„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 18. August 2012

Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011

1. Begriffe und Hypothesen
2. Methode
3. Selbst kommt hinzu
4. Körper und Gehirn
5. Bewußtsein und Rekursivität
6. Erziehung des Unterbewußten
7. Biologischer Wert und Kultur
8. Die Grenze des Körperleibs

Es gibt verschiedene Stellen in Damasios Buch, an denen er sich der Plessnerschen Grenzbestimmung des Körperleibs und der damit verbundenen Doppelaspektivität annähert, ohne allerdings zur vollen Einsicht in die damit verbundenen Problematiken zu gelangen. Es finden sich aber Formulierungen, die es wert sind, daß ich sie im vollen Umfang zitiere:
„Die umfassende Kartierung des Körpers erstreckt sich nicht nur auf das, was wir als den eigentlichen Körper betrachten – Muskel- und Skelettsystem, innere Organe, inneres Milieu –, sondern auch auf jene besonderen Wahrnehmungsinstrumente, die an ganz bestimmten Stellen des Körpers angebracht sind und quasi seine Spähposten darstellen: die Schleimhäute für Geruch und Geschmack, die Berührungssensoren der Haut, die Ohren und Augen. Diese Instrumente liegen ebenso wie Herz und Darm im Körper, nehmen aber eine bevorrechtigte Position ein. Man könnte sagen: Sie liegen wie Diamanten in einer Fassung. Alle diese Instrumente bestehen zum Teil aus ‚altem Fleisch‘ (der Fassung für die Diamanten) und zum Teil aus hochempfindlichen, ganz speziellen ‚neuronalen Sensoren‘ (den Diamanten). Wichtige Beispiele für die Fassung aus ‚altem‘ Fleisch sind beispielsweise das Außenohr, der Gehörgang, das Mittelohr mit seinen Gehörknöchelchen und das Trommelfell, ebenso die Haut und die Muskeln rund um die Augen sowie die verschiedenen Bestandteile des Augapfels mit Ausnahme der Netzhaut, beispielsweise Linse und Pupille. Zu den hochempfindlichen neuronalen Sensoren gehören die Schnecke im Innenohr mit ihren raffinierten Haarzellen und ihrer Fähigkeit, Geräusche zu kartieren, aber auch die Netzhaut auf der Rückwand des Augapfels, auf die die optischen Bilder projiziert werden. Die Kombination aus altem Fleisch und neuronalem Sensor stellt eine Grenze des Körpers dar.“ (Damasio 2011, S.102f.)
Wichtig ist zunächst insbesondere der letzte Satz zur „Grenze des Körpers“, der tatsächlich eine Grenzbestimmung des Körperleibs zum Ausdruck bringt, denn an dieser Stelle ist auf organischer Ebene die Differenz zwischen Innen und Außen festzumachen. Es handelt sich dabei nach Damasio tatsächlich um eine Grenze des Körpers und nicht einfach um eine Projektion des Gehirns, wie viele Neurowissenschaftler meinen. Was auch immer das Gehirn mit den sinnesphysiologischen Daten anfangen mag, die es von den von Damasio aufgezählten Schleimhäuten, den Berührungssensoren der Haut, den Ohren und den Augen bezieht: es ist der Körper, über die er sie bezieht. Sie werden nicht etwa per Funk von außen unter Umgehung des Körpers direkt ins Gehirn übertragen: „Signale aus der Umwelt müssen diese Grenze überwinden und können erst dann ins Gehirn gelangen. Auf direktem Wege erreichen sie das Gehirn nicht. Wegen dieses eigenartigen Arrangements kann die Repräsentation der Welt, die sich außerhalb des Körpers befindet, nur über den Körper ins Gehirn gelangen, genauer gesagt über seine Oberfläche.“ (Damasio 2011, S.103)

An dieser Stelle bräuchte Damasio nur noch einen kleinen Schritt weiterzugehen und die Differenz von Innen und Außen am Körper selbst festzumachen, und er wäre zur Doppelaspektivität des Körpers als Körper und als Leib, als Körperleib, vorgestoßen. Daraus hätte sich alles andere ergeben, von der exzentrischen Positionalität bis hin zum menschlichen Selbstverhältnis als vermittelte Unmittelbarkeit, in der wir uns nur finden, indem wir uns verfehlen. Hierzu gehört auch ein gehaltvolles Verständnis von Emotionen und Gefühlen als ‚Seele‘, deren Ambivalenzen die Grenzbestimmung des Körperleibs widerspiegeln. Als „noli me tangere“ steht sie bei Plessner paradigmatisch für das Scheitern des menschlichen Strebens nach Authentizität.

Damasio tut diesen Schritt allerdings nicht; er bleibt – wie wir in den letzten beiden Posts gesehen haben – beim biologischen Wert. Es gibt aber noch andere Stellen, an denen Damasio an Plessners Anthropologie nahe dran ist. So schreibt Damasio z.B., daß die im obigen Zitat aufgeführten Sinnesorgane, die er auch als „Sinnesportale“ bezeichnet (vgl. Damasio 2011, S.203), eine „Doppelrolle“ spielen: „Einerseits bauen sie die Perspektive auf (ein wichtiger Aspekt des Bewusstseins), und andererseits dienen sie zur Konstruktion qualitativer Aspekte des Geistes. Zu den Merkwürdigkeiten bei der Wahrnehmung eines Objekts gehört die einzigartige Beziehung, die wir zwischen den geistigen Inhalten, die das Objekt beschreibt, und denen, die dem an der jeweiligen Wahrnehmung beteiligten Körperteil entsprechen, herstellen.“ (Damasio 2011, S.209)

Der Begriff der „Perspektive“ steht bei Damasio dafür, „dass mein Geist einen Standpunkt hat, von dem aus er sieht, tastet, hört und so weiter; dieser Standpunkt ist mein Körper“. (Vgl. Damasio 2011, S.198) Wenn man statt „Standpunkt“ „Positionalität“ sagt, wie Plessner, ist auch hier der Schritt zur „exzentrischen Positionalität“ nicht mehr fern. Und Damasios Hinweis darauf, daß die Sinnesportale „zur Konstruktion qualitativer Aspekte des Geistes“ beitragen, beinhaltet auch, wenn man berücksichtigt, daß wir es bei Damasio und bei Plessner mit unterschiedlichen Geistkonzepten zu tun haben, schon den Ansatz zu einer Ästhesiologie des Geistes, der dann aber leider von Damasio nicht mehr weiter ausgebaut wird.

Schließlich verweist Damasio noch auf einen weiteren Aspekt der „Körper-Gerichtetheit des Gehirns“: „Da das Gehirn seinen Körper in integrierter Form kartiert, gelingt es ihm, die entscheidende Komponente des späteren Selbst zu schaffen. Wie wir noch erfahren werden, ist die Kartierung des Körpers ein Schlüssel für die Aufklärung des Bewusstseinsproblems.“ (Damasio 2011, S.103)

In diesen Formulierungen steckt ein erster Hinweis auf die Bedeutung und die Herkunft der Gestaltwahrnehmung. Die erste ‚Gestalt‘ nämlich, an der wir das Urbild für alle künftigen Gestaltwahrnehmungen haben, ist der eigene Körper, dessen verschiedene Aspekte und Funktionen vom Gehirn, in Form von ‚Karten‘, d.h. in Form von neuronalen Schaltkreisen, ‚integriert‘ werden. Von diesem Urbild des eigenen Körpers her werden uns alle anderen künftigen Phänomene mit ihren Innen- und Außenhorizonten erstmals verständlich. Und in ihm spiegelt sich letztlich auch die Identität und Kontinuität unseres geistigen Selbst: „Wir leben nicht in zwei Körpern, sondern in einem (diese Tatsache leugnen nicht einmal siamesische Zwillinge), und wir haben einen Geist, der zu diesem Körper gehört, sowie ein Selbst, das zu beidem gehört. (Ein multiples Selbst und multiple Persönlichkeit sind keine normalen Geisteszustände.)“ (Damasio 2011, S.205)

Nun schreibt Damasio zwar, daß „wir noch erfahren werden“, inwiefern „die Kartierung des Körpers ein Schlüssel für die Aufklärung des Bewusstseinsproblems“ ist, aber letztlich verbleibt er auch hier nur auf der Ebene des biologischen Werts, der uns in unseren Körperzellen bis in die höchsten Kulturleistungen als orientierender Maßstab vorgegeben ist. Hauptsächlich besteht bei Damasio die Entwicklung des Bewußtseins in der Kontinuität der Entwicklung des Lebens zu immer größerer Komplexität (vgl. Damasio 2011, S.39), womit er die eigentliche qualitative Bestimmung des menschlichen Bewußtseins letztlich verfehlt.

Dabei lehne ich aber Damasios Konzept der grundlegenden Homöostasen und ihrer Erweiterungen in den soziokulturellen Bereich hinein keineswegs prinzipiell ab. Eine solche Ausbalancierung biologischer, kultureller und individueller Entwicklungsmomente verbinde ich auch mit meiner eigenen Verhältnisbestimmung von Naivität und Reflexion. Ich teile außerdem Damasios Ansicht, daß es eine narrative Kopplung zwischen biologischen und kulturellen Homöodynamiken auf der einen Seite und der individuellen Selbstverwirklichung auf der anderen Seite gibt. Die narrative Syntax der individuellen Sinnbestimmung, Plessners syntagmatische Gliederung, wirkt sich auf die protonarrativen Sequenzen grundlegender Homöostasen aus und wird zugleich durch diese Homöostasen, in Form des biologischen Wertes, bestätigt. Dabei gehen kulturelle und individuelle Sinnbestimmungen aber keineswegs im biologischen Wert auf. Das menschliche Sinnstreben ist vielmehr ein auf den vermittelnden Ausdruck, also auf Sprache angewiesener lebenslanger Versuch, vor sich selbst und vor anderen wie sich selbst verständlich zu werden.

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