„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 15. Dezember 2012

Der Glaube an nichts

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

Immer wieder hält von Braun fest, daß es sich beim (nominalistischen) Geld um ein „Zeichensystem mit Wirkungsmacht“ (Braun 2/2012, S.102) handelt, und sie meint damit zunächst ‚nur‘ seine Wirkungsmacht „über die Substanz“ (Braun 2/2012, S.107 u.ö.). Diese Wirkungsmacht beschreibt von Braun als einen Kreislauf aus Exkarnation und Inkarnation, der mit einer zunehmenden ‚Abstraktion‘ (Exkarnation), der Loslösung von realen Werten, also Tausch- und Gebrauchswerten beginnt, bis es zu seiner ‚Vermehrung‘ nur noch seiner selbst in Form von elektronischen Bits bedarf. Schließlich ‚verlangen‘ diese abstrakten Zeichen, diese aus einem ‚umrandeten Nichts‘ bestehenden Nullen nach ihrer Reinkarnierung, wie sie z.B. in den biologischen Reproduktionstechniken der Medizin zum Ausdruck kommt. (Vgl. Braun 2/2012, S.224f.)

Das (nominalistische) Geld entfaltet aber noch eine andere Wirkungsmacht: die Wirkungsmacht über menschliche (männliche) Subjekte. Das Geld wird „zum Subjekt der Geschichte, indem es sich der Subjekte bedient, die seine Gesetze realisieren. Es instrumentalisiert das Subjekt Mensch für seine eigene Subjektwerdung.“ (Vgl. Braun 2/2012, S.312) Dazu verhelfen ihm zwei Mechanismen, von denen ich zumindestens eine schon in meinen Posts zur Lebenswelt beschrieben habe: der „Schleier des Geldes“ (Braun 2/2012, S.185 u.ö.) und die „Geldillusion“ (Braun 2/2012, S.322 u.ö.). Der Geldschleier verhindert, daß die Menschen merken, daß sie nur Objekte ihres vom Geld gesteuerten Begehrens sind. Er verträgt keinen Zweifel. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf diesen Schleier richten, löst er sich auf: „Damit die mit dem Geld verbundene Emotionalität funktioniert, darf freilich keine Reflexion über das Geld einsetzen: Sobald das Unbewusste in Bewusstsein verwandelt wird, verliert das Geld seinen Zugriff auf das Ich. ... für ein grübelndes Ich hat es keine Verwendung.“ (Braun 2/2012, S.320)

Das Geld bildet also – wie die Lebenswelt – einen Teil des Unbewußten, wo es zum reinen, von jedem Realbezug losgelösten „Vollzug“ wird: es fungiert! Das hat der Geldschleier mit der Lebenswelt gemeinsam und erinnert an entsprechende Darstellungen von Meyer-Drawe und Merleau Ponty. (Vgl. meine Posts vom 12. und vom 13.01.2012)

Bevor ich auf die Geldillusion zu sprechen komme, möchte ich noch kurz auf die Art hinweisen, wie das Geld über die menschlichen (männlichen) ‚Subjekte‘ herrscht. Das Geld teilt die Menschen in zwei Gruppen, in die Agenten (vgl. Braun 2/2012, S.259ff.) und in die Opfer (vgl. Braun 2/2012, S.263ff.). Die Agenten dienen in Gestalt der Spekulanten und Trader dem Geld, indem sie es beliebig vermehren. Bei der Spekulation sind der „Phantasie einer schnellen Geldvermehrung“ (Braun 2/2012, S.251) keine Grenzen gesetzt, sowenig wie es eine Berechenbarkeit für die unvermeidlichen Abstürze gibt (vgl. Braun 2/2012, S.202 u.ö.).

Der unvermeidliche Geld-‚Verlust‘ – Franz J. Rademacher spricht von der „Geldverlustillusion“: „Wenn Blasen platzen und der Kurs sinkt, ‚dann ist unter Umständen kein Geld weg, es war nie da‘.()“ (Braun 2/2012, S.344) – zwingt zu einer materiellen Beglaubigung des Geldes. Da es im Finanzkapitalismus jeglichen Bezug zu materiellen Werten verloren hat, bleiben dafür wiederum nur die menschlichen ‚Subjekte‘, die dem Geld jetzt nicht als Agenten, sondern als Opfer dienen. Die „Aussonderung“ von Menschen, die bei einer Geldentwertung ihr ganzes Kapital verlieren, sichert und beglaubigt den Wert des Geldes. (Vgl. Braun 2/2102, S.272)

Da das Geld dabei keinen Unterschied zwischen ‚Agenten‘ und ‚Opfern‘ macht – jeder kommt als Opfer in Betracht, egal, welcher Seite man sich selbst zuordnen mag –, besteht die größte Angst der Agenten darin, „dass ihnen jene, die das Geld – mit ihrem Körper – beglaubigen, ‚ausgehen‘ könnten.“ (Vgl. Braun 2/2102, S.271) – Dennoch entgehen auch die Agenten der Unberechenbarkeit des Geldes nicht. Nicht jeder ist zum Agenten bestimmt, aber jeder kann zum Opfer werden und so die „Gemeinschaftswährung“ (Braun 2/2102, S.272) beglaubigen.

Mit dem Begriff der „Gemeinschaftswährung“ kommen wir zu einer Problematik, mit der ich mich schon in meinem Post vom 04.12.2012 befaßt habe: Wie kann (nominalistisches) Geld Gemeinschaft gleichzeitig zerstören und stiften? Meine Antwort in dem genannten Post: gar nicht! Das (nominalistische) Geld zerstört die Gemeinschaft und setzt an deren Stelle eine bestimmte Form von Gesellschaft: Industriekapitalismus und Finanzkapitalismus. Worauf von Braun mit dem Begriff der „Gemeinschaftswährung“ hinaus will, ist die Bindungskraft des Geldes: Wie schafft es das Geld, menschliche (männliche) Subjekte an sich zu binden?

Mit dieser Frage kommen wir nun zum zweiten Mechanismus, dessen sich das Geld bedient, um sich als „Subjekt der Geschichte“ an die Stelle menschlicher Subjekte zu setzen: zur Geldillusion, die im Glauben an die Gemeinschaft besteht: „Hinter der ‚Geldillusion‘, so Schmölders, verbirgt sich der Glaube an die Gemeinschaft; diese ist ‚sozialpsychologisch betrachtet, nichts anderes als der Geldwert, aufgefasst als allgemeine, nicht-individuelle Wertschätzung der Geldeinheit in der Skala der Werte einer Gemeinschaft‘.() Auch für Simmel hängen der Glauben ans Geld und der Glaube an die Gemeinschaft eng zusammen ...“ (Braun 2/2102, S.322)

Was wir hier sauber auseinander halten müssen, ist einerseits die Triebkraft, die eine Gemeinschaft zusammenhält, und die Gemeinschaft selbst, die eine bestimmte Form bzw. Struktur des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Von Plessner her habe ich Gemeinschaft und Gesellschaft dahingehend differenziert, daß wir es in der Gemeinschaft mit einer Umgangsform unter ‚Verwandten‘ und in der Gesellschaft mit einer Umgangsform unter ‚Fremden‘ zu tun haben. Wenn also das (nominalistische) Geld zwangsläufig die Gemeinschaft zerstört, kann es schlecht gleichzeitig wieder Gemeinschaft stiften. Was es aber sehr wohl kann, ist, sich der durch die Zerstörung der Gemeinschaft freigewordenen Triebkraft zu bedienen, um sie in eine neue Bindung zu überführen, die eine neue Kommunikationsform – eben die der (finanzkapitalistischen) Gesellschaft – stiftet.

Als eine solche Bindungen stiftende Triebkraft beschreibt von Braun z.B. die Libido, die im Finanzkapitalismus insbesondere als vom individuellen Körper gelöste, einen Kollektivkörper bildende Hysterie zum Ausdruck kommt: „Sie inkarniert eine Art von historischer ‚Anti-Logik‘ zu der das Abendland prägenden Strukturierung der Gesellschaft nach dem Gesetz der Schrift.() Die Hysterie, die Freud als ‚Krankheit des Gegenwillens‘ bezeichnete,() repräsentiert die Kraft des Unbewussten, das sich einer Vereinnahmung durch diese Logik entzieht.“ (Braun 2/2012, S.303)

In der Gemeinschaft ist die Libido an den individuellen Körper gebunden. Löst sich die Gemeinschaft auf, so wird diese Libido frei, löst sich von der biologischen Reproduktion und ihren organischen Bedingungen und verwandelt sich in eine „frei flottierende Sexualität“ (Braun 2/2012, S.344), die in ihrer finanzkapitalistischen Extremform zur Hysterie wird: „Produziert die eine (die Hysterie – DZ) Symptome ohne organische Ursache, so schafft das Geld Wirklichkeit aus dem Kredit. Gemeinsam ist Hysterie und Geld auch die sexuelle Aufladung. Der Begriff der Hysterie ist geradezu Synonym für Irrationalität, unbeherrschtes und unbeherrschbares Sexualbegehren.“ (Braun 2/2012, S.304)

Das (nominalistische) Geld stiftet also nicht etwa Gemeinschaften, sondern Gesellschaften auf der Basis einer durch die Zerstörung der Gemeinschaft funktionslos gewordenen Libido, die zu einer neuen Form der Abhängigkeit führt: zu einer Abhängigkeit vom Nichts. An die Stelle der biologisch begründeten Libido der Gemeinschaft tritt ein illusionärer Gemeinschaftsglaube, aus dem sich die Wirkmächtigkeit des Geldes speist, weil die in seinem Dienst stehenden Agenten und Opfer nicht durchschauen, daß es diese Gemeinschaft gar nicht mehr gibt: „Was es (das Geld – DZ) jedoch braucht, ist die Abhängigkeit der Individuen voneinander: ihre ‚Verkettung‘ ist die Grundlage der Zahlenketten des Geldes. Diese Art von ‚Abhängigkeit‘ kennzeichnet auch Gesellschaften mit oraler Kommunikation: Die gesprochene Sprache zirkuliert innerhalb des Gemeinschaftskörpers und stellt einen Lebenssaft dar, der die einzelnen Mitglieder miteinander verbindet. So auch das Geld, das auf dem Glauben an die Gemeinschaft beruht ... Die Körperlosigkeit unterscheidet das zirkulierende Geld von der oralen Kommunikation. Dafür produzieren die Zeichen aber ihre eigenen Körper. Aus der Zirkulation des Geldes herauszutreten, heißt, dem Geld den Schleier zu entreißen, die Zeichen als Zeichen zu lesen – und ihm damit die Basis seiner Funktionsfähigkeit zu nehmen.“ (Braun 2/2012, S.225f.)

Was die Individuen letztlich daran hindert, den Geldschleier zu durchschauen, begründet sich aus einer fundamentalen Unfähigkeit: „Das Ich erträgt kein ‚knapp gehaltenes Nichts‘. Für das Unbewusste gibt es das Nichts nicht. Das zeigen alle Versuche, das Unbewusste zu definieren.“ (Braun 2/2012, S.321) – Deshalb neigen wir unterbewußt dazu, das Nichts aufzufüllen mit Etwas, mit Sinn. Weil wir die Nichtigkeit der finanzkapitalistischen Gesellschaft nicht verstehen und nicht leben können, verwandeln wir dieses Nichts in einen Glauben und die Gesellschaft in eine Gemeinschaft.

Lücken mit Sinn auszufüllen, kennen wir schon aus dem narrativen Prinzip, wie es Harald Welzer als Montageverfahren beschrieben hat. (Vgl. meinen Post vom 22.03.2011) Auch von Braun beschreibt diesen sinnproduzierenden Mechanismus des – wie ich lieber sagen möchte – Unter-Bewußten (vgl. meinen Post vom 20.04.2012): „Sogar da, wo es im Unbewussten das Schweigen oder Lücken gibt, sind diese nichts anderes als Geheimkammern: Im Gegensatz zur Null, die ein ‚umrandetes Nichts‘ ist, sind sie ein vom Nichts (dem Schweigen) ‚umrandetes Etwas‘. Die beiden Psychoanalytiker Nicolas Abraham und Maria Torok haben für diese ‚verdeckten‘ oder geheimen Formen des Gedächtnisses den Begriff der ‚Verkryptung‘ eingeführt. Damit ist ein ‚intrapsychisches Geheimnis‘ gemeint, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird und dazu dient, ‚die Leere zu vergegenständlichen, die ein verborgener Teil des Lebens eines Liebesobjekts hinterlassen hat. Das Phantom ist deshalb auch eine metapsychologische Tatsache: Das heißt, es sind nicht die Verschiedenen, die spuken, sondern die Lücken, die die Geheimnisse des anderen in uns gelassen haben‘ “ (Braun 2/2012, S.322)

Bei den ‚Hinterlassenschaften‘ eines „verborgene(n) Teils des Lebens eines Liebesobjekts“ brauchen wir nur an die vom (nominalistischen) Geld zerstörte Gemeinschaft zu denken, die Plessner ja auch als Liebesgemeinschaft beschrieben hat, um zu erkennen, daß wir es hier mit genau jenen merkwürdigen Bindungskräften des Geldes zu tun haben (vgl. Braun 2/2012, S.315f.), über die wir nicht Bescheid wissen dürfen. Das Fehlen der Gemeinschaft in der Gemeinschaftswährung führt dazu, daß wir uns ständig gezwungen sehen, diese ‚Lücke‘ mit einer „imaginäre(n) Gemeinschaft“ (Braun 2/2012, S.319) aufzufüllen, weil unser Ich kein Nichts erträgt: „Die Erkenntnis der Geld-Illusion besteht also in der Erkenntnis, dass die staatliche Ordnung versagt hat. Das Ich wird auf sich selbst zurückgeworfen – hier beginnen die Zweifel. ... Der Zweifel am Geld wird zum Motor eines verzweifelten Vertrauens ins Geld: Der Übereifer kompensiert den Mangel an Credo.“ (Braun 2/2012, S.323)

Interessant ist übrigens der von Abraham und Torok eingeführte Begriff der „Antimetapher“. (Vgl. Braun 2/2012, S.322) Damit bezeichnen sie die „verkrypteten Erinnerungen“, die als Lücken im Sagbaren auftreten. Führen Antimetaphern wie Antimaterie zur Zerstörung von Metaphern und damit von Sinn? Lösen Antimetaphern das Sagen in Schweigen auf? Ist die „Lücke im Sagbaren“ (ebenda) das, worüber geschwiegen werden muß? Dann hätte Wittgensteins These einen lebensweltlichen Bezug.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen