„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 9. Dezember 2012

Zur Materialität der Schrift

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

Von Braun verweist auf den Vorschlag des Mathematikers Brian Rotman („Die Null und das Nichts“ (2000)), „die Unterscheidung zwischen Geld und Schreiben aufzulösen – die Texte als interpretierbare Resultate des Schreibens so zu behandeln, als ob sie zirkulierende Geldzeichen wären, und die Geldzeichen als Schriftstücke zu betrachten.“ (Rotmann 2000, zitiert nach: Braun 2/2012, S.251) – Von Braun ergänzt: „Wenn der Unterschied zwischen Geld und Schreiben aufgelöst wird, wird der menschliche Körper zur einzigen ‚Realität‘, in die sich Geld konvertieren lässt. Deutlicher lässt sich kaum ausdrücken, dass das Geld im menschlichen Körper seine Beglaubigung findet.“ (Ebenda)

Dieser Kreislauf aus Exkarnation und Inkarnation, aus der Dematerialisierung des nominalistischen Geldes bis hin zum elektronisch erzeugten „Binärcode“ als „semiotische(r) Universalmünze“ (vgl. Braun 2/2012, S.257) und seiner anschließenden Rematerialisierung in der „moderne(n) Reproduktionsmedizin“ über den „binären Code unseres Erbgutes“ (vgl. Braun 2/2012, S.224f.), verweist auf eine Problematik, die ich schon in meinen Posts zu Meyer-Drawe (vom 04.12.2011 und vom 23.01.2012) und zu Merleau-Ponty (vom 21. und 22.11.2011) angesprochen habe: die Problematik der Verschmelzung von Individualität und Sozialität und von Ausdruck und Sinn. Da nämlich der „Schleier des Geldes“ in lebensweltlichen Mechanismen begründet ist (vgl. meinen Post vom 05.12.2012), würde in dem Moment, wo wir nicht mehr zwischen Geld und Schreiben unterscheiden wollen oder können, es zu jener Verschmelzung von Leib und Lebenswelt kommen, die der Freiheit des Individuums, der Autonomie seines Verstandes, keine Chance mehr ließe. Wenn sich die Lebenswelt als (nominalistisches) Geld nun über den Leib reproduziert, wird sie unzerstörbar: kein Niesen (Nishitani), kein Lachen oder Weinen (Plessner), keine Krankheit (Meyer Drawe) könnten uns noch aus ihr herausfallen lassen.

Aber die Schrift hat in der Kulturgeschichte der Menschheit noch eine andere Funktion als die Anbahnung des modernen Finanzkapitalismus. In einem Post zu Jan Assmann (vom 04.02.2011) hatte ich der Schrift die kulturelle Potenz zugesprochen, eine für das subjektive Bewußtsein unabhängige Innenwelt zu konstituieren, die nicht mit diesem subjektiven Bewußtsein verschmilzt! Diese vom subjektiven Bewußtsein unabhängige Innenwelt hat ihren eigenen Außenhorizont im Textkörper, der unabhängig von der individuellen Lebenszeit die Jahrhunderte überdauern kann. Hierin habe ich eine Parallele zur von Plessner im Körperleib begründeten exzentrischen Positionalität des Menschen gesehen; denn auch die Schrift hat ihren Körperleib: den Sinn des geschriebenen Wortes und den Textkörper, in dem sich über die Handschrift der Autorenleib materialisiert. Auch in der Gestaltung des Ausdrucks schlägt sich ein individueller Stil nieder: als eine Form der von Plessner beschriebenen Expressivität des Körperleibs.

Indem uns also unsere Innenwelt aus Gedanken und Gefühlen über die Schrift gegenübertritt, erhält sie eine objektive Gestalt, die sich unserem Denken und Fühlen widersetzt. Im Ringen um den richtigen Ausdruck müssen wir uns an dieser Innenwelt abarbeiten. Das verleiht ihrem schriftlichen Ausdruck eine Unterscheidbarkeit, die keinesfalls mit dem Geld zusammenfällt und die sie sogar in Form der bildenden Kunst zu einer Wertquelle werden läßt: „Das Gold des einen Tresors ähnelt dem eines anderen; die Kunstwerke im Depot dagegen ähneln sich nie. Der Wert besteht ja gerade in ihrer Individualität, die einen Bezug zum menschlichen Körper herstellt.“ (Braun 2/2012, S.296)

In diesem Sinne ‚bildet‘ die Schrift genauso eine sichtbare Materialität wie die bildende Kunst oder Plessners Körperleib. Günter Grass hat das sehr treffend in seinen Graphiken dargestellt, in denen dieselbe graphische Linie gleichzeitig Wörter formt und Konturen von animalischen Körpern zeichnet. Ob sich in dieser sichtbaren Materialität eine Grenze des Körperleibs auftut, die uns aus der Lebenswelt in eine offene, unheilige Weite herausfallen läßt, entscheidet sich deshalb auch an unserer Fähigkeit, zwischen Schreiben und Geld zu unterscheiden. Ein Schritt in diese Richtung besteht allerdings darin, den Fortschritt in der Kunst nicht länger an ihrer zunehmenden Abstraktion vom Gegenstand festzumachen. (Vgl. Braun 2/2012, S.278f.; zur Differenz von Informationstheorie und Gegenstandstheorie der Wahrnehmung vgl. auch meinen Post vom 25.10.2011)

Wenn ich in meinem Post vom 09.11.2012 auf die Parallelen zwischen den Prozeßstrukturen des Sinns von Sinn und des Zinseszins hingewiesen habe, so interessierte mich hier vor allem der damit verbundene implizite Nihilismus. Doch handelt es sich beim Zinseszins um einen Nihilismus der verweigerten Fruchtbarkeit. Rotman diagnostiziert im griechischen Denken eine „phobische Reaktion“ auf diese Art des Nichts. (Vgl. Braun 2/2012, S.244) Keine Probleme hatten die Griechen hingegen gegenüber einem höhlenartig umrandeten, lebenspendenden Nichts wie etwa dem weiblichen Uterus. (Vgl. Braun 2/2012, S.250f.) Östliche Kulturtraditionen – und aus diesen Traditionen kam auch die mathematische Null „als Zeichen für Leere und Abwesenheit“ (vgl. Braun 2/2012, S.244) in unseren Kulturraum – verweisen dagegen vor allem auf das Nichts als radikale, erlösende Befreiung aus dem Kreislauf des Leidens.

Die Prozeßstruktur des Sinns von Sinn beruht auf einem Nihilismus der verweigerten Letztbegründung, der verweigerten Metaphysik. (Vgl. meinen Post vom 11.07.2012) Sie beruht auf der von Plessner beschriebenen Doppelaspektivität von Innen und Außen (vgl. meinen Post vom 28.10.2010) und von Meinen und Sagen (vgl. meinen Post vom 07.07.2011); und auf dem „noli me tangere“ der Seele (vgl. meinen Post vom 14.11.2010).

Der Zinseszins hingegen beruht auf einem Nihilismus der verweigerten Grenze. Fruchtbar ist er nur im unterschiedslosen Übergang zwischen Materie und Information. Zwischen Geld und Schreiben nicht mehr unterscheiden zu wollen und zu können, bildet einen Aspekt dieses Nihilismus. Und er beinhaltet eine neue ‚spekulative‘ Metaphysik. (Zur ‚Spekulation‘ an der Börse vgl. Braun 2/2012, S.305f.)

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