„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 11. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus 
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Wenn ich vom ‚aufgeklärten‘ Nihilismus spreche (vgl. meine Posts vom 04.04.2011 und vom 07.07.2011), will ich nicht auf einen amoralischen Nihilismus hinaus, der sich gegen die Sinn- und Werthaftigkeit des Lebens richtet. Wenn überhaupt ein Nihilismus in dieser Richtung ‚Sinn‘ macht, dann nicht gegen das Leben generell, sondern nur gegen das menschliche Leben, weil nur dieses zu einer so umfassenden, gegen sich selbst gerichteten Negation fähig wäre. Aber auch dieser Nihilismus ist nicht gemeint.

Ein aufgeklärter Nihilismus richtet sich vielmehr gegen zwei Tendenzen: gegen eine erkenntnistheoretische und gegen eine praxeologische. Im Sinne einer Kritik der Erkenntnistheorie richtet sich der aufgeklärte Nihilismus gegen den Versuch, Letztbegründungen für das Sein aufzustellen, gleichgültig, ob es sich dabei nun um Letztbegründungen im Diesseits oder im Jenseits handelt. Diesseitige Letztbegründungsversuche bestehen z.B. in der Suche nach einer physikalischen Weltformel oder in soziologischen und politischen Modellen perfekter Institutionen. Jenseitige Letztbegründungsversuche bestehen im Glauben an ein Endgericht oder in der Konstruktion einer Geschichtsphilosophie.

Jenseitige Letztbegründungsversuche beinhalten zweitens immer auch eine praxeologische Tendenz: das Diesseitige gegenüber dem Jenseitigen abzuwerten; es hat für sich selbst keinen Sinn, – nur im Blick auf das, was danach, im Jenseits also, kommt. Ein aufgeklärter Nihilismus verweist deshalb immer auf die Grundlosigkeit und Nichtrechtfertigbarkeit des Lebens. „(D)es Grundes nicht zu bedürfen, ist die Genauigkeit des Lebens selbst“, schreibt Blumenberg. (Vgl. Blumenberg 1989, S.168) Nihilismus ist der bewußte Verzicht auf das Fragen nach Letztbegründungen, ohne dabei aber die Notwendigkeit des Fragens nach dem Sinn menschlichen Lebens und des Versuchs, eine Antwort darauf zu finden, zu leugnen. Der Mensch lebt in der Spannung, daß ‚das‘ Leben keiner Rechtfertigung bedarf, er aber zugleich zutiefst sinnbedürftig ist. Allein seine kurze Lebensspanne und der damit verbundene beständig drohende Lebenszeitverlust (vgl. Blumenberg 1989, S.176) zwingt den Menschen zur Frage nach dem Ertrag: ob es das letztlich wert gewesen sein wird!

Blumenberg überträgt diese Problematik auf das Generationenverhältnis: „Aus der traulichen Idylle der Familie, der Besorgtheit der Eltern mit ihren Kindern, ist ein letztes und niemals auszugleichendes Schuldverhältnis geworden. Die ganze Nichtrechtfertigung des Lebens als solchen sich zurechnen zu lassen, können Eltern üblicherweise nicht zu einem adäquaten Ende bringen, auch wenn ihnen schon Kant entgegen aller klassischen und landläufigen Ethik auferlegt hatte, das ohne seine Einwilligung entstandene Wesen mit dem Faktum seiner Existenz auszusöhnen.“ (Blumenberg 1989, S.74) – Das ist der Keim eines neuen Verständnisses vom Generationenvertrag, das auch die elterliche Sorge für ein menschenwürdiges Nachleben der Neugeborenen (und noch Ungeborenen) umfaßt!

Zwei Momente der menschlichen Daseinsverfassung zwingen den Philosophen und Aufklärer deshalb zu einem ‚schonenden‘ Umgang mit dem Menschen (vgl. Blumenberg 1989, S.547): erstens gibt es keine Wirklichkeit jenseits der vom Menschen erlebten und wahrgenommenen Wirklichkeit. Wenn diese Wirklichkeit also nur eine Höhlenwelt darstellt, dann ist „uns jede vorgespiegelte so gut wie diese“. (Vgl. Blumenberg 1989, S.467) Es macht also überhaupt keinen Sinn, die bloße Scheinhaftigkeit – Metzinger würde sagen: Simulation – unserer Wahrnehmungswelt anderen Wirklichkeitsbehauptungen gegenüber abzuwerten, zu deren ‚Wirklichkeiten‘ wir ja ebenfalls keinen unmittelbaren Zugang haben. Deren behaupteter Wirklichkeitsbezug wäre sogar noch vermittelter, noch weniger ‚unmittelbar‘ als der unserer eigenen, für falsch erklärten Wahrnehmungswelt. Es gibt also keine Konkurrenz zwischen verschiedenen ‚Wirklichkeiten‘: es gibt nur die Wirklichkeit unserer Wahrnehmung!

Zweitens ist der Mensch Blumenberg zufolge „das der Versöhnung mit seinem Dasein bedürftige Wesen“ (vgl. Blumenberg 1989, S.356). Das bedeutet, daß die Philosophen seine Daseinsbedingungen nicht von vornherein entwerten dürfen. Sie müssen dem Menschen vielmehr dazu verhelfen, ein gutartiges Verhältnis zu diesen Daseinsbedingungen zu finden.

Dazu aber dient nun die philosophische Aufklärung, die vor allem eine Botschaft beinhaltet: den Verzicht auf Letztbegründungen, auf Ontologie, auf Metaphysik. An deren Stelle tritt die Anthropologie, als neue philosophische Königsdisziplin. (Vgl. Blumenberg 1989, S.811) Man könnte es auch so formulieren: in der Philosophie ist bislang zuviel vom Sein und von Wahrheit gesprochen worden, und zu wenig vom Menschen: „Das Schicksal des ‚Seinsbegriffs‘, der sich aus den grammatischen Vorgaben der Substantivierbarkeit von Infinitiv und Partizip mittels des Artikels im Griechischen wie dann wieder im Deutschen geradezu aufdrängte – dieser Abweg oder Umweg bietet sich nicht mehr an.“ (Blumenberg 1989, S.806)

Für die Vernunft, der Kant noch bescheinigt hatte, gar nicht anders zu können, als Letztbegründungsfragen nach dem Anfang der Welt zu stellen und nach Gottesbeweisen zu suchen, findet Blumenberg deshalb – mit Rückgriff auf Wittgenstein – eine wiederum überaus ironische Metapher: die Vernunft ist letztlich in keiner anderen Situation als die Fliege im Fliegenglas, die den Ausweg aus dem Glas heraus nicht findet. Was den Menschen nun von der Fliege unterscheidet, ist jetzt nicht etwa – das ist Blumenbergs herrliche ironische Wendung gegen Kant – seine Vernunft, sondern der Verzicht auf diese: „Nicht der Mensch, nur die Fliege ist so töricht, sich an der Glaswand zu stoßen, weil sie nicht zum Verzicht fähig ist, den das ‚reine‘ Zuschauen zur Bedingung hat. Weil sie die ‚Reduktion‘ nicht akzeptiert, ist sie Gefangene, unfrei von der ‚Existenz‘, unfähig zum ‚Wesen‘.“ (Blumenberg 1989, S.763) – Hier ist zwar zunächst nur von der Husserlschen Reduktion der ‚Existenz‘ die Rede, an deren Stelle die ‚Essenz‘ tritt. Aber im ganzen Kontext des Buches impliziert dieser Verweis auf die Notwendigkeit einer Reduktion noch einen anderen, verborgenen Sinn: auf die Reduktion von ‚Letztansprüchen‘ der theoretischen Vernunft, an deren Stelle eine praktische Vernunft der (Ver-)Schonung jener tritt, deren ‚Realismus‘ vor allem darin besteht, überleben zu wollen. Oder muß es heißen: überleben wollen zu müssen, im Sinne des neuen Generationenvertrags?

Dieser Realismus ist deshalb der letzte Wirklichkeitsbezug, der der Philosophie noch bleibt, – der gewissermaßen ‚übrig‘ bleibt, wenn man alle anderen Wirklichkeitsbezüge als Täuschungen und Betrügereien durchschaut hat: „Wirklichkeit ist das Residuum eines Eliminationsverfahrens. Im Grenzwert wäre es alles, was bleibt, wenn wir fähig wären, uns aller Arten und Formen von Unwirklichkeit zu entledigen.“ (Blumenberg 1989, S.806) – Diesen Test können wir übrigens viel leichter durchführen, als Blumenberg denkt: wir brauchen nur den Strom abzustellen. Was dann noch übrigbleibt, ist die Wirklichkeit! Was das bedeutet, erleben wir überall auf der Welt, wo Unwetter und andere Katastrophen uns das Stromabschalten abnehmen.

Aber selbst dieser Wirklichkeits-‚Rest‘ unterliegt einer historischen Relativierung und ist demagogischem Mißbrauch zugänglich. Von dieser Mißbrauchbarkeit der Wirklichkeitsreste als Überbleibseln kultureller Zusammenbrüche leben Apokalyptiker und Unheilspropheten: „Wenn auch der jeweilige ‚Rest‘ sich als ‚Wirklichkeit‘ behauptet, gibt es doch keine Garantie für seinen Bestand in dieser Auszeichnung. In jeder geschichtlichen Realität stecken die Anwärter für die Desillusionierungen aufs nächste Mal, auf den Tag der ‚Kritik‘. Der Richtwert der Wirklichkeit ist das Nichteinholbare. Darauf beruht auch und nicht zuletzt, daß jeder Realismus instrumentalisiert werden kann. Der des Höhlenausgangs wie der der Apokalypse mit ihrem Danach des ‚neuen Himmels und der neuen Erde‘.“ (Blumenberg 1989, S.807)

Wenn Blumenberg also dem Philosophen und Aufklärer eine schonende Behandlung des gleichermaßen unaufgeklärten wie trostbedürftigen Höhlenbewohners anempfiehlt – und Höhlenbewohner sind wir alle, wie Blumenberg im Durchgang durch die jahrtausendealte Geschichte der Interpretationen von Platons Höhlengleichnis zeigt –, so steckt darin doch noch immer ein letzter Hochmut gegenüber denen, die der Aufklärung nicht gewachsen sind. Es fehlt der Hinweis auf die Notwendigkeit eines individuellen Selbstverhältnisses zur eigenen Lebensweltlichkeit, wie ich sie in diesem Blog immer wieder als ausgewogenes Verhältnis von Naivität und Kritik beschrieben habe. Darauf soll in den folgenden Posts zu Blumenberg noch eingegangen werden.

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