„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie

(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)
 
Ähnlich wie bei dem Begriff des Korrelats habe ich mit dem Begriff der Prädisposition meine Probleme; und das vor allem, wenn es dabei um das menschliche Bewußtsein geht. Der Begriff der „Prädisposition“ suggeriert mehr, als daß er etwas erklärt. Wenn man für ein psychisches Phänomen keine ‚kausale‘ bzw. ‚anamnetische‘ Erklärung innerhalb eines situativen oder biographischen Kontextes findet, konstruiert man irgendwelche ‚Prädispositionen‘, auf die es zurückgeführt werden kann. ‚Dispositionen‘, die sich im Verlauf der Ontogenese einer Person gebildet haben, die individuelle Ausprägung ihres Charakters, werden dann noch einmal auf ‚Prä-Dispositionen‘ zurückgeführt, etwa ihren ‚Genen‘, in denen nun wieder dieser Charakter begründet werden kann.

So bilden genetische Prädispositionen gewissermaßen genetische ‚Korrelate‘ der Persönlichkeit. Wo neuronale Korrelate nur das Bewußtsein begründen können sollen, sollen genetische Prädispositionen sogar die Persönlichkeit begründen, nach dem Prinzip: je weiter man die erklärenden Faktoren zurückverlegt, um so höher hinauf reicht ihre erklärende Kraft.

Da auch Northoff gegenüber der kausalen Korrelierung von neuronalen Prozessen und Bewußtseinsprozessen skeptisch ist, will auch er auf der Suche nach den „notwendigen Bedingungen“ (2012, S.121) des Bewußtseins auf eine fundamentalere Ebene hinaus. Dabei denkt er aber nicht an die Genetik, sondern wiederum an „neuronale Voraussetzungen“, die er nun als „Prädispositionen“ bezeichnet: „Prädispositionen sind Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um etwas möglich zu machen. Das sind die neuronalen Prädispositionen.“ (Ebenda) – Bezogen auf das Bewußtsein müssen die neuronalen Prädispositionen also folgende Frage beantworten: „Was sind die Prozesse im Gehirn, die es notwendig machen, dass Bewusstsein entsteht, dass das Gehirn nicht anders kann als Bewusstsein hervorzubringen?“ (2012, S.124)

Da stellen sich mir gleich zwei weitere Fragen: inwiefern können „neuronale Prädispositionen“ etwas anderes sein als „neuronale Korrelate“, und: kämen noch andere, nicht-neuronale Prädispositionen in Betracht? Zur ersten Frage wissen wir inzwischen aus den vorausgegangenen Posts, daß die neuronalen Prädispositionen, auf die Northoff hinaus will, in der statistisch basierten Umwelt-Gehirn-Einheit liegen. Die aufgrund der neuronalen Prozesse insbesondere im mittleren Ring ermöglichten Verbindungsleistungen des Gehirns bilden die notwendigen neuronalen Voraussetzungen: die Prädisposition des Gehirns für Bewußtsein. Diese Prädisposition ist zwar immer noch neuronal, aber statistisch basiert, d.h. sie beruht auf einem homöodynamischen Prozeß, der aus einer Vielzahl von neuronalen und umweltlichen Faktoren besteht und somit die beschränkte neuronale Binnenorientierung der Neurophysiologie übersteigt (transzendiert).

Was die zweite Frage betrifft, weist Northoff selbst auf eine weitere, nicht-neuronale Prädisposition hin, – auf den Metabolismus (Stoffwechsel): „Die Stärke des Metabolismus im Ruhezustand entscheidet über die An- oder Abwesenheit von Bewusstsein.“ (2012, S.201) – ‚Metabolismus‘ bedeutet nichts anderes als Stoffwechsel, und dabei geht es um den Energieverbrauch des Gehirns. Letztlich geht es um homöodynamische Prozesse der Stabilisierung der Funktionalität des Gehirns. Was aber braucht das Gehirn dafür? – Einen Körper bzw. einen Organismus!

An dieser Stelle sind wir bei Plessner, denn Stoffwechselprozesse und ihre Homöodynamik bilden bei ihm den Anknüpfungspunkt einer Anthropologie der exzentrischen Positionalität und der Doppelaspektivität von Innen und Außen. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.127-132, 199 und meinen Post vom 22.10.2010) Plessners Konzept des „Körperleibs“, das in seiner Struktur der Körper-Leib-Einheit der Northoffschen Umwelt-Gehirn-Einheit gleicht, bildet demnach eine nicht-neuronale Prädisposition für Bewußtsein. Und ihr Vorteil ist, daß hier das Gehirn in der Einheit des Organismus, als Organ unter Organen, mitgedacht ist.

Zugleich bildet es mit den übrigen Organen einen Antagonismus, eine Gegenüberstellung. Und dieser Antagonismus geht über Northoffs Hängematte weit hinaus. In der Einheit des Organismus teilen wir nämlich dasselbe unmittelbare Bewußtsein mit den Tieren. Erst in der Gegenüberstellung von Gehirn und Körper, als Antagonismus bzw. als Streit, entsteht das eigentliche menschliche Bewußtsein, das der Vermittlung mit sich selbst bedarf: als vermittelte Unmittelbarkeit. Dabei hielt sich Plessner etwas darauf zugute, daß er auf diese Weise die organischen Bedingungen des menschlichen Bewußtseins ohne Zuhilfenahme metaphysischer Annahmen beschreiben konnte.

Wenn wir also von Prädispositionen des menschlichen Bewußtseins sprechen, greifen genetische Prädispositionen zu weit zurück; sie betreffen lediglich die biologische Entwicklungsebene der Gattung. Neuronale Prädispositionen greifen zu kurz; weil sie nur einige der biologischen (neurophysiologischen) Bedingungen der individuellen Entwicklung betreffen. Aber auch Northoffs Umwelt-Gehirn-Einheit greift zu kurz, weil sie den Körper nicht berücksichtigt. Nur der Körperleib umfaßt alle Entwicklungsbedingungen der menschlichen Person, sowohl Phylogenese (Biologie und Kultur) wie Ontogenese (Individuum). (Vgl. meine Posts vom 21.04.2010 und vom 30.01.2012) Nur in dieser Zusammenstellung macht es Sinn von Prädispositionen des menschlichen Bewußtseins zu sprechen.

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