„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 28. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie
 
(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)
 
In „Das Mich der Wahrnehmung“ (2009) spricht Lambert Wiesing vom Primat der Wahrnehmung gegenüber jedem Versuch, Wahrnehmung entweder in Richtung auf das Wahrnehmungssubjekt (hermeneutische bzw. interpretative Wahrnehmungstheorien) oder in Richtung auf das Wahrnehmungsobjekt (empirische Wahrnehmungstheorien) aufzulösen. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2010) Neurowissenschaften würden hier zu den empirischen Wahrnehmungstheorien gehören, weil sie das bewußte Wahrnehmungserleben auf Mechanismen der neurologischen Codierung von Sinnesreizen zurückführen.

Statt also das Wahrnehmungserleben in seine subjektiven und objektiven Elemente zu zergliedern, wird unter dem Primat der Wahrnehmung diese als eine Teil-Ganzes-Beziehung thematisiert, in der sich das Bewußtsein und die Welt nicht voneinander trennen lassen, sondern Pole – oder eben ‚Korrelate‘ im anthropologischen Sinne dieses Wortes (vgl. meinen Post vom 27.07.2012) – bilden. Deshalb bezeichnet Wiesing dieses Bewußtsein auch gar nicht erst als ‚Ich‘, sondern als ‚Mich‘ der Wahrnehmung. Das ‚Ich‘ tritt hier nicht als Subjekt (und Konstrukteur) in den Blick, sondern bildet selbst ein Akkusativ-Objekt des Wahrnehmungserlebens. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit kommt auf dieses ‚Mich‘ zu, sie überfällt es regelrecht, vereinnahmt es und macht es wehrlos. Sie beraubt das ‚Ich‘ seiner subjektiven Souveränität. Blumenberg würde hier vom „Absolutismus der Wirklichkeit“ sprechen. Mayer-Drawe spricht vom „Vollzug“. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012)

Das ist die Essenz der Wirklichkeitserfahrung. Wir sind ihr ausgeliefert. Wir sind selbst nur ein Teil der Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit vereinnahmt ‚mich‘ in Form der Wahrnehmung.

Dieser Teil-Ganzes-Beziehung der Wahrnehmung entspricht die Gestaltwahrnehmung, wie sie Plessner und Husserl als eine Verschachtelung von Innen- und Außenhorizonten beschreiben. (Zur Gestaltwahrnehmung vgl. meine Posts vom 21.06.201013.07.2010 und vom 05.08.2010; zur Verschachtelung von Horizonten vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Plessner spricht hier vom Transgrendienzcharakter der Phänomene. Die Phänomene, z.B. raumzeitliche Körperdinge ‚transgredieren‘ (überschreiten) die aktuelle Wahrnehmung in zwei Richtungen: nach außen in Richtung auf momentan nicht sichtbare Rückseiten. Dazu würden übrigens auch die von Northoff angesprochenen Tischbeine gehören, auf die die freie Sicht durch die Tischplatte verdeckt wird. Dennoch sehe ich in diesem Moment nicht nur eine ‚Tischplatte‘, sondern ich gehe ganz selbstverständlich davon aus, daß dieser Tisch nicht nur aus einer Tischplatte, sondern auch aus Tischbeinen besteht. Ich sehe also nicht nur eine ‚Tischplatte‘, sondern einen Tisch.

Außerdem transgredieren die Phänomene nach innen in Richtung auf ihre innere Beschaffenheit. Ich sehe z.B. einen Tisch aus Holz: Fichte, Kiefer, Kirsch, – was auch immer für eine Holzsorte mir dabei in den Blick kommt. Wenn ich den Tisch dann aber im Raum verrücken will und ihn anhebe, stelle ich vielleicht aufgrund seines Gewichts oder vielleicht, weil er auf eine bestimmte Weise ‚wackelig‘ ist und die Schrauben beim Versuch, die losen Teile zu festigen, nicht richtig greifen, fest, daß Tischplatte und Beine aus Spanholz bestehen. Nun muß ich meine bisherige Vollholz-Wahrnehmung korrigieren und in eine Spanholz-Wahrnehmung umwandeln.

Das ist aber nur scheinbar ein souveräner Akt: tatsächlich werde ich von der Spanholz-Wahrnehmung genauso in Anspruch genommen wie von der vorherigen Vollholz-Wahrnehmung. Ich kann die Enttäuschung meiner Vollholz-Wahrnehmung nicht einfach rückgängig machen. Natürlich kann ich sie ignorieren und irgendwann ‚vergessen‘, – bis ich mich das nächste Mal an den wackligen Tisch setze und mich wieder über die schlechte Qualität ärgere. Letztlich bin ich unfrei gegenüber der Wirklichkeit des Spanholz-Tisches.

Die von Northoff angesprochene Einheit des Bewußtseins gibt es nicht unabhängig von der Wahrnehmung von Objekten. Objekte nehme ich nie nur als isolierte Sinnesreize wahr, sondern immer als Gestalt. Die Gestalt nehme ich aber nicht als beliebig manipulierbar wahr, – außer natürlich in Ausnahmefällen wie der Rubin-Illusion, bei der ich ein Gebilde mal als Vase, mal als Gesicht wahrnehme (zur bistabilen Wahrnehmung vgl. auch Northoff 2012, S.49, 96f.). Es geht also letztlich nicht nur darum, die Einheit des Bewußtseins in einer Vielheit von Objekten zu verstehen, wie es Northoff darstellt, sondern es geht schon darum die Einheit des Bewußtseins in einer Vielheit der Perspektiven auf ein und dasselbe Objekt zu verstehen.

Dazu dient den Phänomenologen aber nun nicht die genetische Methode der Rückführung des Wahrnehmungserlebens auf physiologische Funktionen, sondern das Verfahren der freien Variation. Husserl spricht hier auch von Ideation oder von ‚Wesensschau‘. Es handelt sich dabei um ein meditatives Verfahren des spielerischen Manipulierens von Phänomenen, um herauszufinden, was ‚geht‘ und was nicht ‚geht‘. Bis zu welcher Grenze gelingt es mir, willkürlich Vorstellungen von Gegenständen zu erzeugen, ohne daß dabei der Eindruck einer möglichen Wahrnehmung, also ihrer Realität, verloren geht? Auch dies ist eine indirekte, transzendentale Methode. Sie ist ‚indirekt‘, weil sie von der tatsächlichen Existenz der imaginierten Gegenstände absieht. Husserl nennt das ‚Reduktion‘. Und sie ist transzendental, weil sie so auf wesentliche Strukturen der Gestaltwahrnehmung kommt.

Auch Husserl spricht vom transzendentalen Subjekt. Auch hier gilt, daß es sich dabei nur um eine Denknotwendigkeit handeln kann und nicht um ein empirisches Faktum oder Datum. Mit Plessner – und mit Wiesing – gehe ich allerdings davon aus, daß die Einheit des Bewußtseins direkt mit der Gestaltwahrnehmung selbst zusammenhängt. Um ein einheitliches Objekt inklusive seiner nicht-sichtbaren Rückseiten wahrzunehmen, bedarf es der Einheit des Bewußtseins, die nirgendwo anders begründet ist als in der Wahrnehmung selbst.

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