„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 15. August 2012

Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011

1. Begriffe und Hypothesen
2. Methode
3. Selbst kommt hinzu
4. Körper und Gehirn
5. Bewußtsein und Rekursivität
6. Erziehung des Unterbewußten
7. Biologischer Wert und Kultur
8. Die Grenze des Körperleibs

Um ein Phänomen zu untersuchen, das sich aufgrund seiner ‚Privatheit‘ – d.h. aufgrund der im Schädelinneren verborgenen Prozesse (vgl. Damasio 2011, S.27, 76f., 81, 169, 329) – der direkten Beobachtung und Messung entzieht, bedarf es, wie wir es schon in einem Post vom 26.07.2012 zu Northoff diskutiert hatten – eines indirekten Verfahrens. Northoff bezeichnet solche indirekten Vorgehensweisen als „transzendental“. Zu solchen „transzendentalen“ Methoden würde dann auch Damasios „Triangulation“ gehören. (Vgl. Damasio 2011, S.27, 31, 183; vgl. auch „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.25)

Bei der Triangulation geht es darum, von drei verschiedenen Positionen aus den nicht direkt beobachtbaren Gegenstand ‚anzuvisieren‘, also zu beschreiben, um dann in der gemeinsamen Schnittmenge der Beschreibungen den gesuchten Gegenstand zu identifizieren. So können z.B. drei verschiedene Perspektiven auf das Bewußtsein, die jede für sich nur unsicher und vage sind, zu genauen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Ergebnissen führen. Als besonders unsicher beschreibt Damasio insbesondere die zu diesen drei Perspektiven gehörende Introspektion, deren Ergebnisse oft nur von zweifelhafter Qualität sind: „Introspektion kann, wie wir bereits erfahren haben, irreführende Informationen liefern.“ (Damasio 2011, S.107) – Aus Plessners Perspektive verwundert das nicht weiter; denn auch in der ‚Privatheit‘ der Introspektion ist alle scheinbare Unmittelbarkeit vermittelt, und das verhindert Authentizität.

Zu den anderen beiden Perspektiven zählte Damasio auch in seinen früheren Veröffentlichungen die Beobachtung des menschlichen Verhaltens und die Gehirnforschung. Ich selbst hatte Damasio immer so verstanden, daß diese drei Perspektiven das ganze Wissenschaftsspektrum umfassen: mit der Introspektion alle philosophischen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, mit der Beobachtung des Verhaltens alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen und mit der Gehirnforschung alle naturwissenschaftlichen Disziplinen. (Vgl. meine beiden Posts vom 05.03.2011) In diesem Sinne würde die Triangulation also das ganze Wissenschaftsspektrum umfassen. Möglicherweise war das ein Mißverständnis.

In seinem aktuellen Buch faßt Damasio diese Triangulation folgendermaßen zusammen: „Die heutigen Fortschritte in der neurobiologischen Forschung des bewussten Geistes erwuchsen zum größten Teil aus der Kombination von drei Sichtweisen: erstens der Sichtweise des direkt bezeugten bewussten Geistes, die persönlich, privat und bei jedem von uns einzigartig ist, zweitens der verhaltensorientierten Sichtweise, die es uns erlaubt, aufschlussreiche Handlungen anderer zu beobachten, wobei wir Grund zu der Annahme haben, dass auch diese anderen über einen bewussten Geist verfügen, und drittens der Sichtweise der Gehirnforschung, mit deren Hilfe wir bestimmte Aspekte der Gehirnfunktion an Individuen untersuchen können, deren bewusster Geisteszustand mutmaßlich entweder vorhanden ist oder fehlt.“ (Damasio 2011, S.27)

Inzwischen ist Damasio allerdings der Ansicht, daß die aus dieser Triangulation gewonnenen Befunde nicht ausreichen, „um einen bruchlosen Übergang zwischen den drei Phänomenen zu schaffen“, und daß es noch einer vierten Perspektive bedarf, die dazu führt, daß wir die „Geschichte des bewussten Geistes“ völlig neu erzählen müssen. (Vgl. Damasio 2011, S.27) Als diese „vierte Sichtweise“ bezeichnet Damasio die Phylogenese, also die Untersuchung der evolutionären „Vorstufen von Selbst und Bewusstsein“. (Vgl. ebenda)

An dieser Stelle möchte ich vor allem auf Damasios Interesse an Ergebnissen verweisen, die einem „bruchlosen Übergang“ zwischen Introspektion, Verhaltensbeobachtung, Gehirnforschung und jetzt auch evolutionären Daten der Bewußtseinsentwicklung gewährleisten. Das würde letztlich auf eine Aufhebung der von Damasio so hervorgehobenen Privatheit des persönlichen Erlebens hinauslaufen. Wir hätten dann nämlich eine mit wissenschaftlichen Methoden gewonnene Kenntnis von der Gesetzmäßigkeit von Bewußtseinsprozessen, zu denen wir nicht einmal als beteiligte Subjekte einen direkten Zugang haben, denn „wir haben guten Grund zu der Annahme, daß ein solcher Selbst-Prozess kein umfassendes, zuverlässiges Bild der gesamten Vorgänge liefern kann.“ (S.25) – Wir hätten also ein objektives Wissen über das Bewußtsein, das uns als Subjekten prinzipiell – wie Damasios Verweis auf die Subjekt-Objekt-Spaltung nahelegt (vgl. ebenda) – unzugänglich bleiben muß.

Damasio bewegt sich mit seinen kurzen, nicht weiter ausgeführten Hinweisen auf die Unzuverlässigkeit der Introspektion an der Grenze zur vermittelten Unmittelbarkeit, wie sie Plessner beschreibt. Allerdings führt das bei ihm zu keinen entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich der Bestimmung der Bewußtseinsqualität, die er in seinen Untersuchungen voraussetzt. Sein Bewußtsein bildet ein Erfahrungskontinuum, das „bruchlos“ von den lebenserhaltenden Mechanismen von Einzellern bis hin zu den höchsten kulturellen Errungenschaften der Menschheit reicht. Dies muß man wissen, wenn man sich mit seinen bemerkenswerten Überlegungen zu den grundlegenden physiologischen Prozessen befaßt, die u.a. menschliches Bewußtsein möglich machen.

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