„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 21. Dezember 2012

Entwicklung als Bedeutungslinie

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

In seinem Buch „Klimakriege“ (2008) urteilt Welzer hoffnungslos negativ über die Möglichkeit der Menschen, aus ihrer Geschichte etwas zu lernen. (Vgl. meinen Post vom 30.03.2011) Die bevorstehenden, globalen, ökologischen Katastrophen sind in der Menschheitsgeschichte noch nie vorgekommen, so daß der Blick in die Vergangenheit unsere Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit sogar behindern kann.

Nun liegt mit von Brauns Buch „Der Preis des Geldes“ eine Kulturgeschichte vor, die vor allem eines zeigt: wem die Beschäftigung mit der Vergangenheit den Blick für die Gegenwart und die Zukunft des Menschen trübt, anstatt zu größerer Klarheit zu führen, der hat nur nicht lange und nachdenklich genug hingeschaut! Ungeachtet dessen, wie unvorhersehbar und einzigartig die derzeitige globale Gefahrenlage auch sein mag, ist die Sensibilität unserer Aufmerksamkeit vor allem von der Art und Weise abhängig, wie wir unser Selbst- und Weltverhältnis artikulieren. Es gibt aber keine Sprache, die nicht immer schon ihre Artikulationsgeschichte mit sich führt und sich so auf unsere aktuellen Artikulationsversuche auswirkt. Wenn wir nicht um diese Geschichte wissen, die, wie Plessner schreibt, „nur die ausgeführte Weise“ ist, in der der Mensch „über sich nachsinnt und von sich weiß“ (vgl. Plessner 1975 (1928); vgl. auch meinen Post vom 29.10.2010), wissen wir nicht nur nicht, was wir sagen, sondern eben auch nicht, was wir sehen, weil wir mit blinden Augen auf die Welt gucken.

Ein besonders erhellendes Beispiel für eine solche kontraproduktive Geschichtsverweigerung liefert uns von Braun mit dem Verhältnis von „Kapitalismus und Feminismus“, die hinsichtlich der Bewertung der Reproduktionsmedizin „an einem Strang ziehen“. (Vgl. Braun 2/2012, S.431) Beide kommen nämlich darin überein, daß die kommerzielle Nutzung der Reproduktionsmedizin der „sexuellen Selbstbestimmung der Frau“ dient, – wenn man vielleicht auch hinsichtlich der Aussagerichtung differenzieren muß. Denn die kapitalistische Pointe, nach der die „sexuelle Selbstbestimmung der Frau“ der kommerziellen Nutzung der Reproduktionsmedizin dient, verträgt sich sehr gut mit der feministischen Pointe, nach der die kommerzielle Nutzung der Reproduktionsmedizin der sexuellen Selbstbestimmung der Frau dient. Und letzteres trägt zudem noch dazu bei, den „Schleier des Geldes“ (Braun 2/2012, S.185, 224ff.u.ö.), daß der Mensch das Subjekt all seiner der Geldvermehrung dienenden Aktivitäten sei, zu stärken.

Eine ähnliche Argumentation weist von Braun bei der feministischen Befürwortung der Pornographie nach. Auch hier dient „die Freiheit, sich zu prostituieren“ als Argument für die weibliche Emanzipation. (Vgl. Braun 2/2012, S.406) Wer also in diesem Sinne Pornographie und Reproduktionstechniken als Ausdrucksformen weiblicher Emanzipation darstellt, kann dies nur, weil er blind ist für die Geschichte dieser ‚Kulturformen‘, die nicht etwa im Dienst der Stärkung des menschlichen Subjekts, sondern von Anfang an im Dienst des nominalistischen Geldes und seines Selbstverwertungsinteresses gestanden haben. Pornographie ist eben nicht das ‚älteste Gewerbe‘ der Menschheit, wie es immer wieder gerne behauptet worden ist. Dieses Fehlurteil beruht auf einem Mißverständnis der archaischen Tradition des Frauentausches, die zu einer Gemeinschaft des Tausches und der Gabe gehört und nicht zur Geldwirtschaft. (Vgl. Braun 2/2102, S.386)

Tatsächlich bilden Pornographie und Reproduktionstechniken zwei Seiten derselben „Medaille“ (Braun 2/2012, S.437) – die wir in diesem Sinne durchaus als Geldmünze verstehen können –, deren eine Seite in der Ablösung der Sexualität von der Reproduktion (Pornographie) und deren andere Seite in der Ablösung der Reproduktion von der Sexualität (Reproduktionstechniken) besteht. Den menschlichen Körper aber um seine Reproduktionsfähigkeit zu betrügen, – genau darin besteht wiederum der ‚Trick‘ des Geldes als eigentlichem „Subjekt der Geschichte“ (Braun 2/2012, S.261, 312 u.ö.); einem Trick, den von Braun als symbolische Kastration des Mannes beschreibt (vgl. Braun 2/2012, S.70ff.u.ö.). Das Geld entfacht also dessen sexuelles Begehren und lenkt es gleichzeitig trickreich auf die Prostituierte, deren Kinderlosigkeit einerseits den Mann um seinen biologischen Erfolg betrügt (also dessen symbolische Kastration bekräftigt) und andererseits eine neue, zuvor nie dagewesene geldwerte Dienstleistung kreiert.

Es sind vor allem drei im eigentlichen Sinne des Wortes gesellschaftliche Funktionsträger, die von Braun zufolge den modernen biologischen Reproduktionsmarkt anbahnen: neben den schon erwähnten Prostituierten nennt von Braun die Sklaven und die Söldner. (Vgl. Braun 2/2102, S.370) Zwar gab es schon vor der Einführung des nominalistischen Geldes in Griechenland Sklaven, aber Sklaven-Märkte im Sinne der heutigen Marktwirtschaft gab es erst im antiken Griechenland: „Sklaven wurden auf ‚Körpermärkten‘ gehandelt.() Das griechische Wort für Körper – soma – bezeichnete auch Sklaven und Sklavinnen.()“ (Braun 2/2012, S.415) – Der Handel mit Körpern und Körperteilen, in dem der Körper seinen ‚Preis‘ hat, hat also seinen Ursprung im Sklavenhandel.

‚Söldner‘ wiederum verweisen schon vom Wort ‚Sold‘ her auf ihre ursprüngliche Beziehung zur Geldwirtschaft: „... der Söldner war der erste monetäre Lohnempfänger.“ (Braun 2/2012, S.376) – Anders als beim Banker und Makler steht der Söldner allerdings nicht für den kastrierten Mann. Es ist vielmehr die Körperlichkeit selbst, für die der Söldner bezahlt wird. Der Söldner steht also für eine weitere Form des Handels mit Körpern, die ebenfalls im antiken Griechenland ihre Wurzeln hat.

Interessant für meine Behauptung, daß sich in der Art und Weise, wie wir unser Selbst- und Weltverhältnis artikulieren, geschichtliche Bedeutungslinien auswirken, deren wir uns nur selten bewußt sind, ist nun, wie die modernen Reproduktionstechniken beworben werden. Zunächst einmal hält von Braun fest, daß dem Angebot, das von der „Samenspende“ über die „Ei-Spende“ bis hin zu „Leihmutterschaft“, „intra-uterine Insemination“ und „in-vitro-Fertilisation“ reicht, ein „authentisches Bedürfnis“ entspricht. (Vgl. Braun 2/2012, S.422) Das ist schon mal – nach all den Geldschleiern und Illusionen – eine erstaunliche Behauptung, auf die ich im folgenden, meine Auseinandersetzung mit von Braun abschließenden Post noch einmal zurückkommen werde: Es gibt so etwas wie authentische Bedürfnisse, die in diesem Fall in dem Wunsch nach Mutterschaft bzw. Elternschaft bestehen.

Um dieses authentische Bedürfnis anzusprechen, bedienen sich nun die modernen ‚Biohändler‘, wie ich sie hier mal in Analogie zum „Biokapitalismus“ (Braun 2/2012, S.357) nennen will, einer vergleichsweise archaischen Sprache, die auch schon in den Begriffen Samen-‚Spende‘ und Ei-‚Spende‘ anklingt: die Leihmütter werden für ihre Dienste nicht etwa ‚bezahlt‘, sondern sie stellen „ihren Körper und ihre Fruchtbarkeit aus ‚Mitgefühl‘ für die andere Frau zur Verfügung ... . Dahinter verbirgt sich die alte Sprache der ‚Gabe‘ und des zeremoniellen Tausches.“ (Braun 2/2012, S.429)

Obwohl wir es also mit einem modernen Markt zu tun haben und obwohl es letztlich das (nominalistische) Geld selbst ist, das sich in Form von „Embryos“ (Braun 2/2012, S.412) und „käuflichen Kindern“ (Braun 2/2012, S.413) ‚vermehrt‘ und nicht die sogenannten „intentionalen Eltern“ (Braun 2/2012, S.424, 426), muß diese offensichtliche Tatsache verschleiert (Geldschleier) und einem zwar archaischen, aber authentischen Bedürfnis zuliebe in der „alten Sprache“ von „Gaben“ und „Spenden“ verpackt werden.

Wir haben es hier mit zwei verschiedenen, gegenläufigen Bedeutungslinien zu tun, die in der Bewerbung des Reproduktionsmarktes zusammenlaufen und sich vermischen. Die eine Bedeutungslinie – von Braun spricht von einer „vom Geld bestimmten Genealogie“ (Braun 2/2012, S.413) – führt von den antiken Sklavenmärkten Griechenlands, von der Prostitution und dem Söldnerwesen zu den modernen Reproduktionstechniken von heute. Die andere Bedeutungslinie, die „Blutlinie“ (Braun 2/2012, S.420), führt von den archaischen Gemeinschaften der Gabe zu den individuellen (authentischen) Bedürfnissen der Mutter- und Elternschaft von mehrheitlich weißhäutigen, wohlhabenden Bürgern der westlichen Welt. – Wo Beck/Beck-Gernsheim (2011) noch vorsichtig von einer „diagnostischen Theorie“ sprechen, weil sie sich aus ihrer soziologischen Perspektive noch kein Urteil über die den von ihnen beschriebenen Symptomen zugrundeliegenden Wirkungszusammenhänge zutrauen (vgl. meinen Post vom 04.03.2011), kann von Braun sie in Form von kulturgeschichtlichen Bedeutungslinien erstaunlich genau beschreiben.

Dabei hebt von Braun hervor, daß es sich bei ihrer Kulturgeschichte des Geldes nicht um eine definitive, alle geschichtlichen Bedingungen umfassende „große Narration“ handelt, sondern um die „Darstellung eines Prozesses, der die Existenz anderer Prozesse nicht ausschließt.“ (Vgl. Braun 2/2012, S.441) – Es handelt sich bei von Brauns Kulturgeschichte um die „Geschichte des Unbewussten des Geldes“, die beinhaltet, wie sich „Einflüsse der Gemeinschaft im Unbewussten des Einzelnen“ ‚ablagern‘. (Vgl. ebenda) Wir haben es also mit der Beschreibung von Sedimentationsprozessen zu tun.

Ihre aufklärende Wirkung hat diese Kulturgeschichte darin, daß sie es ermöglicht, Begrifflichkeiten auf ihre Bedeutungslinien (Blutlinie versus Geldlinie) zurückzuführen, um sie in ihrer Aussageweise auf das mit ihnen Gemeinte hin zu prüfen. Sie hilft uns dabei, unser Selbst- und Weltverhältnis zu artikulieren, ohne auf die in der Sprache mit transportierten Konnotationen hereinzufallen und so zu bloßen Objekten der Eigendynamik des Geldes zu werden. Nur so kann es uns gelingen, uns unseren authentischen Bedürfnissen zu stellen. Dazu mehr im nächsten Post.

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