„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 16. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Obwohl Sokrates ein erbitterter Gegner der rhetorischen Verführungstechniken der Sophisten ist und den Mythos, als so einem rhetorischem Versatzstück in einer ansonsten der Logik unterworfenen ‚Argumentation‘, ablehnt, bedient er sich selbst immer wieder der Mythen, um der Auffassungsgabe seiner Zuhörer Brücken zu bauen oder Auswege aus logischen Sackgassen zu finden. Dazu dient z.B. der Mythos von der Seelenwanderung im „Menon“. (Vgl. meinen Post vom 24.01.2012)

Auch Platons Höhlengleichnis stellt so einen ‚Mythos‘ dar. Im platonischen Dialog – der dialektischen Logik von Rede und Gegenrede verpflichtet – stellen die in die Gespräche eingebauten Mythen das narrative Prinzip dar, ohne deren Hilfe nicht über das gesprochen werden könnte, was immer wieder der wichtigste Gegenstand dieser Gespräche ist: das gute Leben bzw. die Tugend. Und auch im Dialog über den „Staat“ kann nur der Mythos leisten, woran der sokratische Dialog scheitert: auf die Welt außerhalb der Höhle zu verweisen. – „Der Dialog mit seinem wichtigsten Mittel, den Partner in Widersprüche zu verwickeln und in Sackgassen zu treiben, bleibt angesichts der ästhetisch belebenden Qualität der Schatten hilflos. Denn es gibt gar keine ‚Widersprüche‘ in einer Folge von Erscheinungen. ... Die Problematik der Höhlenausgänge liegt darin, daß man in einer Höhle nicht darstellen kann, was eine Höhle ist.“ (Blumenberg 1989, S.88f.)

Wie schafft der Mythos, was der Dialog nicht vermag? Mit Tomasello könnte man sagen, daß es seine spezielle ‚Syntax‘ ist, die ihn dazu befähigt. (Vgl. meinen Post vom 27.04.2010) Tomasello bezeichnet die extravagante Syntax als „Modus der Narration“, und ihre Funktion besteht darin, den begrenzten rekursiven Raum, der uns intellektuell zur Verfügung steht, zu erweitern. Im Grunde entspricht die extravagante Syntax auf linguistischer Ebene der an der Anatomie des Körperleibs festgemachten exzentrischen Positionalität bei Plessner. Auch die extravagante Syntax versetzt den Zuhörer einerseits in die Mitte einer Erzählung und beläßt ihn zugleich an der Peripherie der im Umkreis dem Erzähler lauschenden Zuhörerschaft.

Dem zweifach positionierten Zuhörer einer Erzählung entspricht nun die Möglichkeit des Ineinanderverschachtelns und des Übereinanderschiebens von Sinnebenen, die metaphorische Räume eröffnen, in denen Anschauungen außerhalb einer bloßen „Folge von Erscheinungen“ und ihrer positivistischen Logik möglich werden. In der extravaganten Logik einer Erzählung können dann tatsächlich Höhlenbewohner, die keine Welt außerhalb ihrer Höhle kennen, mit Höhlenbewohnern konfrontiert werden, die keine Welt außerhalb ihrer Höhle kennen: derselbe Mythos „in demselbem“ also (vgl. Blumenberg 1989, S.188).

Dieses Ineinanderverschachteln und Übereinanderschieben von Sinnebenen ist natürlich gemessen an logischen Kriterien extrem ungenau. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 24.07.2011) Logische Widersprüche werden hier schnell übersehen oder einfach hingenommen, weshalb das Erzählen von Mythen bei den Sophisten ja auch so beliebt gewesen war. So lassen sich die Zuhörer eben leichter manipulieren als in einem offenen Dialog, in dem alles Gesagte immer gleich wieder hinterfragt und angezweifelt werden kann.

Allerdings ist die narrative Ungenauigkeit des Mythos auch äußerst produktiv. Das Beispiel liefern wiederum die zwei bekanntesten Platonischen Mythen: das Höhlengleichnis im „Staat“ und die Seelenwanderung im „Menon“. Beim „Menon“ hatte ich in dem o.g. Post schon darauf hingewiesen, wie oft und wie falsch dieser Mythos gerade in der Pädagogik immer wieder aufgegriffen und nacherzählt worden ist. Und am Höhlenmythos führt Blumenberg selbst ausführlich auf den über 800 Seiten seiner „Höhlenausgänge“ vor, wie sehr diese Geschichte im Laufe der Jahrtausende verändert worden ist, nicht obwohl, sondern gerade weil es zum abendländischen „Bildungsinventar“ (Blumenberg 1989, S.723) gehört. Nicht „ungenau“, sondern sogar „historisch-philologisch unverantwortlich“ zu sein bei der Wiedergabe und Interpretation des Höhlengleichnisses, gehört deshalb zur Grundvoraussetzung eines produktiven Umgangs, bei dem man auf neue, originelle Einfälle kommen kann.

Das erinnert sehr an das Montageprinzip, wie es Harald Welzer beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 22.03.2011) Ihm zufolge weisen Erzählungen ‚Lücken‘ und logische Widersprüchlichkeiten auf, die es dem Zuhörer ermöglichen, diese mit eigenem Sinn zu füllen, so daß niemals zwei Zuhörer dieselbe Geschichte hören. Was zunächst nur nach einem Einfallstor für Mißverständnisse aller Art aussieht, interpretiert Welzer als die Voraussetzung dafür, daß beim Zuhören einer Geschichte ein gemeinsamer Sinn entstehen kann. Anstatt die individuellen Perspektiven der Zuhörer auszuschließen, kann jeder von seinen Verstehensmöglichkeiten her in die Geschichte einsteigen, so daß die Erfahrungsunterschiede zwischen jung und alt, zwischen arm und reich etc. keine Rolle mehr spielen.

Bei diesem gemeinsamen Sinn handelt es sich übrigens um echte Rekursivität: sie beinhaltet eine Ebenentranszendenz, in der die Differenz der individuellen Perspektiven erhalten bleibt. Anders als in der wissenschaftlichen Intersubjektivität geht es hier nicht um die Schaffung identischer Subjekte und identischer Objekte. (Vgl. Blumenberg 1989, S.746; vgl. auch meinen Post vom 13.07.2012) Das mit sich selbst identische wissenschaftliche Wissen verbleibt in gewisser Weise in seiner ‚Zwiebelschale‘, weil es keinen Bezug zu nichtwissenschaftlichem Wissen erlaubt. Intersubjektivität (gemeinsamer, narrativ vermittelter Sinn) ist deshalb nicht gleich Intersubjektivität (widerspruchsfreier und funktionaler Sinn)!

Zurück zum Montageprinzip: Wie Harald Welzer am kommunikativen Gedächtnis zeigt, ist alles Erinnern immer schon Fragment und als solches montierbar. Dafür sorgt schon das einfache Vergehen von Zeit, wie auch Blumenberg festhält: „Der auf Eindeutigkeit hin unlösbare Idealfall für ‚Hermeneutik‘ ist das Fragment. Heraklit und Parmenides wurden die ‚Erfolgsautoren‘ der hermeneutischen Philosopheme dieses Jahrhunderts; andere, bei denen selbst die Fragmente unecht sind wie Diogenes von Sinope, haben noch Zukunft. Was beim Fragment Zeitverschleiß und Bücherausbrand besorgt haben, leistet am allbekannten Bildungstext wie dem Höhlenmythos das Vergessen, die Arroganz der Geringschätzung, die Halbierung der Bildung – am Ende ist auch nur Fragment vom genuinen Text, was die Rezeption intoniert.“ (Blumenberg 1989, S.728) – Blumenberg geht deshalb sogar so weit, daß man um des freieren Denkens willen sich nicht scheuen sollte, die kreativen Voraussetzungen von Ungenauigkeiten selbst herzustellen: „Künstliche Fragmentierung ist so der Gegenzug zur vermeintlichen Endgültigkeit der philologischen Kompetenz ...“ (Vgl. Blumenberg 1989, S.750)

Zum Schluß sei noch auf die besondere Funktion von Literaturgattungen wie dem Roman, der Epik und dem Drama hingewiesen, wie sie Blumenberg hervorhebt. Der Roman wird von Blumenberg als komplexe neuzeitliche Metapher für das menschliche Bewußtsein beschrieben. Anstatt das Bewußtsein als eine black box zu beschreiben, als Reduktion auf die neurophysiologische Funktionalität, verweist das erzählerische Prinzip des Romans auf die Wirklichkeit als einem „anfangs- wie endes-offenen Kontinuum() der Möglichkeiten wie der Entwicklungsstufen“ (Blumenberg 1989, S.13) Für ein solches dynamisches Kontinuum steht auch der in diesem Blog schon öfter angesprochene Begriff des Sinnes von Sinn. Dieser Verzeitlichung des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs entspricht wiederum die Zeitlichkeit des Bewußtseins: „Die Repräsentanz des Romans für das sich selbst ‚thematisch‘ gewordene und noch werdende Bewußtsein gründet in einem Verständnis seiner Zeitlichkeit: ... als der Bedingung dafür, eine Gegenwart von ausgezeichneter Gewißheit bei kontingentem Erlebnisgehalt haben zu können, die jeweils diese bestimmte nur unter Ausschluß aller anderen möglichen ist.“ (Blumenberg 1989, S.14)

Der Roman steht mit seinem erzählerischen Prinzip in Konkurrenz zum Drama, die dem Gegensatz von Künsten und Medien bei Kittler entspricht. (Vgl. meinen Post vom 30.04.2012) Interessanterweise ist es genau die ästhetische Spezifität des Dramas, die schon bei Platon zu einer Ablehnung dieser Kunstgattung führte: „Die Schatten der Höhle, die doch durchaus ihren bedürfniserfüllenden Dienst für die Zuschauer taten, sollten jeder Achtung und Beachtung unwürdig sein, weil sie erst Abbilder erster Stufe, Nachahmungen von Nachahmungen, ohne jedes unmittelbare Verhältnis zu Urbildern, deshalb die relative letzte und der Unwirklichkeit nächste Wirklichkeit waren.“ (Blumenberg 1989, S.520)

Und Blumenberg fügt hinzu: „Die Anwendung auf das Verhältnis von Roman und Drama, von bloßem Wortbericht und szenischer Darstellung drängt sich auf. Diderot war raffiniert genug, sich im Rahmen der platonisierenden Ontologie der Ästhetik zu halten, um die Diskussionsfähigkeit nicht zu verlieren. Er erreichte es dadurch, daß er das Kriterium wechselte: Der Roman ist der Wirklichkeit näher als das Drama, weil er mehr Detail, wir würden schon sagen wollen, aber nicht dürfen: mehr Welt – zu liefern vermag als das Drama.“ (Blumenberg 1989, S.520)

Wo also bei Platon die Künste, z.B. in Form des Dramas und seiner szenischen Darstellung, generell nur eine schwache, schattenhafte ‚Mimesis‘ der Wirklichkeit lieferten und deshalb in seinem Staat verboten werden sollten, differenziert Diderot diese Künste noch einmal hinsichtlich ihres Realitätsbezugs. Das Drama liefert zwar mit seinen theatralischen Mitteln der Mimesis eine Abbildung der Wirklichkeit. Es bleibt aber hinter der Detailtreue des Romans zurück, weshalb dieser im Unterschied zum Drama – obwohl man es so nicht sagen darf – ‚welthaltiger‘ ist.

Hier könnte sich nun noch einmal Kittler mit seiner Medientheorie zu Wort melden und darauf hinweisen, daß es zwar sein mag, daß der Roman mehr Details liefert; aber das Drama bedient die menschlichen Sinne mit seiner szenischen Darstellungsform vollständiger, auch wenn es nur Kulissen und Requisiten sind, die wir zu Gesicht bekommen. Das Drama liefert sinnliche Anschauung, wo der Roman auf Phantasie angewiesen bleibt. Es gibt sogar eine Stelle, an der sich Blumenberg mit seiner Darstellung der ästhetischen Qualitäten der Epik an Kittlers Medientheorie annähert: „Die Epik muß es nun mit der Zeit aufnehmen ... Es mit der Zeit aufzunehmen heißt nun: mit der Beschreibung und Darstellung der flüchtigen Einzigkeit des Augenblicks, der Unwiederholbarkeit des Moments als des wichtigsten jener Details, die die Unerfindbarkeit der Realität ausmachen. ... Die Zeit ist die Form des Unwiederbringlichen geworden ...“ (Blumenberg 1989, S.521f.)

Die von Blumenberg angesprochene „flüchtige Einzigkeit des Augenblicks“ ist letztlich – aufs Ganze gesehen – auch nichts anderes als Kittlers Rauschen, und die „Unwiederholbarkeit des Moments“ entspricht dem, was sich bei Kittler im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weigerte, „sich selbst zu schreiben“, bis die technologischen Medien kamen, um es zu speichern.

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