„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 31. Januar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

In seinem Vorwort zum „Wissenschaftswahn“ („The Science Delusion“ (2012)) verweist Sheldrake über fünf Seiten ausführlich auf seine beachtliche Karriere. Die beeindruckende Liste wissenschaftlicher Leistungen, die Sheldrake aufführt und die sonst entweder von Festrednern zu runden Geburtstagen oder anderen feierlichen Anlässen vorgetragen oder im Anhang einer Bewerbung auf einen Lehrstuhl aufgeführt werden, könnte den Leser zu dem Verdacht veranlassen, daß er es hier mit einem eitlen, sich selbst ein wenig zu wichtig nehmenden Autor zu tun hat. Wenn man sich aber die breite Palette der Themen anschaut, zu denen Sheldrake in seinem Buch Stellung nimmt und zu denen u.a. auch die Parapsychologie gehört, wird einem klar, daß es sich eher um eine Selbstschutzmaßnahme handelt. Da hat jemand einerseits den Mut, sich am Rande des wissenschaftlichen Mainstreams zu bewegen, ist sich aber zugleich des Risikos für seine wissenschaftliche Reputation bewußt. Dem will Sheldrake gleich auf den ersten Seiten seines Buches einen Riegel vorschieben.

Daß Sheldrakes Hinweise auf seine naturwissenschaftliche Expertise nicht überflüssig sind, zeigt z.B. eine Rezension des Deutschlandfunks (vom 16.12.2012), die einerseits dem „ersten Teil des Buches“ für seine „lesenswerten“ Beschreibungen der aktuellen Sackgassen in der Forschung Anerkennung zollt und auch die „teils berechtigte(n) Fragen“ zur „Debatte über die Erklärungsmacht und die Grenzen der Naturwissenschaften“ als „bereichernd“ lobt, aber ansonsten beklagt, daß „die experimentellen Belege“ für Sheldrakes Thesen „dürftig sind“.

Was den ersten Teil des Buches betrifft, hätte ich schon gerne genauer gewußt, wie weit er sich nach Ansicht des Rezensenten eigentlich erstreckt und wo der zweite, weniger ernstzunehmende Teil des Buches beginnt. Ich vermute, daß vor allem das neunte Kapitel (S.303-339) zur Parapsychologie gemeint ist. Auch Sheldrakes Bezüge auf verschiedene religiöse Praktiken und mystische Erfahrungen werden den Rezensenten wohl eher amüsiert haben. In dieser Hinsicht kann auch ich Sheldrake eine gewisse unkritische Neigung, die Erklärungskraft seiner Thesen zu den morphogenetischen Feldern zu überdehnen, nicht absprechen. Aber Sheldrake hat das unbestreitbare Recht, die Reichweite seiner Thesen in vorsichtig formulierten Anfragen in alle Richtungen durchzureflektieren. Im Rahmen dessen jedenfalls, was sich experimentell belegen läßt, steht er – angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen – gar nicht mal so schlecht da.

Vor allem, wenn man ihn und seine morphogenetischen Felder mit anderen anerkannten Wissenschaftlern und Wissenschaftsrichtungen vergleicht. Man denke nur an die theoretische Physik mit ihren zehndimensionalen String-Theorien und elfdimensionalen M-Theorien, deren Basis ausschließlich auf mathematischen Formeln beruht und um deren experimentelle Belegbarkeit es weitaus schlechter steht als bei Sheldrakes morphogenetischen Feldern. Kosmologen wie Max Tegmark setzen sogar ganz naiv „mathematische Existenz“ und „physische Existenz“ gleich, „so dass alle mathematischen Strukturen auch physisch existieren müssen“. (Vgl. Sheldrake 2012, S.130) – Wozu also überhaupt noch experimentieren?

Das ist genau der Grund, warum ich mich entschied, in der gemeinsam mit Thomas Altfelix erstellten Graphik zu den Entwicklungslogiken (vgl. meinen Post vom 21.04.2010) die Ebene der kosmischen Evolution nicht mit aufzunehmen. Zu dieser Ebene schien mir angesichts des aktuellen Standes der Physik mit ihrem mathematischen Platonismus (vgl. Sheldrake 2012, S.119ff.) eine seriöse wissenschaftliche Bezugnahme nicht möglich zu sein.

Um unsere damalige Entscheidung gegen die Aufnahme einer kosmischen Evolutionsstufe zu veranschaulichen, habe ich mir die Graphik noch einmal vorgenommen und ergänzt. Daran wird deutlich, daß wir allen Evolutionsebenen – der biologischen, kulturellen und biographischen – ein Fundament zugeordnet haben, aus dem die jeweiligen Entwicklungsprozesse ihre Dynamik beziehen. Ins Zentrum dieser Evolutionsprozesse haben wir immer den Menschen gestellt, wobei die biologische Evolutionsebene des Menschen bis zur Entstehung des Lebens überhaupt zurückreichen sollte. Der ‚Mensch‘ bildet also das Telos der genannten drei Evolutionsebenen, nicht etwa weil wir davon ausgehen, daß die Evolution zwangsläufig auf ihn hat hinauslaufen müssen, sondern aus dem einfachen Grunde, weil wir als Menschen auf diese Evolution zurückblicken und uns nach ihrem Sinn für uns fragen.


Das Fundament der kosmischen Evolution – die ich in der aktualisierten Graphik in Klammern gesetzt habe – bildet nun nach Aussage der theoretischen Physiker nur noch die Mathematik. Sie ist auch nicht mehr in Worten ‚beschreibbar‘, wie die biologische Evolution – für die die Brauchbarkeit der Mathematik im Übergang von der Physik zur Biologie verschwindet bzw. nachläßt (vgl. Sheldrake 2012, S.196) –, sondern nur noch als mathematische Formel darstellbar. Sobald wir versuchen, unanschauliche Pseudophänomene wie den Urknall mit Worten zu beschreiben, finden wir uns in religiösen Erfahrungswelten wieder: „Dazu passt, dass Papst Pius XII. diese Theorie 1951, über fünfzehn Jahre vor ihrer allgemeinen Anerkennung in der Physik, in einer Ansprache vor der Pontifikalakademie der Wissenschaften ausdrücklich begrüßte ...“ (Sheldrake 2012, S.93)

Mathematik ist letztlich vor allem ein Produkt des menschlichen Bewußtseins. Ihre ‚Objektivität‘ besteht darin, von allem zu abstrahieren, was das menschliche Bewußtsein an sinnlichen Wahrnehmungen im Selbst- und Weltverhältnis beinhaltet. Sie ist also praktisch inhaltsleer und vielleicht deshalb so gut ‚anwendbar‘, insbesondere auf ebenfalls abstrakte, aus Kontexten herauslösbare, isolierte Phänomene. Im Unterschied zu den fremden Fundamenten, wie wir sie in der Graphik der biologischen, kulturellen und biographischen Evolution zuordnen, stellt sie letztlich nichts anderes dar als Projektionen eines bestimmten geistigen Zustands, – vor allem dort, wo sich die Bereiche ihrer ‚Anwendung‘ unserer sinnlichen Anschauung prinzipiell entziehen.

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Samstag, 26. Januar 2013

Rekursivität für Insider

Im heutigen Münster-Krimi gab es folgenden denkwürdigen Dialog:

Die Kommissarin sagt nach einem Telephongespräch zu ihrem Mitarbeiter:
„Dieser Wilsberg weiß, daß ich weiß, daß er etwas weiß, das ich nicht weiß! Das macht mich rasend!“
Ihr Mitarbeiter antwortet:
„Ich weiß.“

(Vgl.u.a. meine Posts vom 12.02., 09.06., 13.07.2012)

Sonntag, 20. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Habermasen Entwicklungskonzept ist eng mit dem Lernbegriff verknüpft. (Vgl.Bd.1: S.103) Demnach bilden kulturelle Entwicklungsprozesse zugleich auch Lernprozesse. Es muß sich also auch im Kulturenvergleich eine Zunahme an Rationalität dingfest machen lassen: „Wenn die Rationalität von Weltbildern in der formalpragmatisch bestimmten Dimension Geschlossenheit/Offenheit beurteilt werden kann, rechnen wir mit systematischen Veränderungen von Weltbildstrukturen, die nicht allein psychologisch, ökonomisch oder soziologisch, also mit Hilfe externer Faktoren erklärt, sondern auch auf einen intern nachkonstruierbaren Wissenszuwachs zurückgeführt werden können.“ (Bd.1: S.102f.)

Diese kognitive Orientierung an einem rekonstruierbaren Wissenszuwachs hat wiederum mit Habermasens Bestimmung des Lernbegriffs zu tun: „Das Konzept der Begründung ist mit dem des Lernens verwoben. Auch für Lernprozesse spielt die Argumentation eine wichtige Rolle.“ (Bd.1: S.39) – Wenn wir Lernen vor allem als rekonstruierbaren Begründungs- bzw. Argumentationsprozeß fassen, dann fallen dabei nicht nur alle intuitiven Momente des Lernens unter den Tisch. Wir könnten dann auch Tomasellos Differenzierung zwischen einem individuellen und einem kulturellen Lernen vergessen, da individuelles Lernen nicht an argumentativer Rechtfertigung gegenüber einem sozialen bzw. kulturellen Kontext orientiert ist, sondern ausschließlich am eigenen Bedürfnis.

Günter Dux wirft deshalb Habermasens Entwicklungskonzept vor, lediglich auf eine „‚logische Rekonstruktion‘ des historischen Verlaufsprozesses“ hinauszuwollen. Diese logische Rekonstruierbarkeit basiert Dux zufolge auf der Annahme, daß „epochale Änderungen“ auf funktionale Notwendigkeiten zurückzuführen seien. Wenn Kulturen in ihrer Entwicklung an einen Punkt kommen, wo „Integrations- und Steuerungsprobleme“ mit den bisherigen Mitteln nicht mehr zu „bewältigen“ sind, müssen sie ein höheres Integrationsniveau anstreben. (Vgl. Dux 2005/2000, S.345) Was dieser Funktionalismus übersieht, läßt sich leicht an einem Vergleich unserer technischen Zivilisation mit dem Schicksal der Osterinsel zeigen. Die Osterinsel war offensichtlich nicht in der Lage, auf den durch das Abholzen der Wälder drohenden Ressourcenverlust mit dem Übergang in eine  neue kulturelle Epoche mit nachhaltiger Waldbewirtschaftung zu reagieren. So dauerte sie ‚nur‘ 700 Jahre und ging dann zugrunde.

Wenn wir nun aus unserer Perspektive über diese Lernunfähigkeit der Osterinselbewohner bedauernd mit den Schultern zucken wollten, um dann zu unserem eigenen Lebensalltag überzugehen, weil es uns ja noch gibt und unsere Kultur deshalb offensichtlich erfolgreicher ist, wäre das nur ein weiterer Beleg für den ‚blinden Fleck‘ jeder Lebenswelt: sich selbst nicht in den Blick nehmen zu können. Weder gibt es die technische Zivilisation schon 700 Jahre, noch sind ihre Aussichten, auch nur weitere 100 Jahre so weitermachen zu können, in irgendeiner Weise realistisch. Und leider ist auch unsere Fähigkeit, den Kurs vom jetzigen Raubbau weg hin zur Nachhaltigkeit umzuändern, eher zweifelhaft. Der von Habermas vertretene Funktionalismus bildet also eher kein besonders wirkmächtiges historisches Grundgesetz.

Dux hält Habermasens logischem Funktionalismus entgegen: „In einer methodisch ergiebigen Weise läßt sich das Bewußtsein, an die Evolution anschließen zu müssen, ... nur nutzen, wenn man den Rekonstruktionsprozeß aus der Ontogenese herausführt und sich dabei an das empirisch gesicherte Wissen hält.“ (Dux 2005/2000, S.255, vgl. auch S.149, Anm.49) – Allerdings beinhaltet auch Duxens Annahme einer empirischen Rekonstruierbarkeit des „historischen Verlaufsprozesses“ eine Vernachlässigung intuitiver, anachronistischer und chaotischer Momente der Menschheitsentwicklung, die, wie ich meine, grundsätzlich gegen jede Form ihrer rational absicherbaren Rekonstruierbarkeit spricht. (Vgl. meinen Post vom 10.09.2012) Schon Darwin hatte seine sogenannte ‚Evolutions‘-Theorie – er selbst verwendete den Begriff der ‚Evolution‘ nicht – als einen Zufallsprozeß dargestellt, deren Verlauf im Nachhinein zwar beschrieben, aber nicht erklärt werden kann. Wo aber etwas nicht erklärt werden kann, kann auch von Rekonstruktion nicht mehr die Rede sein. Gerade wegen der Nicht-Erklärbarkeit konkreter Evolutionsprozesse wurde Darwins ‚Evolutionstheorie‘ lange Zeit nicht als wissenschaftliche Theorie anerkannt. (Vgl. Philipp Sarasin: „Darwin und Foucault“ (2009))

Da es mir in diesem Blog immer auch um die Autonomie der individuellen Urteilskraft geht, die ich auch gerne gegen Intelligenzkonzepte richte, die den Menschen ein unterschiedliches Intelligenzniveau zusprechen – ich selbst gehe davon aus, daß der Verstand bei allen Menschen gleichwertig ist und sich nicht quantifizieren läßt –, möchte ich hier noch auf zwei besondere Stellen bei Jürgen Habermas und Günter Dux eingehen.

Im Rahmen seiner Erörterungen zur kulturellen Phylogenese kommt Habermas zu einer Feststellung, die meine These stützt: „Wir müssen davon ausgehen, daß erwachsene Mitglieder primitiver Stammesgesellschaften grundsätzlich dieselben formalen Operationen erwerben können wie Angehörige moderner Gesellschaften, wenngleich die höherstufigen Kompetenzen dort weniger häufig auftreten und selektiver, d.h. in engeren Lebensbereichen angewendet werden.“ (Bd.1: S.74f.)

Zwar ist hier nur von formalen Kompetenzen die Rede, im Sinne des von mir abgelehnten Intelligenzkonzepts; Habermas berücksichtigt hier nicht das Konzept einer zweiten Naivität, in der intuitive und rationale Momente wechselseitig aufeinander bezogen sind. (Zur zweiten Naivität vgl.u.a. meine Posts vom 14.12.201024.01.2011 und vom 24.07.2011) Aber das Beispiel, das er bringt, geht doch in diese Richtung und leuchtet unmittelbar ein. Dabei geht es um die Frage, wie Regen entsteht. Der ‚Wilde‘ glaubt an Regengötter und ihre Priester, wir glauben an wissenschaftliche Modelle und die Meteorologen: „Er (der ‚Wilde‘ – DZ) ist zu diesem Glauben nicht aufgrund eigener Beobachtungen und Folgerungen gelangt, sondern hat ihn in derselben Weise übernommen wie das übrige kulturelle Erbe, nämlich dadurch, daß er in seine Kultur hineingeboren wurde. Wir denken beide in Denkmustern, die uns von den Gesellschaften bereitgestellt wurden, in denen wir leben. Es wäre unsinnig zu sagen, der Wilde denke über den Regen mystisch, wir dagegen wissenschaftlich.“ (Bd.1: S.74f. (Anm.74))

Man müßte noch ergänzen, daß es ebenso unsinnig wäre, zu behaupten, der ‚Wilde‘ wäre weniger ‚intelligent‘ als die Angehörigen technischer Zivilisationen. Dem widerspricht nun Günter Dux mit dem Hinweis auf ein Experiment, in dem erwachsene Mitglieder ‚primitiver‘ Kulturen die gleichen Wassermengen beim Umfüllen in schmalere oder breitere Behälter als unterschiedlich groß einschätzen, so daß sie sich – ähnlichen Experimenten von Piaget zufolge – auf dem Niveau von Vorschulkindern befinden. (Vgl. Dux 2005/2000, S.368ff.) Das Versagen beim „Urteil der Volumenkonstanz“ macht Dux deshalb an einer kulturellen „Differenz in der Urteilskompetenz“ fest, und er betont, daß „es schlicht ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit ist, daß die Beweislast der Erklärung von denen übernommen wird, die hartnäckig behaupten, es gebe keine Differenz in der Urteilskompetenz.“ (Vgl. Dux 2005/2000, S.370)

Hier stehen offensichtlich Vertreter der These, daß der Unterschied beim Urteil zur Volumenkonstanz ein Problem der „Performanz“ sei, Vertretern der These, die auch Dux vertritt, gegenüber, daß der Unterschied auf die „Kompetenz“ zurückzuführen sei. (Vgl. ebenda) Der Begriff der „Performanz“ soll dabei auf die Lebensumstände der Probanden verweisen, in denen das Umschütten von flüssigen oder körnigen Substanzen wie Wasser oder Zucker in unterschiedliche Behälter keine Rolle spielt und sich deshalb ein entsprechendes rationales Know-how nicht hat herausbilden können.

Dux hält dem entgegen, daß die Probanden, wenn sie über die entsprechenden formal-operationalen Kompetenzen verfügten, sie auch anwenden würden, unabhängig von den kulturellen Performanzbedingungen. In einer Fußnote hält er fest, „daß die unbesehene Akzeptanz, die diese Theorie bei J. Habermas gefunden hat, verwundert. Ebenso verwundert die Annahme, daß ‚primitive und archaische Kulturen‘ eine formal-operationale Kompetenz ausgebildet hätten. Das Gegenteil gilt in der kulturvergleichenden Forschung inzwischen als ausgemacht.“ (S.370f., Anm.62)

Ich kann die Experimente, auf die Dux sich bezieht, nicht beurteilen. Was Piagets Experimente, die den von Dux angesprochenen Experimenten zugrundeliegen, betrifft, sind diese in ihrer Aussagekraft inzwischen jedenfalls erheblich relativiert worden. Die von Piaget postulierten Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen im Bereich logischer Denkfähigkeiten sind im Vergleich zum Erwachsenenverstand wesentlich geringer, als von Piaget angenommen. (Vgl. Oerter/Montada: „Entwicklungspsychologie“ (6/2008), S.448, 457, 478)

Wenn Dux den Vertretern der Performanzthese vorwirft, daß sie nicht erklären könnten, wieso die erwachsenen Probanden nicht zum Urteil der Volumenkonstanz fähig waren, könnte man ihn mit Habermas zurückfragen, wie er zwischen dem Glauben an Regengöttern und Meteorologen unterscheiden will. Denn wissenschaftliche Modelle wie Klima und Wetter sind den Laien heutzutage ähnlich unzugänglich wie die magischen Praktiken der Priester bei ‚Primitiven‘. Allein die den Wettermodellen zugrundeliegenden mathematischen Berechnungen und Algorithmen sind prinzipiell nur wenigen Experten zugänglich. Was übrigens auch wieder nichts aussagt über deren ‚Intelligenz‘. Überhaupt ist auch die Mathematik kein Garant für Objektivität; man denke nur an die zehndimensionale Superstring-Theorie oder die elfdimensionale M-Theorie. Bei solchen wissenschaftlich nicht überprüfbaren, allein von mathematischen Modellen getragenen ‚Theorien‘ ist man nicht mehr weit weg vom Schamanismus klassischer Prägung.

Aber Fragen mit Gegenfragen zu parieren, führt nicht weiter. Ich möchte an dieser Stelle lediglich nochmal darauf verweisen, daß der Anachronismus in der anthropologischen Verfassung des Menschen – in jedem von uns als Angehörigen technologisch fortgeschrittenster, global ausgebreiteter Zivilisationen befinden sich gleichermaßen Anteile aus dem Neolithikum und noch weiter zurückreichende Gemeinsamkeiten mit unseren Primatenverwandten, die sich nach wie vor auf unser Denken und Handeln auswirken – nahelegt, die sogenannten formal-operativen Kompetenzen nicht überzubewerten. Wenn es um den menschlichen Verstand geht, um die individuelle Urteilskompetenz, sollten wir nicht nur ausschließlich auf die abstraktiven Fähigkeiten achten, sondern immer auch die leiblichen Aspekte, das embodiment, mit einbeziehen.

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Samstag, 19. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Nicht nur, weil der Sozialwissenschaftler seine Forschungsgegenstände, die sozialen Phänomene, immer schon verstanden haben muß, ist es problematisch, wenn Habermas „Rollen“ als „soziale Tatsachen“ darstellt, deren „Faktizität ... keiner Begründung mehr (bedarf)“. (Vgl.Bd.2: S.347) Denn ungeachtet dessen, daß ‚Tat‘-Sachen ähnlich wie die Etymologie des Wortes „Faktum“ auf das Gemacht-Sein von empirischen Ereignissen verweisen, die keineswegs als „Datum“, als Gegebenes einfach so in der Welt vorkommen, meint Habermas, an dieser Stelle konform mit dem konventionellen Sprachgebrauch von ‚Tatsache‘ und ‚Faktizität‘, doch eben genau dieses: die „Geltungsansprüche“ werden in den „Rollen“ objektiv aufbewahrt, wo wir sie nur noch entsprechend den situativen Anlässen zu entnehmen brauchen. Ganz ähnlich verweist Habermas in seiner Besprechung zu Tomasellos „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) auf den objektiven Charakter von Symbolen: „Symbolen sieht man gewissermaßen ihre Kommunikationsfunktion an.“ (ZEIT-ONLINE 2009; vgl. auch meinen Post vom 13.01.2013) – Wir finden Symbole samt ihren Geltungsansprüchen einfach vor, wenn wir hinsehen.

In den sozialen Rollen als sozialen Tatsachen liegen also die „Geltungsansprüche“, die das kommunikative Handeln von Aktoren regulieren, faktisch vor. Daß es zur Einlösung dieser Geltungsansprüche einer gemeinsamen Interpretationsleistung seitens der Beteiligten bedarf, ändert nichts an ihrer faktischen Geltung.

Dennoch führt diese Verschmelzung von „Geltungsansprüchen“ und „Rollen“ zu sozialen Tatsachen, die an die Inter-Faktizität von Merleau-Ponty und Meyer-Drawe erinnert (vgl. meinen Post vom 05.12.2011), zu einer Vernachlässigung der Funktion der Rolle als Maske, wie sie Plessner in seinem Buch zu den „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 16.11.2010) An den Begriffen der „Rolle“ und der „Maske“ wird wieder einmal der Unterschied zwischen Grundbegriffen und Grenzbegriffen deutlich. (Vgl. meinen Post vom 14.01.2013) Der Begriff der „Rolle“ bildet einen Grundbegriff der Sozialwissenschaft. Der Begriff der „Maske“ bildet hingegen einen sozialen Grenzbegriff. Und Plessner verwendet ihn nicht von ungefähr bei seiner grenzbegrifflichen Differenzierung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“: „Zum Grundcharakter des Gesellschaftsethos gehört ... die Sehnsucht nach den Masken ...“ (Vgl. Plessner 2001/1924, S.41)

Der Begriff der Maske beinhaltet die Möglichkeit einer exzentrischen Positionierung der in Gesellschaften interagierenden Individuen. Die Masken ermöglichen es ihnen, sich gleichzeitig zu zeigen und zu verbergen: „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.“ (Vgl. Plessner 2001/1924, S.82) – Dieser Mechanismus des gleichzeitigen Sich-Zeigens und Verbergens erinnert nicht von ungefähr an Plessners Definition der Seele als einem „noli me tangere“. (Vgl. Plessner 2001/1924, S.65)

Die Maske verhilft also zu einer Auflösung der Rousseauschen Mensch-Bürger-Antinomie, nicht gleichzeitig Mensch und Bürger sein zu können. Mit Hilfe der Maske entzieht sich das Individuum den Zudringlichkeiten der Gesellschaft (und der Gemeinschaft), so daß die Gesellschaft nun in Form der „Öffentlichkeit“ zur Bühne seiner Selbstbehauptung werden kann. Anstatt seine Rollen nur zu ‚leben‘, beginnt der Mensch sie nun in seinen alltäglichen gesellschaftlichen Beziehungen als Masken zu nutzen und mit ihnen zu spielen: „Dieses Reich der Alltäglichkeit ... kennen wir alle: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen. Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesetzten Konventionen, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen.“ (Vgl. Plessner 2001/1924, S.80)

Weit entfernt davon, soziale Phänomene als Tatsachen zu beschreiben, verwandelt Plessner sie in eine Bühne, auf der die Individuen ihr Maskenspiel betreiben. Anstatt einer Verschmelzung von Rolle und Individuum das Wort zu reden, plädiert Plessner für ein Spiel mit der Differenz, für einen tänzerischen Geist. Dem habe ich hier nichts weiter hinzuzufügen.

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Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Wenn sich der Sozialwissenschaftler vom Naturwissenschaftler darin unterscheidet, daß er die sozialen Prozesse, zu denen er Daten sammelt, immer schon verstanden haben muß, indem er sie in performativer Einstellung mitvollzieht (vgl. meinen gestrigen Post), dann stellt sich die Frage, inwiefern er überhaupt eine objektive Einstellung zu diesen sozialen Prozessen einnehmen kann. Habermas beantwortet diese Frage, indem er zwischen Sprechen und Handeln unterscheidet: „Bei der Beantwortung dieser Frage ist es nützlich, sich zu erinnern, daß Sprechen und Handeln nicht dasselbe sind. ... Er (der Sozialwissenschaftler – DZ) beteiligt sich am Prozeß der Verständigung um des Verstehens und nicht um eines Zweckes willen, für den das zielgerichtete Handeln des Interpreten mit dem zielgerichteten Handeln der unmittelbar Beteiligten koordiniert werden müßte. Das Handlungssystem, in dem sich der Sozialwissenschaftler als Aktor bewegt, liegt auf einer anderen Ebene ...“ (Bd.1: S.167)

Der Sozialwissenschaftler bewegt sich also auf einer anderen Ebene als die „unmittelbar Beteiligten“, mit denen er gleichwohl „virtuell“ interagiert, wenn er an ihren sozialen Ritualen „in performativer Einstellung“ teilnimmt. (Vgl.Bd.1: S.168) Wenn der Sozialwissenschaftler also seine ‚Beobachtungen‘ in Vereinen, auf Festveranstaltungen, im Berufsalltag der Menschen macht, indem er sie dort aufsucht, so nimmt er auch an deren Aktivitäten dort teil, verfolgt dabei aber seine eigenen wissenschaftlichen Zwecke. Wo die unmittelbar Betroffenen ihre Rituale und Rollen in vollem Engagement ausleben – wo sie handeln –, ‚spielt‘ der Sozialwissenschaftler diese Rollen nur; d.h. er spricht sie nur mit, ohne wirklich dazu zu gehören.

Das hat nun aber etwas mit Rekursivität zu tun, also mit jener „intentionalen Semantik“, die Habermas nur als einen „abgeleitete(n) Modus der Verständigung“ beschreibt (vgl.Bd.1: S.371), während sie bei Tomasello deren Möglichkeitsbedingung schlechthin bildet (vgl. meinen Post vom 13.01.2013). Wenn wir Rekursivität in Form eines Sphären- bzw. Schalenmodells darstellen (vgl.u.a. meine Posts vom 14.04.07.06. und vom 19.08.2012), so bilden ‚Sprechen‘ und ‚Handeln‘ zwei ganz besondere Schalenebenen: die eine Ebene transzendiert die andere und umgekehrt.

Mit dem Sprechen erheben wir uns über der Handlungsebene und gewinnen so einen Freiraum, in dem wir uns unserem Handeln gegenüber ‚verhalten‘ können. Wir können uns über die möglichen Folgen unseres Handelns Gedanken machen und uns dann für oder gegen das Handeln entscheiden. Aber auch das Handeln ‚transzendiert‘ das Sprechen: es zieht uns in die Wirklichkeit hinein, deren Komplexität wir niemals vollständig überschauen können, und wir sind gezwungen, die Folgen auf uns zu nehmen. Während also Sprechen ohne Handeln wirkungslos bleibt, so beinhaltet Handeln ohne Sprechen keine Freiheit.

Dabei gibt es noch den Sonderfall des performativen Sprechens, in dem wir Handlungen ineins mit dem Sprechen vollziehen. Dieses performative Sprechen ist meistens institutionalisiert, wenn etwa der Rektor einer Universität verkündet, daß das Semester beginnt, oder wenn sich zwei Menschen die Ehe versprechen.

Rekursivität bedeutet immer, daß wir unserem rekursiven Selbst- und Weltverhältnis eine neue Ebene hinzufügen, die uns einen neuen Freiraum des Denkens und Handelns eröffnet. Allerdings sind längst nicht alle diese ‚Schalen‘ bzw. ‚Ebenen‘ transzendent zueinander. Die Formel „Ich weiß, daß Du weißt, daß ich weiß ...“ läßt sich beliebig variieren und in einem unendlichen Regreß fortsetzen, ohne daß sich dabei auch neue Inhalte ergeben: „Ich weiß, daß ich weiß etc.“, bis irgendwann – oder auch nicht – vielleicht noch einmal das Wissen eines ‚Du‘ in diese Formel eingebaut wird. Oder völlig inhaltsleer: „Ich weiß, daß ich nichts weiß ...“. (Vgl. hierzu meine Posts vom 12. und vom 21.02.2012)

Die rekursive Generierung neuer Denkebenen bringt nur dann neue Freiräume des Denkens und Handelns, wenn sie neue Inhalte und Perspektiven einbringen bzw. eröffnen. Aber auch damit verhalten sie sich noch nicht transzendent zu den anderen Denkebenen. Transzendent verhalten sie sich nur zum Handeln selbst, so wie eben auch das Handeln zum Denken bzw. Sprechen transzendent ist. D.h. im Handeln gehen wir über das Bewußtsein hinaus, so wie wir im Denken uns über das Handeln erheben.

Eine weitere Transzendenz ergibt sich aus der intentionalen Struktur der Denkebenen. Alle unsere Gedanken werden von Gefühlen und Motiven begleitet. Erst diese Gefühle und Motive fügen die verschiedenen Ebenen des Sphärenmodells zusammen und beziehen sie aufeinander. In Tomasellos Kommunikationsmodell handelt es sich dabei vor allem um die Kommunikationsmotive des Helfens und Teilens. Sie richten die individuelle, monadisch auf sich bezogene Aufmerksamkeit auf die Intentionen Anderer wie Ich (Habermas spricht immer von „Ego“ und „Alter“) aus, so daß so etwas wie gemeinsame Aufmerksamkeit möglich wird. Deshalb muß es nun heißen: „Ich will, daß Du weißt, daß ich Dir etwas mitteilen möchte!“ (Vgl. meinen Post vom 25.04.2010)

Kleinkinder legen deutliche Anzeichen von Unzufriedenheit an den Tag, wenn Interaktionen mit ihren Bezugspersonen zwar zum gewünschten handlungsstrategischen Ziel führen, diese Bezugspersonen ihnen aber nicht zeigen, daß sie verstehen, daß das Kind mit ihnen kommunizieren möchte. Die Informationsweitergabe selbst ist im Vergleich zur Kommunikationswilligkeit sekundär. Da also erst der Wunsch zu kommunizieren die Interaktion zu einem gemeinsamen Handeln macht, bildet zwar die Information selbst eine Ebene für sich, aber nur der Wunsch transzendiert die an der Kommunikation beteiligten Ebenen und führt sie über ihre, mit Habermas gesprochen, ‚egologischen‘ Grenzen hinaus.

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Freitag, 18. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Mit ‚Inter-Disziplinarität‘ ist eine bestimmte Beziehungsstruktur wissenschaftlicher ‚Disziplinen‘ gemeint, in der die Gleichrangigkeit der einzelnen Fächer bzw. Fachgebiete im Zentrum steht. Bei diesen Fächern bzw. Fachgebieten handelt es sich prinzipiell um den gesamten universitären Wissensbestand. Die Gleichrangigkeit der einzelnen ‚Disziplinen‘ ist in ihren Gegenständen begründet. Von lat. ‚discipere‘ kommend bedeutet es soviel wie ‚aufnehmen‘, also aufnehmen bzw. lernen von Wissen. Wissenschaftliche Disziplinen beinhalten ein bestimmtes Wissen bzw. sie wenden sich besonderen Gegenständen zu, was sie von anderen Disziplinen, die sich anderen Gegenständen zuwenden, unterscheidet.

Da es innerhalb des Wissensbestandes prinzipiell keine Rangordnung zwischen besonders wichtigem und eher unwichtigem Wissen gibt – auch nicht über das Kriterium seiner Anwendbarkeit –, sind alle Disziplinen einander gleichwertig. Fragen hinsichtlich des interdisziplinären Zusammenhangs unterschiedlichen disziplinären Wissens müssen also auf ‚Augenhöhe‘ geklärt werden.

Ein Problem hinsichtlich dieser prinzipiellen Gleichwertigkeit allen Wissens entsteht an der Nahtstelle zwischen den Fachgebieten, die schon Kant als „Streit der Fakultäten“ (1798) thematisiert hatte. Lange Zeit bestand der klassische Dualismus des Wissens im deutschsprachigen Raum vor allem in der Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften. Genau diesen Dualismus und seine methodische Entsprechung im Gegensatzpaar „Erklären vs. Verstehen“ bezeichnet Habermas aber nun überraschenderweise als „heute nicht mehr aktuell“. (Vgl.Bd.1: S.160)

Das ist vor allem deshalb überraschend, weil Habermas ansonsten ganz unbekümmert zwischen den Grundbegriffen „Natur und Kultur“ unterscheidet (Bd1: S.78) und diese Unterscheidung sogar zu einem Rationalitätskriterium bei der Bewertung der kulturellen Entwicklung von ‚primitiven‘ und fortgeschrittenen Gesellschaften stilisiert (vgl.Bd.1: S.81ff.). Wenn aber Natur und Kultur grundverschiedene Objektbereiche bilden, dürfte die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften wohl doch nicht so veraltet sein, wie Habermas behauptet.

Wahrscheinlich aber hat Habermas nur etwas gegen den Begriff der Geisteswissenschaft, weil das Wort ‚Geist‘ auf das Bewußtsein verweist, und Verweise auf das Bewußtsein werden von dem Sozialwissenschaftler Habermas gerne als bloß „egologisch“ abqualifiziert. (Vgl.Bd.2: S.196) Letztlich hält er aber dennoch an der Entgegensetzung von natur- und kulturwissenschaftlichen Fachgebieten fest. Er nennt sie nur anders und spricht von einem Dualismus der „Natur- und Sozialwissenschaften“ (Bd.1: S.161), den er aber nun vor allem methodologisch begründet, ähnlich übrigens wie Tomasello, der zwischen Natur- und Geisteswissenschaften dahingehend differenziert, daß die einen vor allem im Labor stattfinden und experimentieren, während die anderen vor allem im ‚Feld‘ stattfinden und beobachten (vgl. meinen Post vom 24.05.2011).

Es steht also nicht die disziplinäre Differenz vom Gegenstand her im Vordergrund, also die Differenz zwischen natürlichen und kulturellen bzw. künstlichen Gegenständen, sondern die Frage der methodischen Vorgehensweise. Hier ist wiederum besonders interessant, daß Habermas zwischen ‚Intersubjektivität‘ und ‚Objektivität‘ unterscheidet. Der Naturwissenschaftler ist deshalb objektiv, weil er gerade nicht intersubjektiv vorgeht: „Beobachtungen macht jeder für sich allein ... Sinnverstehen ist hingegen eine solipsistisch undurchführbare, weil kommunikative Erfahrung.“ (Bd.1: S.164f.)

Das ist eine wirklich überraschende Wendung, die Habermasens Versuch, zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Methoden zu unterscheiden, hier nimmt. Denn eigentlich hat es sich unter Wissenschaftlern inzwischen eingebürgert, nicht mehr ‚naiv‘ von Objektivität zu sprechen, sondern an deren Stelle die Intersubjektivität der science community zu setzen. Forschungsergebnisse gelten nur dann als ‚objektiv‘, wenn sie intersubjektiv nachprüfbar sind. Ich selbst hatte mich in meinem Post vom 17.07.2012 auf Plessner bezogen, der „die Begriffe subjektiv und objektiv“ auf die „Sphäre“ des Geistes  nicht für „anwendbar“ hält. (Vgl. „Stufen des Organischen“, S.305) Inzwischen ist es schon ein Gemeinplatz, daß das nicht nur für die Geisteswissenschaften, sondern auch für die Naturwissenschaften gilt. ‚Intersubjektivität‘ transzendiert also die subjektive Perspektive einzelner Wissenschaftler und macht aus deren Forschungsergebnissen erst, zeitlich begrenzt, gültiges Wissen.

Habermas besteht aber darauf, daß Intersubjektivität vor allem ein Merkmal der sinnverstehenden Methoden der Sozialwissenschaftler ist. Sozialwissenschaftler können ihre Daten nicht einfach vorfinden und sammeln wie die Naturwissenschaftler. Um zu ihren ‚Daten‘ zu gelangen, müssen sie sie immer schon, im vorhinein, verstanden haben. Der Sozialwissenschaftler kann sich nicht auf Beobachtung beschränken, sondern muß teilnehmen: „Er muß, um kommunikative Erfahrungen zu machen, eine performative Einstellung einnehmen und am originalen Verständigungsvorgang, wie immer auch nur virtuell, teilnehmen.“ (Bd.1: S.168)

Während Naturwissenschaftler den Naturphänomenen gegenüber eine Außenperspektive einnehmen und sich davor hüten, eine subjektive Perspektive in sie hinein zu projizieren – es gibt keine Innen-Außen-Differenz bei Naturphänomenen –, müssen Sozialwissenschaftler „hermeneutisch“ an die „Binnenperspektive der Angehörigen sozialer Gruppen“ anschließen, um sich dann über diese Binnenperspektive methodisch erheben und Aussagen über sie machen zu können. (Vgl.Bd.2: S.305)

Wenn ich eingangs auf Habermasens Beurteilung der Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften als veraltet hingewiesen habe, die er dann aber in Form der methodologischen Differenz zwischen Natur- und Sozialwissenschaftler reproduziert, so muß ich ihm nun meinerseits vorwerfen, daß seine methodologische Differenzierung zwischen beobachtenden und hermeneutischen Methoden veraltet ist. Dabei geht es mir nicht nur darum, daß Naturwissenschaftler selbst auf Intersubjektivität rekurrieren, um die Objektivität ihrer Forschungsergebnisse sicherzustellen. Es ist auch ganz und gar nicht so, daß sie einfach in beobachtender Weise – jeder für sich selbst und solipsistisch – Daten sammeln. Ihre Beobachtungen sind vielmehr ebenfalls im vorhinein ‚situiert‘, zum einen durch die schulmäßige ‚Disziplinierung‘ der Forscher selbst – vom heutigen Sponsoring ganz zu schweigen –, zum anderen durch Hypothesen, mit deren Hilfe sich überhaupt erst einzelne Fakten aus dem Naturzusammenhang heraus isolieren lassen. Jede Beobachtung, jedes Experiment geht von solchen Hypothesen aus. Jede Forschung – ob nun natur- oder sozialwissenschaftlich – beginnt mit einem solchen Ausgangsverständnis, also mit einem Sinnverstehen.

Die unterschiedlichen Methoden reichen für eine Bestimmung von Objektbereichen und Fachgebieten nicht aus. Methoden sind vielmehr selbst wiederum gegenstandsabhängig. Es darf nicht so weit kommen, daß die Methoden den Gegenstand bestimmen, denn dann wäre alles Wissen nur noch Konstruktion, und so etwas wie eine Erkenntnisethik bliebe Illusion: gemacht werden darf, was gemacht werden kann. Deshalb wäre es auch ein Fehler, Inter-Disziplinarität mit Inter-Subjektivität gleichzusetzen. Zwar ist das Sinnverstehen der unhintergehbare Ausgangspunkt für alle Arten von Wissen. Aber es hat selbst wiederum seine Grenze am Gegenstand. Der Gegen-Stand beinhaltet immer einen Wider-Stand gegen alle verstehenden und konstruktivistischen Vereinnahmungen. Das Wissen um diese Grenze ist die Grundlage jeder Erkenntnisethik.

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Donnerstag, 17. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Auf die Parallelen zwischen Habermasens Diagnose einer „Kolonialisierung der Lebenswelten“ (Bd.2: S.470-488) und Christina von Brauns kulturgeschichtlichen Analysen zu gemeinschaftszerstörenden Mechanismen des (nominalistischen) Geldes habe ich schon in meinem Post vom 15.01.2013 hingewiesen. (Vgl. auch meine Posts vom 28.11. und 04.12.2012) Diese Parallelen bestehen zum einen auf der Ebene des Legitimationsbedürfnisses staatlicher Strukturen (vgl.Bd.2: S.209, 214, 480 u.ö.), die auf intakte symbolische Reproduktionsprozesse der Lebenswelt angewiesen sind. Bei von Braun ist hier immer vom „Glauben“ an die Gemeinschaft die Rede, ohne die auch die Gesellschaft nicht funktionieren würde. Zum anderen bestehen die Parallelen auf der Ebene der destruktiven Auswirkungen des ‚Geldes‘ auf die Lebenswelt bzw. die Gemeinschaft, die Habermas mit dem Begriff der „Kolonialisierung“ beschreibt.

Zunächst fällt auf, daß bei beiden Autoren kulturelle und ökonomische Mechanismen strukturell gleichartig beschrieben werden. Während Habermas sowohl in bezug auf die Kultur wie auch auf die Ökonomie von „Deckungsreserven“ spricht (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)): das Geld wird von Gold ‚gedeckt‘ (vgl.Bd.2: S.398ff.) und das wechselseitige Verständnis im kommunikativen Handeln von in der Lebenswelt gespeicherten „gute(n) Gründen“ (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)), spricht von Braun vom „Kredit“, der über entsprechende kulturelle und religiöse Zurichtungen des männlichen Körpers (Kastration) ‚gedeckt‘ ist. Von Brauns Analysen reichen in dieser Hinsicht tiefer in das Wesen des Finanzkapitalismus hinein als die von Habermas, da letzterer mit dem Verweis auf die Deckungsreserve des Goldes noch nicht bis zum Transsubstantialismus des nominalistischen Geldes vordringt. (Vgl. meinen Post vom 25.11.2012)

Was nun die destruktive Qualität der ökonomischen und bürokratischen Subsysteme betrifft – bei Habermas wird die symbolische Reproduktion der Lebenswelt nicht nur durch das ‚Geld‘ (Ökonomie), sondern auch durch die ‚Macht‘ (Bürokratie) bedroht (vgl.Bd.2: S.480) –, so setzt sie vor allem an der materiellen Reproduktion der Lebenswelt an, die Habermas mit der „Zwecktätigkeit“ (Bd.2: S.209) des Menschen gleichsetzt: „Nicht die wissenschaftliche Rationalität als solche, wohl aber ihre Hypostasierung scheint zu den idiosynkratrischen Zügen der westlichen Kultur zu gehören und auf ein Muster der kulturellen und der gesellschaftlichen Rationalisierung zu verweisen, das der kognitiv-instrumentellen Rationalität nicht nur im Umgang mit der äußeren Natur, sondern im Weltverständnis und in der kommunikativen Alltagspraxis insgesamt zu einseitiger Dominanz verhilft.“ (Bd.1: S.102)

Die kognitiv-instrumentelle Rationalität bildet eine Spezialform der umfassenden, im vollen Sinne humanen Rationalität des kommunikativen Handelns. Anstatt das volle kulturelle, gesellschaftliche und subjektive Potential der Lebenswelt in Anspruch zu nehmen, beschränkt sie sich auf das Finden von Mitteln zu ökonomischen und politischen Zwecken, also im Sinne der Kommunikationsmedien ‚Geld‘ und ‚Macht‘. Die materielle Reproduktion der Lebenswelt ist von diesem kognitiv-instrumentellen Handeln abhängig und indirekt über diese materielle Ebene auch ihre symbolische Reproduktion. Im Sinne Brechts: erst kommt das Fressen und dann die Moral!

Problematisch wird es nur für die ‚Moral‘, wenn alles menschliche Handeln nach den Maßstäben von Geld und Macht bewertet wird. Geld und Macht sind nämlich Kommunikationsmedien, und ‚Medien‘ sind wiederum vor allem „Steuerungsmedien“. Deren Steuerungsfunktion wird vor allem durch eine „Abkopplung der Interaktion von lebensweltlichen Kontexten überhaupt“ sichergestellt. (Vgl.Bd.2: S.394) So verringern sie das „Dissensrisiko“. (Vgl.Bd.1: S.107; Bd.2: S.393) Das ist möglicherweise gemeint, wenn Habermas davon spricht, daß systemische Mechanismen zu einer Stabilisierung der „Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ beitragen. (Vgl.Bd.2, S.301, 349) Allerdings führt diese recht positive Darstellung von ‚Gesellschaftssystemen‘ nach Habermasens eigener Analyse in direkter Linie zu einer Verdrängung bzw. ‚Kolonialisierung‘ der gleichfalls der Stabilisierung kommunikativen Handelns dienenden Lebenswelt.

Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Kommunikationsmedien ‚Geld‘ und ‚Macht‘ ist unausweichlich. Denn Medien „können nur in dem Maße Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt regulieren, wie die Produkte der Lebenswelt mediengerecht zu Faktoreneingaben für das entsprechende Subsystem, das sich zu seinen Umwelten nur über das eigene Medium in Beziehung setzen kann, abstrahiert worden sind.“ (Bd.2: S.476)

Einfacher ausgedrückt: für die gesellschaftlichen Subsysteme der Ökonomie und der Bürokratie bilden alle anderen Formen humaner Selbstbehauptung, also die Kultur und die Persönlichkeitsbildung, ‚Umwelten‘. Von diesen Umwelten nehmen die genannten Subsysteme nur deren Zwecktätigkeit zur Kenntnis. Alle anderen Äußerungsformen werden einfach ignoriert. Sie sind für die Ökonomie und für die Bürokratie schlichtweg nicht existent.

Die Kommunikationsmedien ‚Geld‘ und ‚Macht‘ setzen sich an die Stelle der Sprache, die zwar ebenfalls ein Medium ist, aber eines, in dem sich die „kommunikativ Handelnden“ „immer schon vorfinden“. Die Sprache, insbesondere die Muttersprache bildet die sichtbare, vor allem hörbare Gestalt der Lebenswelt, zu der wir „eine Alternative gar nicht haben, während Geld ein Medium darstellt, das nicht schon durch sein bloßes Funktionieren hinreichendes ‚Systemvertrauen‘ (sprich: ‚Kredit‘ – DZ) weckt“ (vgl.Bd.2: S.398).

Über die materielle Reproduktion der Lebenswelt greifen also funktional begrenzte Steuerungsmedien auf die symbolische Reproduktion der Lebenswelt über: „Die Umstellung der Handlungskoordinierung von Sprache auf Steuerungsmedien bedeutet eine Abkopplung der Interaktion von lebensweltlichen Kontexten überhaupt. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Technisierung der Lebenswelt ...“ (Bd.2: S.394)

Wir brauchen dabei nur an die Verarmung der sozialen Beziehungen über das social web zu denken. Habermas hat hier schon facebook vorweggenommen: „Mediengesteuerte Interaktionen können sich in Raum und Zeit zu immer komplexeren Netzen verknüpfen, ohne daß diese kommunikativen Vernetzungen überschaut und verantwortet werden müßten, und sei es auch nur in der Art eines kollektiv geteilten kulturellen Wissens.“ (Bd.2: S.394)

Habermas faßt seine Analysen zur Kolonialisierung der Lebenswelt in folgendem, wie ich finde nach wie vor hochaktuellen Fazit zusammen, mit dem ich auch diesen Post beenden will: „Nicht die Entkoppelung der mediengesteuerten Subsysteme, und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt führt zu einseitiger Rationalisierung oder Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis, sondern erst das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben.“ (Bd.2: S.488)

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Mittwoch, 16. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Ich hatte in meinem gestrigen Post vom inneren Widerspruch in Habermasens „Theorie des kommunikativen Handelns“ gesprochen, den ich darin sehe, daß sowohl die Lebenswelt wie auch die systemischen Mechanismen der Gesellschaft an der Stabilisierung des von der doppelten Kontingenz von Erwartungserwartungen („Was denkt mein Interaktionspartner von mir, was ich von ihm erwarte?“) bedrohten kommunikativen Handelns beteiligt sind. Diesem Widerspruch ist auch eine seltsame Verkehrung in der Frage nach dem Unbewußten bzw. Unterbewußten geschuldet. Ich hatte in einem Post zwischen dem Unbewußten und dem Unterbewußten dahingehend unterschieden, daß das Unbewußte ein prinzipiell Unbewußtes darstellt und alle die körperleiblichen Mechanismen umfaßt, die Bewußtsein überhaupt erst möglich machen. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Im Merleau-Pontyschen und Meyer-Draweschen Sinne hat das Unbewußte einen Vollzugscharakter. Ich hatte in meinem Post vom 12.01.2012 davon gesprochen, daß die Lebenswelt so einen ‚Vollzug‘ darstellt: daß sie als Unbewußtes ‚fungiert‘, – im Unterschied zur systemtheoretischen Funktionalität. Das Unterbewußte hatte ich im Unterschied zum Unbewußten als potentiell Bewußtes beschrieben.

Nach Habermas haben wir es aber nun bei der Lebenswelt – in meiner Diktion – nicht mit einem Un-Bewußten, sondern mit einem Unter-Bewußten zu tun, also mit einem potentiell Bewußten, das dem kommunikativen Handeln von „Aktoren“ zur Verfügung steht. Sie bedienen sich dieses Untergrund- bzw. Hintergrund-Bewußtseins, um ihm situationsadäquate Handlungsorientierungen zu entnehmen: „Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden. Bei ihren Interpretationsleistungen grenzen die Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft die eine objektive Welt und ihre intersubjektiv geteilte soziale Welt gegen die subjektiven Welten von Einzelnen und (anderen) Kollektiven ab. ... Die Lebenswelt speichert die vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen; sie ist das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko, das mit jedem aktuellen Verständigungsvorgang entsteht.“ (Bd.1: S.107)

Diese Lebenswelt hat keinen Vollzugscharakter mehr: sie fungiert nicht, sondern sie funktioniert. Sie ist „unproblematisch“. Zwar spricht Habermas der Lebenswelt immer auch vorrationale Prädikate zu und hält fest, daß in sie „individuelle Fertigkeiten“ eingehen, daß sie ein „intuitives Wissen“ beinhaltet, „wie man mit einer Situation fertig wird“ und daß sie aus „eingelebten Praktiken“ besteht (vgl.Bd.2: S.331), – allesamt Prädikate, die ich dem Bereich der ‚Haltung‘ zuordne (vgl.u.a. meine Posts vom 31.12.2010, 05.02.2011, 01.06.2011, 21.07.2011). Bei Habermas sind sie aber von jedem körperleiblichen Bezug losgelöst, weil er die „körperlichen Bewegungen“ nur als „unselbständige Handlungen“ kennzeichnet. (Vgl.Bd.1: S.145 (Anm.161)) Eine solche unkörperliche Lebenswelt hat natürlich keine Brunnentiefe. Sie reicht nicht hinab in die evolutionären Zeiträume, die diesen Körperleib geformt und geprägt haben. Sie bleibt alles in allem ein rekonstruierbares soziales Konstrukt.

An ihre Stelle tritt bei Habermas ein anderes Unbewußtes, das nun an den Kommunikatonssubjekten vorbei zu fungieren beginnt: das systemisch Unbewußte, das paradoxerweise im Unterschied zur Lebenswelt ganz und gar nicht ‚funktional‘ ist, sondern Anomien verursacht (vgl.Bd.2: S.222). Ich nenne dieses systemische Unbewußte ‚paradox‘, weil es ja eigentlich einen Systemmechanismus bildet und Systeme durch ihre Funktionalität definiert sind und nicht durch ihre Dysfunktionalität. Habermas zufolge greift aber das systemisch Unbewußte „durch Handlungsorientierungen hindurch“ und bewirkt eine latent bleibende „Integration“, eine „funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen“, die „über den Orientierungshorizont der Beteiligten hinausreichen kann.“ (Bd.2: S.302)

Die Ebene, über die diese latent bleibende systemische Integration sich auf die Lebenswelt auswirkt, ist deren materielle Reproduktion, die Habermas – mit einer weiteren überraschenden Wendung – als eine weniger „überschaubare Dimension“ als die symbolische Reproduktion der Lebenswelt darstellt. (Vgl.Bd.2: S.348) – Über diese Bemerkung sollte man nicht einfach so hinweglesen. Man muß sich nur einmal klarmachen, daß es sich bei der symbolischen Reproduktion um das kulturelle Wissensreservoir handelt, in dem individuelle Fertigkeiten, intuitives Wissen und eingelebte Praktiken zusammenströmen und sedimentieren, während es sich bei der materiellen Reproduktion der Lebenswelt lediglich um systemisch funktionalisierbare „Zwecktätigkeit“ (ebenda) handelt. Es bleibt Habermasens Geheimnis, wieso es sich bei der Ebene der materiellen Reproduktion um eine weniger überschaubare Dimension handeln soll als bei der symbolischen Reproduktion.

Erklären läßt sich eine solche Verdrehung in der Zuordnung unbewußter und unterbewußter Merkmale auf lebensweltliche und systemische Mechanismen nur einerseits durch den lebensweltlichen Charakter der Technik, die wir in unserer technisierten Zivilisation in ihrer Funktionalität längst nicht mehr durchschauen und beherrschen. (Vgl. meinen Post vom 07.08.2010; vgl. auch Habermasens Verweis auf Luhmanns „Technisierung der Lebenswelt“, Bd.2: S.394) Hinzu kommt Habermasens Abwertung der körperlichen Bewegungen. Beides könnte dazu geführt haben, daß die Lebenswelt von Habermas als ein rationales Element des kommunikativen Handelns beschrieben wird und er das Irrationale den systemischen Imperativen von Ökonomie und Bürokratie zuordnet.

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Dienstag, 15. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ bilden bei Plessner eher Grundbegriffe als Grenzbegriffe. Sie beschreiben jeweils ganz spezifische soziale Phänomene, die sich wechselseitig ausschließen: dort wo Gemeinschaft ist, kann nicht Gesellschaft sein, und dort wo Gesellschaft ist, kann nicht Gemeinschaft sein. (Vgl. meine Posts vom 14. bis zum 17.11.2010) Bei Christina von Braun ist es ähnlich. Die Gesellschaft funktioniert auf der Basis des Geldes, während die Gemeinschaft durch das Geld zerstört wird. Allerdings hält von Braun dieses Prinzip nicht durch und vermischt die beiden sozialen Phänomene immer wieder, indem sie das Paradox des die Gemeinschaft gleichzeitig zerstörenden und stiftenden Geldes einführt. (Vgl. meine Posts vom 28.11. und vom 04.12.2012)

Es scheint mir offensichtlich zu sein, daß die radikale, grundbegriffliche Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft im Plessnerschen Sinne nicht durchzuhalten ist. Man sollte deshalb vielleicht auch hier besser von Grenzbegriffen als von Grundbegriffen sprechen. Man könnte vielleicht umgangssprachlich formulieren: Gemeinschaft und Gesellschaft verhalten sich ‚grenzwertig‘ zueinander, wobei ‚grenzwertig‘ eben nicht ‚grenzerhaltend‘ im systemtheoretischen Sinne meint. Damit soll angedeutet werden, daß die Phänomene im Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft und umgekehrt ihren Sinn ändern. Es gibt also durchaus einen wechselseitigen Grenzverkehr. Aber diesen möchte ich nicht als ‚Stoffwechsel‘ verstanden wissen. Dabei stellt sich zugleich auch die Frage nach der Funktion der Lebenswelt, die sowohl gemeinschaftliche wie auch gesellschaftliche Prozesse unterstützt.

Bei Habermas ist nur an einer Stelle in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ explizit von dem „Kontrast zwischen ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘“ die Rede. (Vgl.Bd.2: S.334) Er führt diesen Kontrast auf Ferdinand Tönnies zurück und bezieht sich dabei auf Talcott Parsons, dem er vorhält, daß seine Systemtheorie von diesem Kontrast beeinflußt sei. Auch hier geht es um die gleiche Differenz zwischen einerseits intimen Identifizierungsprozessen (Gemeinschaft) und den dazu „konträren Präferenzkombinationen“ auf der Seite der Gesellschaft. (Vgl.Bd.2: S.335)

Habermas selbst spricht niemals einfach von einem Kontrast zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Sein „Grundbegriff“ ist die „Kommunikationsgemeinschaft“ und das von ihr „intersubjektiv geteilte() Hintergrundwissen“ (Bd.1: S.32), sprich: die „Lebenswelt“ als „Komplementärbegriff zum ‚kommunikativen Handeln‘“ (Bd.2: S.198). Innerhalb der sozialen Phänomene spricht Habermas durchaus positiv von einer Ausdifferenzierung (Dezentrierung) der Welten (vgl. meinen Post vom 13.01.2013); aber diese treten nicht in einen ‚Kontrast‘ zueinander, sondern bleiben innerhalb des kommunikativen Handelns über das Interesse der Interaktionspartner an einer „gemeinsamen Situationsdefinition“ aufeinander bezogen (vgl.Bd.2: S.392). Hier ist es insbesondere die Lebenswelt, die die „Doppelkontingenz“ (Bd.2: S.392) wechselseiter Erwartungserwartungen von „Aktoren“, sprich: Kommunikationspartnern, stabilisiert. (Vgl.Bd.2: S.208f.)

Dieser Stabilisierungsvorgang ist wiederum ein wechselseitiger: nicht nur die Lebenswelt stabilisiert das kommunikative Handeln einer Kommunikationsgemeinschaft, sondern deren kommunikatives Handeln stabilisiert wiederum die Lebenswelt, indem es diese „symbolisch reproduziert“. (Vgl.Bd.2: S.347) Kommunikationsgemeinschaft und Lebenswelt stabilisieren und reproduzieren einander also wechselseitig.

An dieser Stelle gelangt Habermas nun doch zu einem gewissen Antagonismus zwischen Kommunikationsgemeinschaft und Gesellschaft. Während die Kommunikationsgemeinschaft vor allem durch gemeinsame Verständigung im Handeln gekennzeichnet ist, ist die Gesellschaft vor allem durch die Kommunikationsmedien ‚Geld‘ und ‚Macht‘ dominiert, was wiederum an von Braun und den „Preis des Geldes“ erinnert. (Vgl. Bd.1: S.29, 108; Bd.2: S.398ff., 406 u.ö.) Habermas selbst verweist auf Parallelen zwischen dem Sinnreservoir, dem „Wissensvorrat“ (Bd.1: S.150, 209, 329, 331) der Lebenswelt und dem Geld. Er spricht von der „‚Deckungsreserve‘ guter Gründe“ (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)) und stellt die Lebenswelt als ein Speichermedium dar, vergleichbar einer Bank, die die „vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen“ speichert (vgl.Bd.1: S.107).

Der Antagonismus, der hier Habermas zufolge droht, besteht darin, daß im Gesamtsystem der Gesellschaft die Subsysteme der Ökonomie (Geld) und der Bürokratie (Macht) alle anderen Subsysteme zu dominieren beginnen und auf die symbolischen Reproduktionsprozesse der Lebenswelt übergreifen (vgl.Bd.2: S.476), so daß es hier zu „Anomien“ (Bd.2: S.222) kommt, also die symbolischen Reproduktionsprozesse gestört werden und ihre Funktion nicht mehr erfüllen können, die „Legitimationsbedürfnisse“ (von Braun spricht vom „Glauben“) der Gesellschaft zu befriedigen. (Vgl.Bd.2: S.480) Das Kommunikationsmedium ‚Geld‘ beginnt nun die Lebenswelt zu ‚kolonialisieren‘ (vgl.Bd.2: S.S.471, 476 u.ö.), sprich einseitig auf ökonomische Systemimperative auszurichten (vgl.Bd.1: S.112f., Bd.2: S.347ff., 480 u.ö.).

Hier kommt Habermas den von Braunschen kulturgeschichtlichen Analysen zum Geld schon recht nahe. Allerdings dringt Habermas nicht bis zum Phänomen des Finanzkapitals vor, da er immer noch naiv vom Gold als der Deckungsreserve des Geldes ausgeht. (Vgl.Bd.2: S.398ff.)

Der Antagonismus besteht bei Habermas also nicht auf der Ebene der Grundbegriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, sondern „zwischen Forderungen der Kultur und Überlebensimperativen“ (vgl.Bd.2: S.347), also zwischen symbolischen und materiellen Reproduktionsbedürfnissen, und er betrifft vor allem die Lebenswelt. Bei der Frage, wie lebensweltliche und systemische Mechanismen ineinandergreifen, sich wechselseitig stören und bedingen, verstrickt sich Habermasens Analyse aber in begriffliche Widersprüche. Das liegt vor allem daran, daß er beiden Mechanismen die gleiche Funktion zuschreibt: das kommunikative Handeln zu stabilisieren. Mal schreibt er diese Funktion der Lebenswelt zu (vgl.Bd.2: S.208f.), mal den systemischen Mechanismen der Gesellschaft: Habermas bezeichnet „Gesellschaften als systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“. (Vgl.Bd.2: S.301, 349)

Wegen dieser begrifflichen Unklarheit überwindet Habermas den Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft nicht wirklich. Auch Habermasens vorsichtig zustimmender Bezug auf Poppers Konzept von den geschlossenen und offenen Gesellschaften als einem möglichen „kontextunabhängige(n) Maßstab für die Rationalität von Weltbildern“ (vgl. Habermas Bd.1: S.96f.) gehört noch zur Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft.

Der Kontrast zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft wird letztlich in die Lebenswelt selbst hinein verlegt und damit kaschiert. Mal beschreibt er die Lebenswelt als Legitimationsquelle der Gesellschaft, die das kommunikative Handeln (Erwartungserwartungen der Aktoren) in der Gesellschaft stabilisiert, mal beschreibt er die Gesellschaft als Systemzusammenhang, der ebenfalls das kommunikative Handeln stabilisiert. Dann wieder differenziert er innerhalb der Lebenswelt selbst zwischen symbolischen und materiellen Handlungsebenen, von denen nur die materielle Ebene den Systemimperativen gegenüber empfänglich ist, während die symbolische Ebene, die aus Prozessen des Sinnverstehens besteht, sich ihnen gegenüber sperrt und sogar von ihnen beschädigt wird. (Vgl.Bd.2: S.348f., 391) Die Lebenswelt selbst beinhaltet also ein systemisches, d.h. gesellschaftliches Moment.

In den folgenden Posts werde ich noch öfter auf diesen inneren Widerspruch in Habermasens Kommunikationstheorie zurückkommen.

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Montag, 14. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Habermas spricht in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ immer wieder von Grundbegriffen. Diese unterscheiden sich von einfachen Begriffen dadurch, daß mit ihnen „Grundeinstellungen gegenüber Welten“ verbunden sind. (Vgl.Bd.S.80) Als ‚Welten‘ bezeichnet Habermas „Objektbereiche“ wie z.B. „Natur und Kultur“ (vgl.Bd.1:S.80) oder auch die „strukturellen Komponenten“ der Lebenswelt: Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit (vgl.Bd.2: S.214 u.ö.). Grundeinstellungen gegenüber Natur und Kultur wären dann beobachtende und sinnverstehende Einstellungen; gegenüber Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit wären wertende, normative und expressive Einstellungen möglich. An anderer Stelle bezeichnet Habermas „Sprechen und Handeln“ als Grundbegriffe der Lebenswelt (vgl.Bd.1: S.159) und dann wieder die Lebenswelt selbst als Grundbegriff (vgl.Bd.2: S.222). Wieder an anderer Stelle werden Grundbegriffe als „Deutung“ von „Welt“ beschrieben. (Vgl.Bd.1: S.75)

Ich möchte alle diese in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ verstreuten Hinweise auf Habermasens Gebrauch des Wortes „Grundbegriff“ dahingehend zusammenfassen, daß Grundbegriffe Phänomenbereiche konstituieren. Sie stehen in derem Zentrum und halten komplexe Phänomene inhaltlich zusammen, wie etwa die ‚Natur‘ alle natürlichen, nicht vom Menschen beeinflußten oder gemachten Phänomene und die ‚Kultur‘ alle künstlichen, vom Menschen beeinflußten und gemachten Phänomene. Und indem wir die Phänomene entweder der Natur oder der Kultur zuordnen, nehmen wir ihnen gegenüber zugleich eine ‚Haltung‘ bzw. eine Grundeinstellung ein.

Wenn nun also die Lebenswelt bei Habermas einen Grundbegriff darstellt, so umfaßt sie einen Bereich von Sinnphänomenen; sie bildet einen „Wissensvorrat“ (Bd.1: S.150), der dem kommunikativen Handeln von „Aktoren“ zur Verfügung steht. Die das gemeinsame Handeln miteinander abstimmenden Aktoren bedienen sich dieses Wissensvorrates als einer „Quelle“, aus der sie diejenigen Informationen entnehmen, die sie brauchen, um zu gemeinsamen „Situationsdefinitionen“ zu gelangen. (Vgl.Bd.1: S.107) Die Lebenswelt bildet ein unproblematisches, „vorinterpretiertes“ Hintergrundwissen, aus dem sich die „Interaktionsteilnehmer“ nach Belieben bedienen. (Vgl.Bd.1: S.150)

Die Lebenswelt ist also kein problematisches Unterbewußtes, das sich dem rationalen Zugriff entzieht. Sie ist durch und durch funktional, ein „Komplementärbegriff“ des kommunikativen Handelns. (Vgl.Bd.2: S.198)

An Habermasens Kennzeichnung der Lebenswelt als Grundbegriff kann ich nun zeigen, inwiefern ich in diesem Blog immer von der Lebenswelt gesprochen habe. Mit Bezug auf Blumenberg und Husserl war – und ist – für mich die Lebenswelt kein Grund-Begriff, sondern ein Grenz-Begriff; ganz ähnlich wie ich auch Plessners Körperleib immer als einen Grenzbegriff bezeichnet habe. Ihre Grenzbegrifflichkeit ergibt sich aus ihrer dynamischen Eigenschaft, sich jedem beobachtenden und rationalen Zugriff zu entziehen und zugleich scheinbar rationale Operationen zu motivieren oder zu stören. Die Lebenswelt bildet also ein Unterbewußtsein und ist entsprechend körperlich situiert bzw. eingebettet.

Bezeichnenderweise verwendet Habermas den Begriff der Grenze vor allem im Zusammenhang des systemtheoretischen, kybernetischen Vokabulars: er spricht von „grenzerhaltenden“ Systemen, womit gemeint ist, daß Organismen und Systeme „gegen eine überkomplexe Umwelt ihre Grenze aufrechterhalten“, also sich am Leben erhalten. (Vgl.Bd.:2: S.338f.) Hier zieht sich die Grenze nicht mitten durch den Phänomenbereich hindurch, wie beim Plessnerschen Körperleib die Ambivalenz von Innen und Außen, sondern sie ist nach außen, zur Umwelt hin verschoben. Diese Grenze bildet also zwar eine Oberfläche, aber keine ‚Haut‘ im körperleiblichen Sinne.

Die innere Grenze des Körperleibs, die Doppeldeutigkeit von Innen und Außen verwandelt einen Organismus oder ein ‚System‘ in einen beseelten Organismus. Die Homöostase verwandelt sich in eine Homöodynamik. Eine solche Homöodynamik beinhaltet auch die Lebenswelt. Ihre Ambivalenz besteht aber in ihrem unkontrollierbaren, intuitiven Anteil an rationalen Sinnbildungsprozessen. Sie ist eben nicht einfach rational zugänglich. Was Plessner über die Seele als „noli me tangere“ schreibt, gilt auch für die Lebenswelt, nur daß sie vor allem aus intersubjektiven Prozessen besteht: dem kollektiven Unbewußten. Ähnlich wie die Seele sich zeigen will und doch vor dem Gesehen-werden zurückschreckt, ‚zeigt‘ sich die Lebenswelt, indem sie Motive zu unserem Handeln beisteuert; und sie verschleiert sie zugleich. Denn wüßten wir um die Herkunft dieser Motive, verlören sie sofort ihre Macht.

Wir haben es bei der Lebenswelt nicht wirklich mit einem Phänomenbereich zu tun; eher schon mit der Rückseite des Spiegels.

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Sonntag, 13. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

In einem Zeitungsartikel (ZEIT-ONLINE, 10.12.2009) nimmt Jürgen Habermas zu Michael Tomasellos Thesen in dessem Buch „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) Stellung. (Vgl. meine eigenen Rezensionen zu Tomasellos Buch in meinen Posts vom 25.26. und 27.04.2010) Dabei setzt sich Habermas insbesondere von Tomasellos zentraler These ab, daß der Ursprung der menschlichen Sprache in einer individuellen Bewußtseinsleistung liege: „Für das Zustandekommen einer kommunikativen Beziehung zwischen Sprechern halten ‚Intentionalisten‘ wie Paul Grice und John Searle das rekursive Erkennen von Intentionen (‚Ich weiß, dass er weiß, dass ich weiß …‘) für nötig. Nach dieser Lesart kann auch eine primitive Zeigegeste erst auf der Grundlage ‚wechselseitigen Wissens‘ funktionieren. Erst der von gemeinsamer Aufmerksamkeit gesteuerte Aufbau geteilten Wissens soll die kommunikative Verwendung und das Verstehen von Zeichen ermöglichen.“ (ZEIT-ONLINE 2009)

In seinem philosophischen Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ (2 Bde., 3/1985) – auf das ich mich in diesen Posts hauptsächlich beziehen werde, obwohl Habermas einige seiner darin vertretenen Thesen seitdem im Lichte neuerer medizintechnischer Entwicklungen modifiziert hat (vgl.u.a. „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ (2001)) – wirft Habermas der „intentionalen Semantik“ von Grice vor, daß es sich bei der rekursiven Versicherung wechselseitiger Kommunikationsabsichten, die sie „zum Originalmodus der Verständigung stilisiert“, nur um einen „abgeleitete(n) Modus der Verständigung“ handelt, auf den die Kommunikationspartner nur dann zurückgreifen, wenn ihnen „der Weg direkter Verständigung verlegt ist“. (Vgl.Bd.1: S.371)

Tomasello verbindet mit dem rekursiven, Kommunikation allererst ermöglichenden Mechanismus des „Ich weiß, dass er weiß, daß ich weiß …“ die wiederum bloß individuellen Kommunikationsmotive des „Helfens“ und „Mitteilens“, die Habermas als „‚prosoziale()‘ Neigungen“ (ZEIT-ONLINE 2009) bezeichnet. Habermas hält die Hinzuziehung von individuellen Kommunikationsmotiven für „bemüht“ (ZEIT-ONLINE 2009), weil er meint, daß sie nur dazu dienen, das begründungsbedürftige  „rekursive Erkennen“ (ZEIT-ONLINE 2009) zu stützen, womit er suggeriert, daß Tomasello gezwungen sei, auf eine umständliche, wenig elegante und eigentlich überflüssige Argumentationsstrategie zurückzugreifen.

Demgegenüber legt Habermas sein eigenes Konzept als die elegantere Alternative nahe, da sie auf solche, das individuelle Bewußtsein ‚bemühende‘ Begründungsbehauptungen verzichten könne: „Die evolutionäre Geschichte müsste etwas anders erzählt werden, wenn man davon ausgeht, dass für die ursprüngliche kommunikative Verwendung von Gesten kein anspruchsvolles rekursives Erkennen nötig ist. Symbolen sieht man gewissermaßen ihre Kommunikationsfunktion an. Wer Symbole verwendet, äußert in einem mit deren semantischem Gehalt eine kommunikative Absicht. Auch dem Kind kommt diese Absicht als solche erst im Verlaufe des Spracherwerbs so weit zu Bewusstsein, dass es dann – mithilfe ‚rekursiven Erkennens‘ – in der Lage ist, einen Partner zu täuschen.“ (ZEIT-ONLINE 2009)

Die elegantere Alternative des Habermasschen Konzepts liegt also darin, bei der Suche nach dem Ursprung der Sprache nicht weiter zurückgehen zu müssen als bis auf die Ebene der Gesten und Symbole selbst, die in sich schon alle nötigen normativen und semantischen Implikationen enthalten, die man ihnen dann im Akt der Kommunikation nur noch ‚anzusehen‘ braucht, um den kommunikativen Akt gelingen zu lassen.

Es gibt eine kleine Szene in Terry Pratchetts neuem Buch „Dodger“ (2012), die den wunden Punkt in Habermasens Argumentation aufzeigt. Als ihm eine kleine Ratte über die Füße läuft, fragt sich Dodger: „Was that a sign? He really wanted a sign. There ought to be signs, und if there was a sign there should be a sign on it to show that it was a sign so that you definitely knew it was a sign. Was it a sign, or was it just a rat? Oh well, what was the difference?“ (Pratchett 2012, S.278) – Habermas bleibt nämlich immer noch die Antwort auf die Frage schuldig, was genau es ist, das uns erkennen bzw. sehen läßt, daß es sich bei den „unselbständigen Handlungen“, als die Habermas die körperlichen Bewegungen deklariert – die Ratte in Pratchetts „Dodger“ –, um Gesten und Symbole handelt.

Nach Habermas werden jedenfalls die in den Gesten und Symbolen verobjektivierten Rationalitätskriterien durch ihren Gebrauch verflüssigt bzw. ‚lebendig‘ und beginnen nun das kommunikative Handeln der „Aktoren“, wie Habermas die Gesprächspartner in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ immer nennt, zu ‚steuern‘. Ähnlich wie Merleau-Ponty hinsichtlich des „ursprünglichen Sprechens“ (vgl. meinen Post vom 21.11.2011) spricht Habermas von einem „Prozess“ der „Verschmelzung“ von „Kognition“ und „Kommunikation“, in welchem „tierische Gesten in symbolische umfunktioniert“ würden. (ZEIT-ONLINE 2009) – Was an diesem Konzept weniger umständlich und deshalb Tomasellos Konzept gegenüber vorteilhafter sein soll, bleibt Habermasens Geheimnis. Daß dieser geheimnisvolle Prozeß der Verschmelzung weniger begründungsbedürftig ist als das in dieser Hinsicht angeblich ‚anspruchsvollere‘ rekursive Erkennen, leuchtet mir nicht ein.

Was man aus Habermasens Bemerkungen zu Tomasellos Buch vor allem herauslesen kann, ist seine schon in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ zum Ausdruck kommende Aversion gegen die „egologische“ Bewußtseinsphilosophie (vgl.Bd.2: S.196), in der „das ‚erlebende Subjekt‘ letzter Bezugspunkt der Analyse“ bleibe (vgl.Bd.2: S.198). Vielleicht ist es Habermasens Perspektive als „Sozialwissenschaftler“, die ihn daran hindert, das erlebende Subjekt als letzte Begründungsinstanz ernstzunehmen. Es erscheint ihm als bloß „singulär“ und als zu „vereinzelt“ (vgl.Bd.2: S.320), um mit ihm eine soziale Perspektive auf den Mitmenschen eröffnen zu können.

Mit dieser Kennzeichnung des erlebenden Subjekts geht auch eine Abwertung der Körperlichkeit einher. Die „körperlichen Bewegungen“ stellen bei Habermas nur „unselbständige Handlungen“ dar (Bd.1: S.145 (Anm. 161)), die zum kommunikativen Handeln des Menschen keinen eigenständigen Beitrag leisten, sondern nur dessen „Substrat“ bilden (vgl.Bd.1: S.144). Der Körper hat also keinen Anteil am Bewußtsein, etwa über die Haltung. Mit Plessner ausgedrückt: bei Habermas ‚hat‘ das Kommunikationssubjekt seinen Körper; aber es ‚ist‘ nicht sein Körper.

Dieser Abwertung der körperlichen Dimension und des bloß erlebenden, nicht kommunizierenden Subjekts entspricht eine Aufwertung der „Dezentrierung“ von Weltbildern: „Kognitive Entwicklung bedeutet allgemein die Dezentrierung eines egozentrisch geprägten Weltverständnisses.“ (Bd.1: S.106) – Diese Dezentrierung bildet ein Kernelement des Habermasschen Rationalitätskonzepts. (Vgl.Bd.1: S.102f.) Im Auseinandertreten von kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen ‚Welten‘, die in ‚primitiven‘ Gesellschaften (vgl.Bd.1: S. 79, 81, 83) und in der Lebenswelt (vgl.Bd.2: S.332) noch ununterscheidbar miteinander „verwoben“ sind, liegt Habermas zufolge ein rationaler Lernfortschritt auf kultureller Ebene. (Vgl.Bd.1, S.102f.)

Paradoxerweise rechnet Habermas sogar „Zurechnungsfähigkeit und Autonomie“ nicht einem Individuum zu, das sich im Plessnerschen Sinne zu seiner ‚Mitte‘ zu ‚verhalten‘ weiß, also sich situationsadäquat ‚zentriert‘, sondern dem „Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft“, der „sein Handeln an intersubjektiv anerkannten“ – sprich ‚dezentrierten‘ – „Geltungsansprüchen orientieren kann“. (Vgl.Bd.1: S.33f.)

Habermas ist deshalb nicht in der Lage, Tomasellos eigentliche Leistung, die ich in seiner Differenzierung von individuellem Lernen und kulturellem Lernen sehe, angemessen zu würdigen. Nicht von ungefähr gilt sein Lob für Tomasellos „ingeniöse() Forschungen“ vor allem jenen Partien seines Buches, die sich der Phase der Sprachentwicklung widmen, die „zwischen der ersten, durch Gesten vermittelten gemeinsamen Wahrnehmung und einer vollständig ausgebildeten soziokulturellen Lebensform“ liegt. (Vgl. ZEIT-ONLINE 2009) Die vorhergehende Phase, das individuelle Lernen, das der Mensch mit seinen Primatenverwandten gemeinsam hat, interessiert Habermas nicht. Tomasello bewertet aber die individuelle Kognition ganz und gar nicht geringer als die kulturelle bzw. soziale Kognition, zu der das kleine Kind erst ab dem neunten Lebensmonat fähig ist. (Vgl. auch meinen Post vom 24.05.2011) Und es gelingt ihm, auf plausible Weise zu zeigen, daß diese Entwicklung erst mit der Fähigkeit des vier- bis fünfjährigen Kindes ihren Höhepunkt erreicht, wo es zwischen beiden Formen des Lernens, dem individuellen und dem kulturellen, hin und her springen kann.

Zu diesen kreativen Sprüngen befähigt uns eben nicht einfach und ausschließlich jene „komplexe() Fähigkeit“ – wie sie Habermas als die „entscheidende evolutionäre Errungenschaft“ darstellt –, „sich auf einen Artgenossen so einzustellen, dass beide in der gestenvermittelten Bezugnahme auf objektive Gegebenheiten dieselben Ziele verfolgen, also kooperieren können.“ (Vgl. ZEIT-ONLINE) Die soziale Dezentrierung bedarf der sie begleitenden individuellen Zentrierung, des von der sozialen Gruppe unabhängigen, im Körperleib fundierten subjektiven Erlebens, um als menschliches Denken und Lernen im eigentlichen Sinne verstanden werden zu können. Dieses Verhältnis von Dezentrierung und Zentrierung, von Zentrum und Peripherie bezeichnet Plessner übrigens als „exzentrische Positionalität“.

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