen und Männer ursprünglich gleich sind: im „Überlebenskampf in der Natur“ und in ihrer „existenziellen Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen“: „Dabei waren weder die psychischen Schöpfungen von Mythos und Kult noch die materiellen Kulturinnovationen dem männlichen Geschlecht vorbehalten, vielmehr spricht alles dafür, dass sowohl im sozialen wie im kulturellen Bereich zunächst ein Ungleichgewicht zugunsten der Frau bestanden hat, was zu vielschichtigen Kompensationen auf der Seite des Mannes führte.“ (CMS 2011, S.30f.)
Was die „Befreiungen“ betrifft, im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe, spricht Meier-Seethaler im Plural, also von einer Vielzahl individueller Befreiungen in den Paarbeziehungen, zu denen zwar ein unterstützendes, nicht mehr patriarchales gesellschaftliches Milieu gehört, das aber nicht als ein Zwangskollektivismus verstanden werden darf. Die Beziehungsarbeit ist zu einem großen Teil eine individuelle. So verstehe ich die Autorin jedenfalls.
Mich spricht Meier-Seethalers kulturtheoretische Analyse an. Sie entspricht meiner eigenen psychischen Verfassung; meinem Offline-Projekt, meinem Begehren eine andere Gestalt zu geben. Habermasens Fortschrittsgeschichte krankt daran, daß er die Unvernunft in der Vernunft nicht thematisiert. Er bleibt weitgehend blind für das destruktive Potential einer patriarchal deformierten Wissenschaftlichkeit, die alles Subjektive und Emotionale aus ihrem Horizont ausblendet. Nur so kann sich diese Fortschrittsgeschichte als Fortschritt bis heute behaupten; eine kleine Weile noch.

Download

Mittwoch, 20. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Nach allen bisherigen Posts zu Habermas bekommt man den Eindruck, daß auch Habermas trotz aller Orientierung auf die Gesellschaft und die soziale Pragmatik letztlich nicht anders kann, als auf individuelle Bewußtseinsfunktionen zurückzugreifen, um kooperatives bzw. kommunikatives Handeln seinerseits zu begründen. Darauf deutet z.B. das „ontologische Primat“ hin, daß er der Lebenswelt zuspricht, das u.a. auch im organischen Leib begründet ist. (Vgl. Habermas 2012, S.25) Zwar steht dieser Leib in einer Reihe mit intersubjektiv geteilten Praktiken und Überlieferungen; aber schon daß Habermas diese drei Momente der Lebenswelt auf eine Ebene stellt, beinhaltet, daß er an seiner bewußtseinsfeindlichen Einstellung Abstriche macht.

Allerdings hütet er sich davor, näher zu bestimmen, worin diese organische Leiblichkeit eigentlich genau besteht. An anderer Stelle hebt Habermas die Aspekte der körperlichen Unverfügbarkeit und der Natalität hervor. (Vgl. „Die Zukunft der menschlichen Natur“ (2001), S.32, 41; S.93-105) Dort macht sich Habermas auch Sorgen um die „somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit“ (vgl. Habermas 2001, S.30), die bisher der Macht des Intersubjektiven entzogen gewesen sind und nun unter den Bedingungen der modernen Reproduktionsmedizin bedroht sind. Davon ist aber in seinem neuesten Buch, das ich hier bespreche, nicht die Rede. Stattdessen werden Körperbewegungen nur als Katalysatorfunktion für das Zustandekommen sozialer Beziehungen in Betracht gezogen. (Vgl. Habermas 2012, S.61ff.)

Dennoch findet Habermas bei der Beschreibung des Erkenntnissubjektes zu Formulierungen, die an Plessners Körperleib und an die damit zusammenhängende Doppelaspektivität von Innen und Außen erinnern: „... unter epistemologischen Gesichtspunkten hat das erkennende Subjekt eine gegenüber der Welt im Ganzen externe Stellung bezogen. Als Geist hat sich das Subjekt aus dem Ganzen vorstellbarer Objekte zurückgezogen. Andererseits kann es sich selbst, zusammen mit seinen Vorstellungen, Passionen und Handlungen, als in den kausalen Nexus der Welt verflochtenes Objekt in der Welt vorstellen. Daher geht die objektive Welt nicht vollständig in der Gesamtheit der physikalisch erklärbaren Phänomene auf; sie erstreckt sich auch auf das psychologisch zu erklärende Mentale. Das Mentale lässt sich zwar als Objekt betrachten, aber zugleich ist es nur im Vollzugsmodus als tätiger und rezipierender Geist.“ (Habermas 2012, S.35)

Hier spricht Habermas dem Erkenntnissubjekt als solchem, ohne es gleich in einen sozialen Kontext einzuordnen, eine „externe Stellung“ der Welt gegenüber zu. Er positioniert das Erkenntnissubjekt also exzentrisch und beschreibt sogar den damit zusammenhängenden Doppelaspekt als Subjekt der Welt gegenüber und als Objekt in der Welt. Das „Mentale“, also das Bewußtsein, kann gleichermaßen als Objekt reflektiert und als „Vollzugsmodus“ eines „tätigen“ Geistes verstanden werden. Es „verschränkt sich“, wie Habermas schreibt, „von Haus aus mit Selbstbewusstsein.“ (Vgl. Habermas 2012, S.36)

Habermas bezeichnet diese Doppelaspektivität des „Psychischen“ als „Janusgesicht“, und er gesteht ein, daß aufgrund dieser Janusköpfigkeit „Erlebnistatsachen ... bis heute auf eine irritierende Unvollständigkeit der objektivierenden Weltbeschreibung aufmerksam (machen)“ (vgl. Habermas 2012, S.36).

Alle diese Zitate sind natürlich immer vor dem Hintergrund zu lesen, daß Habermas zufolge ‚ego-zentrische‘ Positionierungen, also als Ich-Bewußtsein, nur als soziale Konstruktionen zu verstehen sind. (Vgl. Habermas 2012, S.62, Anm.Nr.8) Einen „transzendenten Standpunkt“ – im Sinne einer exzentrischen Positionierung – gesteht Habermas vor allem religiösen und „intellektuellen Eliten“ zu (vgl. Habermas 2012, S. 30), – also wieder einer Mehrzahl von Individuen und nicht den Individuen selbst.

Dann unterläuft ihm aber doch wieder eine Formulierung, die sich so lesen läßt, daß auch die Individuen sich zu sich selbst, also exzentrisch positionieren können: „Die beteiligten Personen können gegenüber ihrem eigenen Engagement die Einstellung einer dritten Person einnehmen und eine performativ hergestellte kommunikative Beziehung in einem weiteren Akt der Verständigung zum Thema machen, und das heißt: als etwas in der Welt Vorkommendes behandeln.“ (Habermas 2012, S.25)

Wir haben es hier mit einem rekursiven Bewußtseinsakt zu tun: die Person wechselt sich selbst gegenüber die Ebene bzw. Perspektive. Sie nimmt ihrem „eigenen Engagement“ gegenüber, also ihrer eigenen Naivität gegenüber eine reflektierende Einstellung ein. Vergessen wir für den Moment, daß Habermas diesen Perspektivenwechsel in eine grammatische Konstruktion, eben der dritten Person, einbettet. Es soll für den Moment genügen, daß Habermas dem individuellen Bewußtsein hier eine eigene Freiheit zugesteht.

Download

Dienstag, 19. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Für Habermas ist die Rekursivität Teil einer Bewußtseinsphilosophie, die er als „egologisch“ (Habermas 3/1985, Bd.2: S.196) bezeichnet. In seinem neuen Buch spricht Habermas vom „monadische(n) Bewusstseinsleben“. (Vgl. Habermas 2012, S.68) In einem ähnlichen Zusammenhang verwendet Habermas das Adjektiv „egozentrisch“ (vgl. Habermas 2012, S.62), wobei er in einer Anmerkung darauf verweist, daß er dieses Adjektiv „in einem metaphorischen Sinn“ gebraucht (vgl. ebenda, Anm.Nr.8). ‚Metaphorisch‘ soll heißen, daß Habermas zufolge eine Zentrierung auf das „Ich“ immer nur Teil eines dezentrierenden Weltverhältnisses sein könne, also erst im Rahmen „reziprok übernommene(r) Perspektiven“ möglich werde. Wir haben es also nicht mit einer eigenständigen Ich-Perspektive zu tun, eben einer ‚egologischen‘, sondern mit einer von sprachlicher Kommunikation abhängigen Perspektive.

Das Wortspiel aus De-Zentrierung und Ego-Zentrierung verbirgt letztlich nur, daß wir es hier eben doch mit einem rekursiven Sachverhalt zu tun haben. Da sich Habermas aber nunmal entschieden hat, die Rekursivität der von ihm abgelehnten Bewußtseinsphilosophie zuzuordnen, vermeidet er den Begriff, wo er nur kann. Im ganzen ersten Teil des Buches taucht der Begriff nur an einer einzigen Stelle auf, wobei Habermas noch einmal auf den ‚Mentalismus‘ rekursiven Wissens verweist, der darin bestehe, daß man davon ausgehe, ‚Beteiligte‘ könnten unabhängig von sprachlicher Vermittlung „Metarepräsentationen“ ausbilden. (Vgl. Habermas 2012, S.65)

Überall dort also, wo in menschlichen Interaktionen rekursive Mechanismen beobachtet werden können, verwendet Habermas deshalb konsequent den Ersatzbegriff „reziprok“: er spricht von der „reziproke(n) Übernahme der Perspektiven des Anderen“ (vgl. Habermas 2012, S.89); er spricht davon, daß sich die „Beteiligten“ „reziprok aufeinander als eine jeweils zweite Person einstellen“ (vgl. Habermas 2012, S.60), daß sie „reziprok die auf etwas in der Welt gerichtete Wahrnehmungsperspektive des jeweils anderen (übernehmen) und... auf diese Weise ein gemeinsames Wissen (bilden)“ (vgl. Habermas 2012, S.61); er spricht von einer „Verschränkung von reziprok austauschbaren Perspektiven mit einer intentionalen, das heißt vergegenständlichenden Distanzierung vom Druck der Umwelt“ (vgl. Habermas 2012, S.64) usw. – Alles das selbstverständlich immer nur ‚reziprok‘ und niemals ‚rekursiv‘.

Folgendes Beispiel soll Habermas zufolge zeigen, daß es sich bei der Rekursivität um eine viel zu „anspruchsvolle Reflexionsstufe“ (Habermas 2012, S.65) handelt, die „eine ganze semantisch verknüpfte Reihe von Gründen“ impliziert, als daß sie mit einem einfachen „mentalistische(n) Ausdruck“ wie „geteiltes Wissen“ beschrieben werden könnte (vgl. Habermas 2012, S.63): „Stellen wir uns die folgende Szene vor: Jemand möchte mit einer stummen Geste, den Zeigefinger auf die Lippen gepresst, den Blick auf die Tür im Nebenzimmer gerichtet, seinen Bruder vom Betreten des Schlafzimmers nebenan abhalten, weil sich dort ein Freund ausruht. Der Umstand der Rückkehr von einer anstrengenden Reise und der normative Grund für die Schonung einer erschöpften Person können unausgesprochen bleiben, weil beides zum implizit geteilten Hintergrundwissen gehört.“ (Habermas 2012, S.56; vgl. dasselbe Beispiel nochmal S.59f.)

Dieses Beispiel zeigt aber letztlich das Gegenteil dessen, was es Habermas zufolge zeigen soll, nämlich die pragmatische Notwendigkeit eines ganzen Arsenals von zur Verfügung stehenden Gründen, ohne die die Kommunikation nicht funktionieren würde und die im Bedarfsfall eingesetzt werden können, um wechselseitiges Verstehen sicherzustellen. Indem Habermasens Beispiel zeigt, daß die betreffenden Gründe „unausgesprochen bleiben“ können, weil sie „im Hintergrund“ „operieren“ (vgl. Habermas 2012, S.56), entzieht es ihnen genau den argumentativen Anspruch, um den es ihm eigentlich geht. Denn erst, wenn sie ausgesprochen werden, werden sie zu Gründen! Es ist ihr expliziter Charakter, nicht ihr impliziter, der sie zu Gründen macht. Beanspruchen sie, mehr zu sein, als bloßes Hintergrundwissen, indem sie als Gründe im Hintergrund operieren, haben wir es mit bloßer Suggestion oder mit Demagogie zu tun, oder einfach bloß mit Magie und Hexerei.

Wenn dem einen Bruder der Grund für die Schweigegeste, deren Bedeutung er natürlich versteht, unklar bliebe, müßte der andere Bruder ihm also die Gründe für seine Schweigegeste explizit nachliefern. Da er aber aufgrund des geteilten Hintergrundwissens weiß, warum der Bruder die Schweigegeste anwendet, haben wir es hier mit einem Beispiel zu tun, in dem es nicht um Gründe, sondern um rekursives Wissen geht: Mein Bruder weiß, daß ich weiß, daß der Freund, der sich im Zimmer ausruht, eine anstrengende Reise hinter sich hat, und daß ich seine Schweigegeste deshalb verstehen und auch befolgen werde!

Habermasens ‚Gründe‘ sind zunächst mal nichts anderes als implizites Wissen, das man wechselseitig von dem hat, was der andere weiß. Tatsächlich aber haben wir es hier nicht mit im engeren wissenschaftlichen Sinn begründetem Wissen zu tun, sondern mit einem breiteren Bedeutungshof von Glauben, Meinungen und Bauchgefühlen. Deshalb hält Habermas zu Recht fest: „Wir müssen das Hintergrundwissen, von dem bisher die Rede war, in Anführungszeichen setzen. Das, was wir auf diese intuitive Weise ‚kennen‘, können wir nämlich nur explizit machen, indem wir es in eine Beschreibung umformen; dabei löst sich jedoch der Vollzugsmodus des bloß ‚Bekannten‘ auf ...“ (Habermas 2012, S.23f.)

Erst in Ermangelung einer tragfähigen Übereinstimmung in diesem ‚Wissen‘ zweier Menschen, werden die jeweils einem der beiden Beteiligten fehlenden Informationen zu ‚Gründen‘, die man austauscht, um gemeinsames Wissen wiederherzustellen. Es gibt keine Gründe, die von sich aus den Status eines Arguments im Wartezustand innehaben, also nur darauf warten, angewandt zu werden. Sie werden erst in einer expliziten Darstellung zu Gründen. Wir gehen nicht ununterbrochen potentiell argumentierend durch die Welt! Jedenfalls nicht, wenn wir geistig gesund sind. Erst die jeweilige Aktualisierung latenten Hintergrundwissens im Problemfall fügt einzelne Wissensbestandteile zu Gründen zusammen, also erst in dem Fall, wo sich das als nötig erweist, weil eine vorgängige, vertraute Verständigung versagt.

Wüßte der eine Bruder also nicht, warum der andere Bruder ihm die Schweigegeiste zeigt, und er würde ihm einen fragenden Blick zuwerfen, müßte dieser ihm zuflüstern: weil in dem besagten Zimmer sich ein Freund ausruht, weil er eine anstrengende Reise hinter sich hat etc. Erst jetzt hätten wir es nicht mehr mit einem gemeinsamen, rekursiv strukturierten Hintergrundwissen zu tun, sondern mit Gründen. Allerdings wären diese Gründe nun die Folge eines neuen rekursiven Wissens auf Seiten des anderen Bruders: Ich sehe – und weiß nun –, daß mein Bruder nicht weiß, daß sich in dem Zimmer unser Freund ausruht; also muß ich es ihm sagen, denn die Schweigegeste allein reicht nicht aus. Erst jetzt werden grammatisch vollständige Sätze nötig. Bis dahin genügte die vom Hintergrundwissen getragene Rekursivität völlig.

Wenn Habermas in seinem neuen Buch seinen eigenen „sozialkognitiven“ Ansatz von „egologischen Bewußtseinsphilosophien“ á la Husserl absetzen will, verwendet er gerne das Adjektiv „mentalistisch“, das er auch Tomasellos Konzept anheftet: „Michael Tomasello selbst präsentiert allerdings die erklärenden Gründe in einer anderen evolutionären Reihenfolge; er folgt einer mentalistischen Erklärungsstrategie, indem er die symbolischen Bedeutungen auf geteilte Wahrnehmungen und Intentionen zurückführt.“ (Habermas 2012, S.63, Anm.Nr.10)

Geht es nach Habermas, darf mit dem Bewußtsein einfach nicht angefangen werden. Deshalb ignoriert Habermas auch konsequent die vor dem neunten Lebensmonat liegende Entwicklung des kleinen Kindes. Erst mit dem Beginn einer triadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, also mit der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf etwas Drittes, den Gegenstand, wird sein Interesse geweckt: „Hier sehen wir in statu nascendi, wie die Gestenkommunikation auf dem Wege einer intersubjektiven Verschränkung der jeweiligen Blickrichtungen und Wahrnehmungen den objektivierenden Bezug zu etwas in der Welt erst entstehen lässt.“ (Habermas 2012, S.61)

Da Tomasello aber den vorangegangenen Lebensmonaten des kleinen Kindes die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung widmet wie der nachfolgenden Entwicklungsperiode bis zum vierten und fünften Lebensjahr, wo die Dominanz einer „intersubjektive(n) Verschränkung“ in eine individuelle Balance aus individuellem und kulturellem Lernen übergeht (vgl. meinen Post vom 24.05.2011), muß er sich von Habermas den Vorwurf einer „mentalistischen Erklärungsstrategie“ gefallen lassen. Dabei tut Tomasello nichts anderes, als dem Kind auch vor seiner vollausgebildeten Sprachkompetenz ein Bewußtsein zuzubilligen. Nicht erst, wenn wir unsere Mitmenschen in ganzen Sätzen mit einem Arsenal von „semantisch verknüpften“ Gründen (vgl. Habermas 2012, S.56) auf kooperatives Handeln einzustimmen versuchen, haben wir auch Bewußtsein, – und von ihm her rekursive Annahmen über das Bewußtsein anderer wie uns.

Download

Montag, 18. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Im gestrigen Post hatte ich schon angemerkt, daß Habermas den Körper im Vergleich zu seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985), wo er ihn nur in Form „unselbständiger Handlungen“ zur Kenntnis nimmt (vgl. Habermas 3/1985, Bd.1, S.145), als „organischen Leib“ (Habermas 2012, S.25) bzw. als „organische Lebensvollzüge“ (Habermas 2012, S.20) aufwertet, weil er ihn am „ontologischen Primat“ (ebenda) der Lebenswelt teilhaben läßt. Tatsächlich aber ändert sich an Habermasens Bewertung der Körperfunktionen nichts.

Dort, wo der Körper eine Ausdrucksfunktion hat, spricht Habermas in einer paradoxen Formulierung von „nichtintentionalen Ausdrucksbewegungen“. (Vgl. Habermas 2012, S.63) Wie können Ausdrucksbewegungen nichtintentional sein? Nur aufgrund einer künstlichen Trennung zwischen Körperbewegungen und Gesten!

Habermas läßt bei den Gesten nur die äußere Wahrnehmung dieser Gesten zu, eben als Körperbewegungen, die einen quasi-mechanischen Effekt auf unser Bewußtsein haben: „Das materielle Element, der Laut oder die Körperbewegung, löst wie ein Katalysator die Verschränkung der sozialkognitiven mit der im engeren Sinne kognitiven Leistung aus: Die Geste ist das öffentliche Element, in dessen Wahrnehmung sich die Intentionen der Beteiligten treffen. Angeregt durch die übereinstimmende Wahrnehmung dieses Katalysators, werden die jeweiligen Einstellungen der Beteiligten auf etwas in der Welt über die gegenseitige Perspektivenübernahme so vergemeinschaftet, dass shared intentions, also geteilte Wahrnehmungen und Absichten entstehen können.“ (Habermas 2012, S.60f.)

Habermas vermeidet geradezu peinlich, die Körperlichkeit der Gesten zu thematisieren. Gesten erfüllen ihren Zweck nur als „öffentliches Element“, das wir von außen wahrnehmen, ohne innere Beteiligung und ohne Anteil des Körpers. Dessen ‚Beteiligung‘ wird auf eine Katalysatorenfunktion eingeschränkt, d.h. er bleibt an der von ihm ausgelösten kommunikativen Verständigung völlig unbeteiligt. Genau das macht ja den Charakter eines Katalysators aus, daß er Prozesse in Gang setzt, ohne sich selbst zu verändern.

Nachdem Habermas also die Körperbewegungen nur im ‚öffentlichen‘ Raum ‚reziproker‘ Wahrnehmungsperspektiven thematisiert und zugleich rekursive Bewußtseinsleistungen als unnötig „anspruchsvolle Reflexionstufe(n)“ abwertet (vgl. Habermas 2012, S.65), wundert er sich schließlich, wie Tomasello den „mentalen Fähigkeiten in der Ordnung der Erklärung Vorrang vor der Kommunikation“ geben kann, wenn sich doch „die Verschränkung von interpersonaler Beziehung und Intentionalität (im Sinne der objektivierenden Einstellung zur Welt) nicht ohne das Dazwischentreten einer Geste erklären lässt“. (Vgl. Habermas 2012, Anm.Nr.10)

Er selbst hat die naheliegendste Erklärung durch die Verbindung rekursiver Annahmen mit den von innen empfundenen Körperwahrnehmungen (Körperleib) von vornherein ausgeschlossen! Nichts ist natürlicher, als die eigenen Körperbewegungen von innen heraus zu erleben; sind wir doch über die Körperhaltung in unserem Leib anwesend, und keine Körperbewegung ist uns äußerlich. Von hierher die Körperbewegungen anderer wie mich empathisch mitzuempfinden und rekursiv auf eine komplexe Verschränkung wechselseitigen Wissens über unsere inneren Zustände zu schließen, bildet keineswegs eine anspruchvolle Reflexionsstufe.

Viel anspruchvoller ist hingegen Habermasens Alternative, die darin besteht, den Gesten über ihre Konventionalisierung einen „selbständigen“, d.h. von Körperbewegungen unabhängigen „Status“ „als Bedeutungsträger oder Speicher intersubjektiven Wissens“ zuzusprechen. Als gäbe es einen ‚eigenständigen‘, von individuellen Körpern unabhängigen, gesellschaftlichen Bedeutungsraum, der keiner eigenen materiellen Basis bedarf, eben einen luftleeren, körperlosen Raum. Jetzt müssen Gesten tatsächlich „zwischen“ zwei Bewußtseine „treten“, damit diese miteinander interagieren können, denn über ihre Körper haben sie keinen Kontakt. Ihr Bewußtsein bildet zwei voneinander getrennte Inseln, von denen aus sie sich gegenseitig aus der Ferne beobachten und einander – mittels Gesten – zuwinken, wobei sie auf ihrer jeweiligen Insel mühsam die Signale des fernen Anderen zu dechiffrieren versuchen.

Habermas schreibt einen wundervollen Satz: „Das Bewusstsein verschränkt sich von Haus aus mit Selbstbewusstsein.“ (Habermas 2012, S.36) – Ohne es zu wissen, entspricht seine Formulierung exakt dem Plessnerschen Körperleib, dem ‚Haus‘, von dem aus und in dem sich Bewußtsein mit Selbstbewußtsein verschränkt.

Und Habermas schreibt einen äußerst häßlichen Satz: „Die erste Geste, die für Ego und Alter eine identische Bedeutung stiftet, befreit das subjektive Bewusstsein aus seinem egozentrischen Gehäuse.“ (Habermas 2012, S.68) – Hier besteht das ‚Gehäuse‘, der ‚Kerker‘ im Körper, ohne Leibaspekt, und von ihm wird die Geste abgespalten, als vollziehe sie sich irgendwo anders, nur eben nicht am Körper selbst.

Denn die materielle Basis für die Inter-Subjektivität ist nicht erst der öffentliche, konventionalisierte Raum, in dem sich die ‚Geister‘ frei schwebend begegnen. Die materielle Basis für die Inter-Subjektivität ist der Körperleib selbst. (Vgl. meinen Post vom 17.07.2012) Sie besteht in der von Plessner beschriebenen Gegenüberstellung von Körper und Gehirn und in der Perspektivenvielfalt unserer Sinnesorgane. Wir sehen uns und unsere Gesten gleichzeitig von innen und von außen, und wir empfinden die Körperhaltungen der anderen wie uns in unserem Körperleib nach. Deshalb ist Habermasens Satz vom Bewußtsein, das sich von Haus aus mit Selbstbewußtsein verschränkt, so richtig. Und deshalb ist das Wort vom „egozentrischen Gehäuse“ so falsch.

Download

Sonntag, 17. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1.Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Mein Post vom 20.01.2013 beinhaltet Habermas gegenüber den Vorwurf eines Konstruktivismus. Habermasens pragmatisches Konzept stellt die kulturelle Phylogenese als einen logisch rekonstruierbaren Lernprozeß dar, der auf der Hypothese beruht, daß der historische Epochenwechsel eine funktionale Rationalität beinhaltet. Immer wenn bislang gültige kulturelle Paradigmen im Evolutionsprozeß an ihre Grenzen kommen und ihre die Welt erklärende und die Lebenswelt reproduzierende Kraft verlieren, treten andere, den neuen Umständen angepaßtere Paradigmen an ihre Stelle. Ich habe in dem erwähnten Post auf den Anachronismus in der anthropologischen Verfassung verwiesen, der einer solchen Rekonstruierbarkeit der kulturellen Evolution als Lernprozeß entgegensteht.

Nun scheint es in Habermasens neuestem Buch an vielen Stellen so zu sein, daß er selbst eine entsprechende Revision seiner Kommunikationstheorie in Betracht zieht. Ich werde mich in diesem und den folgenden Posts vor allem auf den ersten Teil seines Buches beziehen, also auf „Die Lebenswelt als Raum der Gründe“ (Habermas 2012, S.19-95). Hier hebt Habermas deutlicher als in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985) den „Vollzugsmodus“ von Lebenswelt und Bewußtsein hervor. (Vgl. Habermas 2012, S.24, 35, 39) Damit greift Habermas auf eine Begrifflichkeit zurück, wie ich sie in diesem Blog anhand von Texten von Merleau-Ponty und Meyer-Drawe diskutiert habe. (Vgl. meine Posts vom 21.11., 06.1207.12.2011 und vom 10.01. und 12.01.2012)

Außerdem spricht Habermas nicht mehr nur von „unselbständigen“ Körperbewegungen (vgl. Habermas 3/1985, S.145; vgl. auch meinen Post vom 16.01.2013); vielmehr weist er in seinem neuesten Buch immer wieder auf die Unverzichtbarkeit und Unhintergehbarkeit des „organischen Leibes“ (Habermas 2012, S.25) bzw. der „organischen Lebensvollzüge“ hin, in die wir „als vergesellschaftete, in ihre sozialen Beziehungen und Praktiken verstrickte, und als handelnde, in die Welt eingreifende Subjekte“ „eingelassen“ sind (vgl. Habermas 2012, S.20).

Habermas bemüht einen weiteren Begriff, die Umgangserfahrung, die ich so bisher vor allem aus Texten von Theodor Litt kannte und die ebenfalls in das begriffliche Umfeld des ‚Vollzugs‘ gehört: „Im Alltag kategorisieren wir die Dinge, die uns in der Welt begegnen, nach den Ebenen des praktischen Umgangs. ... Nicht zufällig erinnert die alltagsnahe Ontologie, die wir noch bei Aristoteles finden, an dieses von Umgangserfahrungen geprägte ‚Bild‘ der ‚objektiven Welt‘.“ (Habermas 2012, S.26)

Theodor Litt hatte den Begriff des „Umgangs“ vom wissenschaftlichen Begriff der „Sache“ abgegrenzt. Wo der Begriff des Vollzugs vor allem die präsentische Erfahrung des Hier und Jetzt hervorhebt, auf das wir uns in der Reflexion immer nur zurückwenden können, als etwas, das, sobald wir es in den Blick nehmen, in der Vergangenheit liegt, hebt der Umgang das Ganze des Selbst- und Weltverhältnisses hervor, als einen Kreisprozeß, der die Subjekte und Objekte als eine Einheit umfaßt und sie noch nicht als Sachen voneinander getrennt hat.

Auch Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kreisprozess“: „Zwischen der Lebenswelt, die kommunikatives Handeln ermöglicht, und einem fortlaufend getesteten lebensweltlichen Hintergrund, der im ungestörten Vollzug kommunikativen Handelns bestätigt, jedoch in der Folge von Problematisierungen und Lernvorgängen auch korrigiert wird, spielt sich ein Kreisprozess ein, in dem das verschwundene transzendentale Subjekt keine Lücke hinterlässt.() Während die kommunikativ Handelnden an der Reproduktion und der Revision ihrer Lebenswelt beteiligt sind, bleiben sie in diese lebensweltlichen Kontexte gleichwohl eingebettet.“ (Habermas 2012, S.45f.)

Obwohl Habermas Theodor Litt mit keinem Wort erwähnt, ist es in diesem Zusammenhang sicher nicht uninteressant, daß er in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bei ihm in Bonn studiert hat.

Begriffe wie „Vollzug“ und „Umgang“ sperren sich gegenüber jedem Versuch ihrer rekonstruierenden Vereinnahmung. Wenn Habermas sie deshalb ins Zentrum seines Lebensweltbegriffs stellt, so ist diese Lebenswelt längst nicht mehr so funktional, wie sie es in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ ist. Die in sie ‚eingebetteten‘ Akteure können sich ihrer nicht mehr so einfach bedienen, wie er es dort darstellt. Habermas spricht der Lebenswelt innerhalb der gemeinsamen objektiven Welt sogar ein „‚ontologische(s) Primat‘ vor dem jeweils aktuellen Hintergrundbewusstsein des einzelnen Angehörigen“ zu, „denn die performativ gegenwärtigen Lebensvollzüge – also Erlebnisse, interpersonale Beziehungen, Überzeugungen – setzen den organischen Leib, die intersubjektiv geteilten Praktiken und die Überlieferungen voraus, in denen sich die erlebenden, handelnden und sprechenden Subjekte ‚immer schon‘ vorfinden.“ (Habermas 2012, S.25)

Mit dem „ontologischen Primat“ wird die Lebenswelt keineswegs ontologisiert, wie ich es in meinen Posts (vom 04.12. bis 09.12.2011) zu Meyer-Drawe zum Vorwurf gemacht habe. Hier geht es Habermas lediglich um die Unverfügbarkeit der Lebenswelt, der Habermas in dem gerade zitierten Satz interessanterweise neben den intersubjektiven Praktiken und den Überlieferungen, auch den organischen Leib zuordnet. Damit wird dem Körper etwas von der Unverfügbarkeit der Lebenswelt zugesprochen, so daß wir es nicht mehr nur mit einem Körper, sondern mit einem Körperleib zu tun haben.

Es sieht also alles nach einer Revision des Habermasschen Re-Konstruktivismus in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aus. So ist es aber dann doch nicht. Habermas macht lediglich einige Zugeständnisse an eine Welt, die den Erwartungen der Aufklärung, als deren Erbe er sich sieht, nicht genügt. (Vgl. Habermas 2012,S.9) An dieser Stelle möchte ich nur auf das re-konstruktivistische Interesse an einer Lebenswelt, die ständig zu zerbrechen droht, verweisen.

Ich selbst habe den Lebensweltbegriff immer in der Nachfolge von Hans Blumenberg verwendet. Blumenbergs Interesse an der Lebenswelt ist kein funktionales, sondern ein emanzipatorisches: die Lebenswelt hindert uns am Selber-Denken, also müssen wir nach Wegen suchen, wie wir den lebensweltlichen Zugriffen auf unsere individuelle Urteilskraft entkommen können. Blumenberg spricht deshalb von der Notwendigkeit einer „Autodestruktion der Lebenswelt“. (Vgl. meinen Post vom 08.08.2010) Blumenberg zufolge ist es nötig, daß sich die Lebenswelt selbst zerstört, weil wir ihr aus eigener Kraft nicht entkommen können.

Habermasens Interesse ist ganz anders gelagert. Statt von einer unüberwindlichen Lebenswelt geht er von einer brüchigen Lebenswelt aus: „Wie man die Furcht, im lockeren Geröll den Halt zu verlieren, erlebt; was man beim Erröten über einen peinlichen Fehler spürt; wie es sich anfühlt, wenn man sich auf die Loyalität eines alten Freundes plötzlich nicht mehr verlassen kann; wie es ist, wenn eine lange praktizierte Hintergrundannahme überraschenderweise ins Wanken gerät – alles das ‚kennt‘ man. Denn in solchen Situationen gestörter Lebensvollzüge wird eine Schicht impliziten Wissens aufgedeckt, ob es sich um ein habitualisiertes Können handelt, um eine Befindlichkeit, um eine verlässliche soziale Beziehung oder eine unerschütterliche Überzeugung.“ (Habermas 2012, S.22f.)

Diese Beschreibungen des Gefühls, den Boden unter den Füßen zu verlieren, erinnern nicht von ungefähr an Plessners „Lachen und Weinen“ (vgl. meine Posts vom 31.12.2010 und vom 01.01.2011) und an Nishitanis „Niesen“ (vgl.u.a. meinen Post vom 01.01.2011) Im „Erröten über einen peinlichen Fehler“ haben wir den Körperleib in voller Aktion!

Anders als Blumenberg gilt Habermasens größte Sorge also dem Erhalt einer brüchigen, jederzeit gefährdeten Lebenswelt. Ihm geht es nicht um ihre Zerstörung, sondern um ihre Reparatur, zu der uns ein ganzer Werkzeugkasten an Gründen zur Verfügung steht: „Gründe verschaffen orientierungsbedürftigen Personen Aufklärung über intransparente oder rätselhafte Umstände, die stören, weil sie in den Horizont eines wie immer auch nur vage – oder, wie sich herausstellen kann, falsch – verstandenen Ganzen ein Loch aufreißen. Gründe stellen das durch Unverständnis gestörte epistemische Verhältnis zu einer vertrauten Welt wieder her. Sie reparieren selbst dann eine aufgescheuchte lebensweltliche Naivität, wenn sie unser Weltverständnis revolutionieren.“ (Habermas 2012, S.55)

Habermas sieht in der über den Körperleib vermittelten Brüchigkeit der Lebenswelt, im Erröten, im Lachen und Weinen, im Niesen, keine Chance, sich über die Lebenswelt zu erheben. Unsere erste Naivität, die Lebenswelt, läßt sich nicht in eine zweite Naivität transformieren, die der individuellen Urteilskraft eine Chance gibt. (Zur zweiten Naivität vgl.u.a. meine Posts vom 17.11.2010 und vom 24.01.2011) Seine Option besteht darin, die erste Naivität, also die Lebenswelt wiederherzustellen.

Es kommt also nicht wirklich zu einer Revision der Theorie des kommunikativen Handelns. Vielmehr sichert Habermas seine Theorie jetzt nur an einer anderen Front ab. Hatte sich Habermas mit dem ersten Band zum „Nachmetaphysischen Denken“ noch gegen „Tendenzen einer Rückkehr zur Metaphysik“ gewandt (vgl. Habermas 2012, S.8), so hat er es mit dem zweiten Band jetzt mit der „Globalisierung der Wirtschaft und der digitalen Kommunikation“ und mit „weltweit religiösen Bewegungen und Fundamentalismen von unverminderter Vitalität“ zu tun. (Vgl. Habermas 2012, S.9)

Weil der „ungläubige“ Habermas (vgl. Habermas 2012, S.75) hier das Erbe der europäischen Aufklärung bedroht sieht, macht er sich Sorgen um die „Bindungsenergien“ (Habermas 2012, S.9) einer säkularisierten Gesellschaft. Deshalb wendet er sich den lebensweltlichen „Vollzügen“ und dem „Umgang“ zu, um zu sehen, wie sich deren Bindungsenergien bewahren und erneuern lassen. Wir haben es also mit dem Paradox eines re-konstruktivistischen Interesses an der Wiederherstellung einer ersten Naivität zu tun, das Günther Anders mit dem Bild eines bereits gebackenen und geschnittenen Brotes beschrieben hat, das wir nicht ein zweites Mal backen und schneiden können. (Vgl. meinen Post vom 24.01.2011) Aus diesem Paradox befreit uns nur der Übergang auf eine neue Ebene, eine zweite Naivität, in der sich Naivität und Kritik die Balance halten.

Download

Samstag, 16. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität (vgl. meinen Post vom 18.01.2013)
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Dieser Nachtrag zu meinem Post vom 18.01.2013 ist nicht nur deshalb nötig, weil es hier neue Aspekte zu ergänzen gibt, sondern auch weil eine Grundaussage korrigiert werden muß. Im erwähnten Post hatte ich Habermasens Feststellung zum „Dualismus“ von „Natur- und Geisteswissenschaften“, der als „Gegensatz() von Erklären vs. Verstehen“ „heute nicht mehr aktuell“ sei (vgl. Habermas 3/1985, Bd.1, S.160), dahingehend interpretiert, daß der Dualismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften selbst veraltet sei. In der auf diese Feststellung folgenden Diskussion spricht Habermas auch nicht mehr von Geisteswissenschaften, sondern nur noch von Sozialwissenschaften.

Nun ist Habermasens Formulierung insgesamt recht umständlich und deshalb möglicherweise von mir mißverstanden worden. Zunächst hatte sich Habermas auf den „Historismus“ von Dilthey und Misch und auf den „Neukantianismus“ von Windelband und Rickert bezogen. Sein abschließendes Urteil lautet wörtlich: „Diese ‚erste Runde‘ der Erklären-Verstehen-Kontroverse ist heute nicht mehr aktuell.()“ (Vgl. ebenda) – Anstatt also den Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften insgesamt für veraltet zu erklären, scheint es so zu sein, daß Habermas nur die „erste Runde“ dieser Debatte hinsichtlich eines Gegensatzes zwischen Naturwissenschaften (Erklären) und Geisteswissenschaften (Verstehen) als veraltet bezeichnet. Dieser Eindruck drängt sich einem vor allem dann auf, wenn man seine jüngsten Stellungnahmen zu diesem Dualismus in seinem Buch „Nachmetaphysisches Denken II“ (2012) zur Kenntnis nimmt. Hier scheint er zumindestens eine neue Runde zum Verhältnis „natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche(r) Diskurse“ (Habermas 2012, S.7) zu eröffnen. Von nun an spricht er nicht mehr demonstrativ ausschließlich von den Sozialwissenschaften, wie in der „Theorie des kommunikativen Handelns“, sondern durchweg von den „Geistes- und Sozialwissenschaften“ (Habermas m2012, S.41 u.ö.), die er gelegentlich auch als „Kulturwissenschaften“ (Habermas 2012, S.41, 53) oder als „Humanwissenschaften“ (Habermas 2012, S.42, 46) den Naturwissenschaften gegenüberstellt.

Ich schreibe mit Bedacht sehr vorsichtig, daß es so zu sein scheint, daß ich Habermas mißverstanden haben könnte; denn die besagte Formulierung zum Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften läßt Interpretationsspielräume. Dennoch glaube ich eigentlich schon, daß ich ihn richtig verstanden habe. Die ganze folgende Diskussion, die Habermas an dieser Stelle in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ führt, wo er durchweg die Verstehensproblematik mit den Sozialwissenschaften verbindet und diese so von den Naturwissenschaften unterscheidet, ohne auch nur einmal noch auf die Geisteswissenschaften zu sprechen zu kommen, läuft darauf hinaus, daß er den Begriff der „Geisteswissenschaften“ selbst für veraltet hält und nicht den Gegensatz von „Erklären vs. Verstehen“.

Deshalb kann man durchaus die entsprechenden Ausführungen in seinem neuesten Buch zum nachmetaphysischen Denken in dieser Hinsicht als eine Kehrtwende verstehen. Zunächst einmal spricht Habermas wieder von einer ersten und einer zweiten Runde im Selbstverständnis der Geisteswissenschaften. Die erste Runde der historischen Geisteswissenschaften bestand darin, daß diese sich als „Kunstlehren“ verstanden, die aus der Poetik bzw. Rhetorik und aus den Philologien sowie aus dem Kanon der septem artes liberales (Grammatik Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) hervorgegangen waren. (Vgl. Habermas 2012, S.41) Die zweite Runde bestand darin, daß sich die Geisteswissenschaften, die Habermas jetzt mit den Sozialwissenschaften auf eine Ebene stellt, eine eigene „methodisch angeleitete Neugier“ auf die „kulturellen Lebensformen“ richteten und diese als einen eigenen, sich von den Naturwissenschaften unterscheidenden Gegenstandsbereich verstanden und behandelten. (Vgl. ebenda)

Das Spezifische an den „Geistes- und Sozialwissenschaften“ macht Habermas ganz ähnlich wie in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ am methodischen Übergang von der „Teilnehmer- in die Beobachterperspektive“ fest, der „die Kulturwissenschaften erst zu wissenschaftlichen Disziplinen eigenen Rechts macht“. (Vgl. Habermas 2012, S.41) Dabei unterscheiden sich die Geistes- und Sozialwissenschaften von den Naturwissenschaften nur in dieser methodischen Hinsicht und nicht hinsichtlich des ‚Gegenstandes‘. Tatsächlich haben wir es nur noch mit „zwei Seiten“ zu tun, von denen aus „Phänomene der Alltagswelt“ einer „wissenschaftlichen Objektivierung“ zugeführt werden: „Während sich die Naturwissenschaften der Idee unparteilicher Beurteilung auf dem Wege der Eliminierung lebensweltlicher Qualitäten der Alltagswelt nähern und kontraintuitives Wissen produzieren, können die Geistes- und Sozialwissenschaften dasselbe Ziel nur auf dem Wege der hermeneutischen Vergewisserung und vertiefenden Rekonstruktion von lebensweltlichen Umgangserfahrungen und Praktiken anstreben.()“ (Habermas 2012, S.43)

Auch hier haben wir es mit schwierigen, zu Mißverständnissen einladenden Formulierungen zu tun. Die „Phänomene der Alltagswelt“, denen sich Naturwissenschaften einerseits und Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits gleichermaßen widmen, scheinen Habermasens Worten zufolge einen gemeinsamen Gegenstandsbereich zu bilden. Dann ist aber wiederum von einem gemeinsamen Ziel die Rede, das vor allen Dingen darin zu bestehen scheint, objektives Wissen zu sammeln, was nicht unbedingt heißen muß, daß Naturwissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften auch einen gemeinsamen Gegenstand haben.

Tatsächlich geht Habermas auch gar nicht von einem gemeinsamen Gegenstandsbereich aus, wenn er davon spricht, daß die „Phänomene der Alltagswelt“ der Gegenstand beider Wissenschaftsbereiche seien. Vielmehr unterscheidet Habermas innerhalb der Alltagswelt eine objektive Welt als „Gesamtheit der beschreibungsunabhängig existierenden Gegenstände oder Referenten, von denen Sachverhalte ausgesagt werden können.“ (Vgl. Habermas 2012, S.24f.) Diese objektive Welt verstehen wir in unserem Alltag als eine allen Menschen gemeinsame Welt, – unabhängig davon, welche Überzeugungen, Werte und Weltbilder diese Menschen haben. An diese alltagsweltliche Einstellung zur objektiven Welt knüpfen die Naturwissenschaftler an, wenn sie die objektive Welt zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Neugier machen. Insofern hat die naturwissenschaftliche Einstellung ihre Wurzeln in der Alltagswelt.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften befassen sich hingegen nicht mit „beschreibungsunabhängig existierenden Gegenstände(n)“, sondern mit „Erlebnistatsachen“ (Habermas 2012, S.36), also mit „Datenquellen“, die erst „zu historischen, kulturellen und sozialen Tatsachen verarbeitet werden“ müssen. (Vgl. Habermas, S.41) Während sich also die Naturwissenschaften aus der Gesamtheit der „Phänomene der Alltagswelt“ heraus der „objektiven Welt“ zuwenden, befassen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften vor allem mit dem „objektiven Geist“ als einer „Externalisierung“ lebensweltlicher Bewußtseinsleistungen. (Vgl. Habermas 2012, S.65)

Aus dieser Gegenüberstellung von Naturwissenschaften auf der einen Seite und von Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite ergibt sich jetzt eine eigenartige, an Plessners Körperleib erinnernde Doppelaspektivität: die Naturwissenschaften spalten aus der Alltagswelt eine Außenperspektive auf die objektive Welt ab, und die Geistes- und Sozialwissenschaften spalten aus der Alltagswelt eine Innenperspektive ab, die sie allerdings in einem weiteren Schritt in eine Außenperspektive auf den objektiven Geist transformieren. Beide Wissenschaftsbereiche haben also ihr Zentrum in der Alltagswelt, die Habermas als „inklusiv“ bezeichnet: „... die Alltagswelt ist inklusiv, enthält nicht nur die performativ vertrauten, sondern auch die wahrgenommenen Elemente der natürlichen Umgebung, die uns frontal begegnen. ... Unmittelbar ist es diese Alltagswelt, die das Bild, das wir uns von der ‚objektiven Welt‘ machen – unser Weltbild also –, prägt.“ (Habermas 2012, S.26)

Von diesem alltäglichen Zentrum aus dezentrieren die Wissenschaften ihre Blickrichtungen, auf die objektive Welt die einen und auf den objektiven Geist die anderen. So kommt Habermas zu einer an Plessner erinnernden exzentrischen Positionierung der Wissenschaft: „... unter epistemologischen Gesichtspunkten hat das erkennende Subjekt eine gegenüber der Welt im Ganzen externe Stellung bezogen. Als Geist hat sich das Subjekt aus dem Ganzen vorstellbarer Objekte zurückgezogen. Andererseits kann es sich selbst, zusammen mit seinen Vorstellungen, Passionen und Handlungen, als in den kausalen Nexus der Welt verflochtenes Objekt in der Welt vorstellen. Daher geht die objektive Welt nicht vollständig in der Gesamtheit der physikalisch erklärbaren Phänomene auf; sie erstreckt sich auch auf das psychologisch zu erklärende Mentale. Das Mentale lässt sich zwar als Objekt betrachten, aber zugänglich ist es nur im Vollzugsmodus als tätiger und rezipierender Geist.“ (Habermas 2012, S.35)

Habermasens Hinweis auf den „Vollzugsmodus“ des tätigen und rezipierenden Geistes läßt aufhorchen. Denn Habermas thematisiert hier wie Plessner mit der exzentrischen Positionierung des Wissenschaftlers dessen Doppelaspektivität als Objekt und Subjekt, als Außen und Innen: „Das Bewusstsein verschränkt sich von Haus aus mit Selbstbewusstsein. Die extramundane Stellung dieser verqueren, weil nur performativ im Erleben gegenwärtigen Bewusstseinszustände bleibt ein Stachel für die Konzeption einer versachlichten, alle kausal vernetzten Körper einschließenden Welt. Unter der Beschreibung mentaler Zustände und Ereignisse rückt das Psychische, das ja nur im Vollzug, also aus dem Blickwinkel der ersten Person zugänglich ist, in die begriffliche Perspektive einer vorübergehenden Anomalie. Aber das Mentale behält trotz dieser Anwartschaft auf eine naturwissenschaftliche Erklärung ein Janusgesicht. Erlebnistatsachen machen bis heute auf eine irritierende Unvollständigkeit der objektivierenden Weltbeschreibung aufmerksam.()“ (Habermas 2012, S.36)

Allerdings wird diese janusköpfige Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens arbeitsteilig in eine „bipolare Versachlichung“ aufgelöst. (Vgl. Habermas 2012, S.46) Wir haben es letztlich doch nicht mit einem zweifach perspektivierten, sondern mit einem „gespaltenen Bild von der objektiven Welt“ zu tun: „Das humanwissenschaftliche Vokabular lässt sich nicht ans naturwissenschaftliche anschließen, Aussagen des einen Vokabulars lassen sich nicht in Aussagen des anderen übersetzen. Das Gehirn ‚denkt‘ nicht().“ (Habermas 2012, S.47)

Um das volle weltbeschreibende und welterklärende Potential wissenschaftlichen Wissens einzuholen, bedarf es deshalb nach wie vor einer eigenen Disziplin, die sich, da sie keinen eigenen Gegenstandsbereich für sich beansprucht (vgl. Habermas 2012, S.7), dem wissenschaftlichen Wissen als Ganzem zuzuwenden vermag: „Sie (die Philosophie – DZ) beteiligt sich nicht unmittelbar an der Vermehrung unseres Wissens über die Welt, sondern fragt danach, was das wachsende Weltwissen, das im Umgang mit der Welt Gelernte, jeweils für uns bedeutet. Statt beispielsweise in der Rolle einer Hilfsdisziplin für die Kognitionswissenschaften aufzugehen, sollte die Philosophie nach wie vor ihrer Aufgabe nachgehen, im Lichte der verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ein begründetes Selbst- und Weltverständnis zu artikulieren.“ (Habermas, 2012, S.16)

Die von „Phänomenen der Alltagswelt“ ausgehenden, dezentrierenden Wissenschaftsrichtungen auf die objektive Welt und den objektiven Geist bedürfen also der zentrierenden Korrektur bzw. Ergänzung – oder auch Vollendung? – durch eine wiederum exzentrisch, also außerhalb des Weltwissens positionierte Disziplin, der Philosophie, um Sinn zu machen.

Wenn Habermas die Wissenschaften mit der Philosophie insgesamt systematisch in eine gemeinsame Perspektive auf den Menschen und sein Wohl – und damit auch auf die sein Überleben bedrohenden Gefährdungen – einbindet, ist das durchaus begrüßenswert. Doch haftet auf dieser menschengefälligen Systematik ein unschöner Fleck. Denn was alle Menschen angeht und wozu alle Menschen etwas zu sagen und beizutragen haben, weil wir alle Beteiligte und Betroffene einer Lebenswelt sind, wird von Habermas mit der Philosophie in die Verantwortung einer spezialisierten Expertenelite gestellt: „Weil die Philosophie auch zu einer wissenschaftlichen Disziplin geworden ist, beginnt die Überzeugungsarbeit im Kreise der peers. Wer nicht durch die Schleuse der professionellen Kritik hindurchgeht, gerät mit Recht in den Verdacht der Scharlatanerie.“ (Habermas 2012, S.7)

Mit diesem gleichzeitig elitären wie auf mediale Öffentlichkeit schielenden Standpunkt verprellt Habermas unnötig den „Common Sense“ (Habermas 2012, S.26) des vermeintlich ‚gesunden‘ Menschenverstandes, den ich selbst in diesem Blog immer gerne mit der Frage nach der Möglichkeit einer individuellen Urteilskraft verbinde. Man denkt sich unwillkürlich: „Aha! Also die Peers!“, und: „Gehöre ich dazu?“

Jedenfalls ist in Habermasens „Theorie des kommunikativen Handelns“ der „Raum der Gründe“ (Habermas 2012, S.24, 55, 57, 74) noch nicht so auf einen kleinen Expertenkreis eingeschränkt. Und auch in „Nachmetaphysisches Denken II“ gibt es Stellen, die weniger elitär klingen: „Zwischen Alltag und Expertenkulturen ist der Raum der Gründe jedenfalls nicht ‚versiegelt‘, sondern osmotisch durchlässig;() denn Gründe zirkulieren zwischen dem breiten Flussbett der Alltagskommunikation und den stärker kanalisierten Expertendiskursen.“ (Habermas 2012, S.55)

So macht Habermasens merkwürdiges Schwanken zwischen der diskursiven Würde der Alltagswelt und dem „Verdacht der Scharlatanerie“, der durch Expertendiskurse begegnet werden muß, vor allem eines deutlich: Wie in den folgenden Posts gezeigt werden soll, hat Habermas keine materielle Basis für das, was Plessner exzentrische Positionalität nennt. Der Habermassche Raum der Gründe bildet einen luftleeren, körperlosen Raum.

Download

Freitag, 8. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

9. Nachtrag

In seinem Buch „Des Mauren letzter Seufzer“ (1995/96) schreibt Salman Rushdie eine Satire auf Sheldrakes morphogenetische Felder. Aber auch Wolf Singer mit seinem „Gamma-Frequenzspektrum“ wird in diese Satire mit einbezogen. Ein gewisser Francisco da Gama – der Familienlegende zufolge ein Nachfahre des historischen Vasco da Gama – entwickelt eine Theorie der „Transformationsfelder des Bewußtseins“, die sowohl bildungstheoretische als auch moralphilosophische Implikationen beinhaltet:
„... gegen Ende des Jahres 1916 ließ Francisco privat eine Abhandlung drucken, die er sodann an alle führenden Zeitschriften jener Zeit ‚zur freundlichen Beachtung‘ versandte, einen Artikel mit dem Titel: ‚Für eine vorläufige Theorie der Transformationsfelder des Bewußtseins‘, in dem er die Existenz eines unsichtbaren ‚dynamischen Netzes geistiger Energie‘ um uns herum postulierte, ‚ganz ähnlich den elektromagnetischen Feldern‘, und behauptete, daß diese ‚Bewußtseinsfelder‘ nichts anderes seien als die Repositorien der – praktischen und moralischen – Erinnerung der menschlichen Spezies, ja, daß sie genau das seien, was James Joyce jüngst seinem Helden Stephen in den Mund gelegt hatte: daß er nämlich in der Schmiede seiner Seele das unerschaffene Gewissen unserer Rasse ‚prägen‘ wolle. Auf ihrer untersten Wirkungsebene erleichterten diese Transformationsfelder des Bewußtseins, kurz TFBs, anscheinend die Ausbildung, so daß alles, was von irgend jemandem irgendwo auf der Erde gelernt wurde, sogleich überall für alle anderen leichter erlernbar wurde; aber es wurde auch angedeutet, daß diese Felder auf ihrer höchsten Ebene, der Ebene, die zugegebenermaßen am schwierigsten zu beobachten war, ethisch wirkten, das heißt, daß sie unsere moralischen Alternativen nicht nur definierten, sondern von ihnen auch definiert wurden, daß sie von jeder moralischen Entscheidung auf unserem Planeten gestärkt wurden, so daß zu viele Missetaten die Gewissensfelder theoretisch irreparabel schädigen mußten und ‚die Menschheit dann vor der unvorstellbaren Realität eines durch die Zerstörung des ethischen Nexus – des Sicherheitsnetzes, könnte man sogar sagen, in dem wir immer gelebt haben – amoralisch und damit bedeutungslos gewordenen Universums stehen würde‘.“ (Rushdie 1996, S.34)
Die Zeitgenossen Franciscos machen sich insbesondere über die moralischen Implikationen seiner TFBs lustig. So schreibt ein Rezensent: „Sollten wir etwa durch zufällige Feldkollisionen eine Verschmutzung unserer Werte – nennen wir sie Gama-Strahlung – befürchten müssen? Könnten die Sexualgewohnheiten der Gottesanbeterin, die Ästhetik der Paviane oder Gorillas, die Politik der Skorpione unsere eigene, arme Psyche eventuell tödlich infizieren? Oder, Gott behüte, haben sie das vielleicht schon getan?“ (Rushdie 1996, S.35)

Der Hinweis auf die „Gama-Strahlen“ erinnert sicher nicht von ungefähr an das „Gamma-Frequenzspektrum“, das nach Wolf Singer, dem Direktor für Hirnforschung am Max-Planck-Institut, ein neuronales Korrelat für Gestaltphänomene bilden soll. (Vgl. meinen Post vom 18.07.2011)

Download

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Am Schluß meines Posts vom 01.02.2013 hatte ich angemerkt, daß Sheldrakes Konzept der morphogenetischen Felder bei der Beschreibung der anthropologischen Verfassung des Menschen versagt. Sein Konzept kann weder den Anachronismus der menschlichen Existenz noch – ineins damit – den kontingenten, diskontinuierlichen Prozeß der Menschheitsgeschichte erklären. In meinem gestrigen Post habe ich auch nach der Möglichkeit der individuellen Urteilskraft gefragt, worauf meiner Ansicht nach Sheldrake keine Antwort hat. Zwar spricht er von der Kreativität des Universums (vgl. Sheldrake 2012, S.146, 444 u.ö.), aber die individuelle Kreativität des Menschen wird nicht thematisiert.

Sheldrake hat durchaus eine eigene Version von der exzentrischen Positionalität, wie sie Plessner vertritt. Sie besteht in der „Feldtheorie des Geistes“, die den „Widerspruch zwischen Materialismus und Dualismus“ hinter sich läßt: „Felder können sich in materiellen Dingen und außerhalb befinden ... In diesem Kapitel vertrete ich die Ansicht, dass das Feld des Geistes im Gehirn ist, aber weit über das Gehirn hinausreicht.“ (Sheldrake 2012, S.281) – Aber das „raumzeithafte Nirgendwo-Nirgendwann“ der exzentrischen Positionalität, das Plessner gleichwohl am Körperleib festmacht (vgl. Plessner 1975/1928), S.292, und meinen Post vom 26.10.2010), droht bei Sheldrake gelegentlich in eine vollständige Entkörperlichung zu münden: „Wenn Geist körperlos ist, muss das auch für den Geist des Naturwissenschaftlers gelten, und dann ist Naturwissenschaft so etwas wie ein Blick auf die Realität von nirgendwoher.“ (Sheldrake 2012, S.384) – Das ist zwar als eine Kritik an die Naturwissenschaft formuliert, läßt sich aber auch auf Sheldrakes Vermutungen zur Unsterblichkeit beziehen. (Vgl. Sheldrake 2012, S.277 und 445)

Dennoch hat Sheldrake auch eine eigene Version des Körperleibs, die sich von Plessners räumlicher Differenzierung mit ihrer Doppelaspektivität von Innen und Außen darin unterscheidet, daß er die Gegenüberstellung von Körper und Geist als eine „Beziehung in der Zeit“ (Sheldrake 2012, S.163) definiert: „Die Zeit und nicht der Raum ist das Kernelement ihrer Beziehung.“ (Sheldrake 2012, S.164)

Dabei faßt Sheldrake das Bewußtsein wie Meyer-Drawe/Merleau-Ponty (vgl. meine Posts vom 07.12.2011 und vom 10.01.2012) als eine Form des Vollzugs. Er bewegt sich hier zwar in der Begrifflichkeit der Subjekt-Objekt-Differenzierung, aber der Sache nach läuft es auf dasselbe hinaus, wenn er schreibt: „Alles Aktuelle ist ein Augenblick der Erfahrung. Wenn er verklingt und ein vergangener Augenblick wird, tritt ein neuer Jetzt-Augenblick an seine Stelle, ein neues Subjekt der Erfahrung. Der eben vergangene Augenblick wird ein in der Vergangenheit liegendes Objekt für ein neues Subjekt – aber auch für andere Subjekte. Whitehead fasste das sehr knapp zusammen in den Satz: ‚Eben Subjekt, jetzt Objekt.‘() Erfahrung ist immer ‚jetzt‘, und Materie ist immer ‚vorbei‘.“ (Sheldrake 2012, S.164)

Die zeitliche Gegenüberstellung von Körper und Geist besteht darin, daß der Körper als Materie eine andere Kausalität beinhaltet als der von Sheldrake als ‚Feld‘ bestimmte Geist. Die Kausalität der Materie liegt in der Vergangenheit, wie der Stoß des Queues, der das in der Zeit nachfolgende Geschehen unter den Billardkugeln bestimmt. Während die Bewegungen der Kugeln auf dem Tisch ablaufen, lehnt der Spieler gelassen am Tisch und schaut dem von ihm ‚angestoßenen‘ Ereignissen zu.

Der Geist aber befindet sich an den verschiedenen Endpunkten des Geschehens auf dem Billardtisch, den Taschen, in denen die Kugeln nach dem Plan des Spielers verschwinden sollen. Diese ‚Taschen‘ bestimmen letztlich das finale Schicksal der Kugeln und wirken keinen ‚Stoß‘, sondern einen ‚Zug‘ auf die Kugeln aus. Sie wirken von der Zukunft auf die Kugeln zurück, eine nach hinten gerichtete Kausalität. Hier beißt die ‚Schlange‘ der Zeit sich selbst in den Schwanz.

Was bei den Billardkugeln äußerlich ist, der Stoß des Queues (französisch für ‚Schlange‘) und die Berechnungen des Spielers, ist im zeitlich bestimmten Körperleib vereint: „Mit der Gegenwart verbunden ist die Vergangenheit wie in der herkömmlichen Physik durch Kausalität, die Gegenwart mit der Vergangenheit jedoch durch das Fühlen oder, wie Whitehead es nennt, durch prehension, was so viel wie Erfassen oder Begreifen bedeutet. Nach Whitheads Auffassung ist jedes aktuelle Geschehen zweifach bedingt: durch in der Vergangenheit liegende physikalische Ursachen und durch das selbstschöpferische, sich selbst erneuernde Subjekt, das seine eigene Vergangenheit auswählt und auch unter möglichen Zukunftsversionen eine Wahl trifft.“ (Sheldrake 2012, S.164)

Die ‚zweifache Bedingung‘ aller physischen Prozesse bildet eine zeitliche Version der Plessnerschen Doppelaspektivität von Innen und Außen: gleichzeitig vergangen und zukünftig zu sein. Genau das ist auch ein Charakteristikum des Merleau-Pontyschen Vollzugs: „Selbst die allerkleinsten Prozesse, etwa Quantenereignisse, sind physikalischer und geistiger Natur und zeitlicher Ausdehnung. ... Es besteht demnach zwischen dem geistigen und dem physikalischen Pol eines Ereignisses eine Zeit-Polarität: physikalische Kausalität von der Vergangenheit zur Gegenwart und mentale Kausalität von der Gegenwart zur Vergangenheit.“ (Sheldrake 2012, S.164f.)

Aber es ist bezeichnend, daß Sheldrake sich generell auf physikalische Prozesse bezieht, die er dann auch mit dem menschlichen Bewußtsein verknüpft. Die Differenz des menschlichen Bewußtseins kommt bei ihm nicht in den Blick. Kreativität wird nicht individuell bestimmt. Es bleibt dabei: Sheldrake erklärt uns die Welt, nicht den Menschen. In all den physikalischen Prozessen bleibt sein Schicksal unverstanden.

Download

Donnerstag, 7. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Rekursive Formeln haben wir in diesem Blog schon öfter vorgestellt. Dazu zählen Formeln des Wissens über das Wissen des Anderen, des Wissens über innere Einstellungen des Anderen, Luhmanns Erwartungserwartungen, also Vermutungen über das, was Andere von einem selbst erwarten etc. Habermas bezeichnet diese rekursiven Strukturen des sozialen Bewußtseins als „Hintergrundwissen“ bzw. als „Lebenswelt“. (Vgl. meine Posts vom 14.01.15.01. und vom 16.01.2013) Sheldrake fügt noch zwei weitere rekursive Formeln hinzu: die des „Glaubens an den Glauben“ (Sheldrake 2012, S.406), also des Glaubensglaubens, und den „Experimentatoren-Erwartungs-Effekt“ (Sheldrake 2012, S.402).

Sheldrake spricht diesem ‚Glaubensglauben‘ eine „große() Bedeutung für die Erhaltung gesellschaftlicher Institutionen“ zu. (Vgl. ebenda) Wir haben es also auch hier mit einer lebensweltlichen Funktion zu tun, ganz ähnlich wie bei Habermas. Wie dieser Lebensweltglaube wirkt, beschreibt Sheldrake am Beispiel des Placeboeffekts: „Lange Zeit galt der Placeboeffekt in der medizinischen Forschung als ärgerlicher Störfaktor bei klinischen Tests. Man wollte ja etwas über ‚wirkliche‘ Heilmittel herausfinden, und da war der Placeboeffekt einfach eine unerwünschte Komplikation. Aber diese Einstellung beginnt sich jetzt zu wandeln. Die Placeboantwort zeigt, dass die Annahmen und Hoffnungen der Patienten eine wichtige Rolle im Heilungsprozess spielen.“ (Sheldrake 2012, S.358)

Der Placeboeffekt beruht ausschließlich auf den subjektiven Erwartungen des Patienten. Wenn der Arzt ihm erzählt, daß eine Tablette aus Zucker ein hochwirksames Medikament sei, kann diese Tablette Heilungsprozesse in Gang bringen. Dieser Effekt verstärkt sich sogar noch, wenn der Arzt selber glaubt, daß es sich bei der besagten Tablette um ein hochwirksames Medikament handelt: „Zu den stärksten Placeboreaktionen kommt es, wenn sowohl die Patienten als auch die Ärzte glauben, es werde ein hochwirksames neues Medikament getestet.“ (Sheldrake 2012, S.355)

Die wechselseitigen Erwartungen von Arzt und Patient verstärken also den Heilungserfolg, weshalb gute Ärzte den Placeboeffekt inzwischen für ihre Therapie nutzen: „Die besten Ärzte setzen die Placebowirkung voll ein, die schlechtesten nutzen die Placeboverstärkung bei ihren Behandlungen kaum.()“ (Simon Sing/Edzart Ernst 2009, zitiert nach Sheldrake 2012: S.359)

In der medizinischen Forschung werden deshalb immer öfter „Doppelblindverfahren“ angewendet, um den Placeboeffekt unter Kontrolle zu halten; d.h. weder die Patienten noch die Experimentatoren wissen genau, was sie gerade machen, ob sie es mit Placebos zu tun haben oder nicht. Wobei das Placebo sich nicht nur auf das Verabreichen von Medikamenten beschränkt, sondern auch in „vorgetäuschte(n) Operationen“ bestehen kann. (Vgl. Sheldrake 2012, S.357)

Auch bei Verhaltensforschungen mit Tieren sind Doppelblindverfahren sinnvoll. Wenn Experimentatoren Ratten durch ein Labyrinth laufen lassen und man ihnen erzählt, daß es sich bei einigen von ihnen um selektiv auf Schlauheit gezüchtete Ratten handelt, so haben die angeblich genetisch aufgewerteten Ratten höhere Erfolgsraten beim Finden des Ausgangs als die anderen angeblich nicht genetisch aufgewerteten Ratten, auch wenn es sich bei allen Ratten um ganz normale, nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Exemplare handelt. (Vgl. Sheldrake 2012, S.396)

Sheldrake führt den Placeboeffekt natürlich auf die morphische Resonanz zurück. Die morphogenetischen Felder unserer Überzeugungen und Erwartungen verstärken sich wechselseitig und das sogar artübergreifend. Das passiert Sheldrake zufolge sogar in den sogenannten ‚harten‘ Naturwissenschaften, wo der Beobachtereffekt zumindestens in der Quantenmechanik bekannt ist. Ansonsten leugnen aber Naturwissenschaftler den Beobachtereffekt gerne: „Am häufigsten wurde von Vertretern der physikalischen und der Biowissenschaften vorgebracht, Blindmethoden seien unnötig, weil ‚die Natur selbst blind‘ sei“, wie Sheldrake bei einer von ihm durchgeführten Umfrage feststellte. (Vgl. Sheldrake 2012, S.398)

Sheldrake spricht sogar von einem regelrechten „Schweigeabkommen“ der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ hinsichtlich des „Experimentatoren-Erwartungs-Effekts“. (Vgl. Sheldrake 2012, S.402) Das Ergebnis ist, daß das Doppelblindverfahren in der Parapsychologie in etwa 80 % der Experimente zur Anwendung kommt und in den physikalischen und Biowissenschaften nur zu 0 bis 2,5 %. Verstärkt wird der Erwartungseffekt noch durch das Peer-Review-Verfahren wissenschaftlicher Zeitschriften, in denen vor allem solche wissenschaftlichen Forschungsergebnisse akzeptiert werden, die die allgemein erwarteten Resultate erbringen. (Vgl. Sheldrake 2012, S.405)

Ein besonders drastisches Beispiel für die rekursive Macht fremd induzierter Intuitionen bildet die Hypnose. Sheldrake schildert ein Erlebnis, wo ein Physiologiedozent einem Studenten, dem er zuvor suggeriert hatte, daß es sich um eine glühende Zigarette handelt, das stumpfe Ende eines Bleistifts auf den Arm drückt, woraufhin sich Brandblasen bildeten. (Vgl. Sheldrake 2012, S.260f.)

An dieser Stelle wird nun allerdings auf drastische Weise deutlich, worin das Problem bei Sheldrakes Konzept der morphogenetischen Felder besteht. Wir haben es mit einer umfassenden Theorie der Wechselwirkung zu tun. Sie beschreibt, wie alles mit allem zusammenhängt. Die Wechselwirkungen sind aufgrund der nicht-lokalen Wirkungsweise der morphischen Resonanz räumlich und zeitlich unbegrenzt: „Wenn die morphische Resonanz nicht mit wachsender Entfernung schwächer wird, würden neue Kristalle auf der Erde in Resonanz mit gleichartigen Kristallen auf anderen Planeten stehen und deshalb ohne Weiteres kristallisieren, ohne eine Lernphase.“ (Sheldrake 2012, S.147)

Auf diese Weise glaubt Sheldrake erklären zu können, warum in der chemischen Industrie bestimmte Verfahren zur Kristallisierung, die jahrelang problemlos funktioniert hatten, plötzlich durch unerwünschte Kristallbildungen, die bis dahin nie aufgetreten waren, unbrauchbar wurden. Sheldrake zufolge wäre es denkbar, daß irgendwo im Weltraum, auf entfernten Planeten evolutionäre Modifikationen in der Kristallbildung stattgefunden haben, die sich nun hier auf der Erde auswirken. (Vgl. Sheldrake 2012, S.139ff.)

In Verbindung mit der Hypnose, also mit Bezug auf das menschliche Bewußtsein, stellt sich die Frage, inwiefern wir unter den Bedingungen einer nicht-lokalen Rekursivität überhaupt frei sind, unsere eigenen Gedanken zu denken? Wo in Sheldrakes Konzept zu den morphogenetischen Feldern ist der Ort einer eigenständigen individuellen Urteilskraft?

Ich habe in allen meinen Posts in diesem Blog immer wieder großen Wert darauf gelegt, daß der einzelne Mensch, das Individuum, aus der Lebenwelt ‚herausfallen‘ kann. Nur in Form einer zweiten Naivität, also in einer kritischen Positionierung zu unserer eigenen Naivität ist Freiheit denkbar. Der Begriff der Lebenswelt ist aber immerhin noch einigermaßen begrenzt: er bezieht sich nur auf das menschliche Bewußtsein. Sheldrake aber entgrenzt nun diese Lebenswelt und dehnt sie auf den Weltraum aus, so daß wir – ungeachtet der unendlich weiten lebensfeindlichen Ödnis, in der sich die kleine blaue Perle unseres Planeten dreht – nun sogar von einem Lebenswelt-Raum sprechen müßten. Wie sollen wir uns ihm gegenüber exzentrisch positionieren?

Sheldrakes Konzept erklärt uns nicht den Menschen. Es erklärt uns nur die Welt. Und das umso mehr, als Sheldrake das Bewußtsein vom Körper abkoppelt und es als ein immaterielles Energiefeld faßt, das des Körpers nur als Empfangsstation bedarf, nach seinem Verfall aber in das „kollektive Gedächtnis der Menschheit“ (Sheldrake 2012, S.277) eingeht: „Wenn Erinnerungen nicht als materielle Spuren im Gehirn gespeichert sind, sondern als Resonanzphänomene existieren, gehen sie vielleicht nicht mit dem Tod verloren, auch wenn der Körper, über den sie unter normalen Umständen abgerufen werden, nicht mehr existiert.“ (Sheldrake 2012, S.445)

Hier versucht Sheldrake für meinen Geschmack entschieden zu viel zu erklären. Mutmaßungen über den körperleiblichen Tod hinaus erfüllen vielleicht religiöse Bedürfnisse. Sie bleiben aber belanglos hinsichtlich dessen, was hier und jetzt zu tun ist.

Download