„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 29. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie
 
(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)
 
Northoff unterscheidet zwei ‚Gehirne‘. Zunächst ist da die neuronale Einheit des Gehirns selbst: „Die neuronale Einheit des Gehirns zeichnet sich durch räumlich-zeitliche Kontinuität über die verschiedenen Regionen und Zeitpunkte hinweg im Gehirn selbst aus. Dabei ist die räumlich-zeitliche Kontinuität rein neuronaler Natur.“ (2012, S.179f.) Von dieser neuronalen Einheit des Gehirns unterscheidet Northoff die Umwelt-Gehirn-Einheit: „Diese räumlich-zeitliche Kontinuität haben wir dann ausgedehnt über die Beziehung zwischen Gehirn und Umwelt. Das wurde dadurch möglich, dass die räumlich-zeitliche Kontinuität nicht mehr rein neuronal, sondern statistisch begründet wurde.“ (2012, S.180)

Im Gespräch zwischen dem Studenten und Kant hält letzterer fest, daß es sich hier um zwei völlig verschiedene Gehirne handelt: „Dann aber müssen Sie die beiden Dinge, Gehirn allein und Gehirn im Kontext der Umwelt auch begrifflich unterscheiden. Einheit des Gehirns und Einheit von Umwelt und Gehirn.“ (2012, S.257)

Mit dem ersten Gehirn, dem Gehirn in seiner neuronalen Einheit für sich selbst, beschäftigt sich der Mainstream der heutigen Neurowissenschaftler. Bei allen ihren Bemühungen gelangen sie nie weiter als bis zur Bestimmung des Gehirns als „globaler Arbeitsplatz“: „Bewusstsein wird im wesentlichen als Integration verstanden. Die räumliche und zeitliche Globalisierung macht die Integration von verschiedenen Informationen möglich, und das wiederum bringt Bewusstsein hervor. ... Bewusstsein muss daher im Wesentlichen eine Globalisierungs- und Integrationsleistung des Gehirns sein, eine Integration von Informationen mittels Globalisierung: Je mehr Integration möglich ist, desto stärker ist das Bewusstsein. Verfügbarkeit von Informationen als Korrelat des Bewusstseins.“ (2012, S.132)

Northoff teilt bis hierhin durchaus den Standpunkt seiner Kollegen. Aber der Begriff der ‚Integration‘ greift ihm letztlich zu kurz. Er bezieht sich nur auf die Verbindung unterschiedlicher regionaler Funktionen ‚innerhalb‘ des Gehirns selbst. Auch dem Gehirn selbst genügt diese innere Integration nicht. Es ist süchtig nach weiteren Verbindungen: „Unser Gehirn funktioniert so, dass es immer verbinden will. Es kann nicht anders. Verbinden auf Gedeih und Verderb.“ (2012, S.287) – Und deshalb begnügt es sich nicht mit der inneren Integration neuronaler Prozesse, sondern sucht auch die Verbindung von „(s)ich selbst mit der Umwelt“. (Vgl. ebenda)

Northoff bewertet nun die zwei Gehirne, das Gehirn der Neurowissenschaftler und die Umwelt-Gehirn-Einheit: bei dem einen haben wir es mit dem beobachteten Gehirn und bei dem anderen mit dem eigentlichen, dem noumenalen oder dem funktionierenden Gehirn zu tun. (Vgl. 2012, S.270) Kurz: das Gehirn der Neurowissenschaftler ist eigentlich gar nicht das richtige Gehirn. Oder anders: Das reine Gehirn, das Gehirn in seiner Nährlösung, ist kein Gehirn.

Northoff hat zwei Gründe für diese Feststellung: einen empirischen und einen transzendentalen. Der empirische Grund besteht in Pathologien wie der Schizophrenie. In der Schizophrenie ist die Einheit des Bewußtseins zerbrochen: man hört Stimmen, man sieht Dinge, die nicht real sind. Dafür gibt es Northoff zufolge zwei verschiedene Erklärungsmöglichkeiten. Psychiater wie Josef Parnas und Louis Sass gehen von einer defizitären Subjektivität aus: „Sie kennzeichnen die Schizophrenie durch einen Verlust des Subjektiven, der Subjektivität: Die Wahrnehmung ist nicht mehr subjektiv durch das eigene Selbst geprägt. ... Schizophrenie ist also eine Störung der Selbstbezogenheit beziehungsweise des subjektiven Selbst.“ (2012, S.241)

Andere gehen von einem gestörten Körpererleben aus: „Der italienische Psychiater Giovanni Stanghellini und der schweizerische Psychiater Christian Scharfetter sehen die Störung des subjektiven Körpererlebens als zentral in der Schizophrenie an: Wenn wir unseren eigenen Körper nicht mehr als selbstbezogen und somit als subjektiv erleben, können wir auch kein kohärentes Ich, kein subjektives Selbst, mehr entwickeln.“ (2012, S.241f.)

Northoff selbst vereint beide Ansätze, indem er auf Befunde verweist, daß bei Schizophrenen die für den Ruhezustand des Gehirns wichtigen Mittellinienstrukturen unterbrochen sind. Dieser Bereich des mittleren Rings ist aber funktional für unsere Fähigkeit, Ereignisse auf uns selbst zu beziehen. Northoff spricht von einem „spezielle(n) Sensorium für Selbstbezogenheit“ in den „Mittellinienregionen“. (Vgl. 2012, S.231) – Unterbrochene Mittellinienstrukturen verweisen also auf einen gestörten Selbstbezug: innere Stimmen, die ich höre, stammen nicht mehr von mir selbst und werden nach außen projiziert. Statt eines meine inneren Stimmen begeleitenden ‚Ich denke‘ assoziiere ich mit ihnen also nur ein ‚Jemand spricht‘.

Daß diese inneren Stimmen überhaupt hörbar werden, hat nun wiederum mit der zerbrochenen Umwelt-Gehirn-Einheit zu tun. Aufgrund der gestörten Verbindung mit der Umwelt gerät die Balance der inneren neuronalen Prozesse außer Kontrolle. Wo gesunde Menschen normalerweise schlafen und träumen, tauchen bei Schizophrenen jetzt auch im Wachzustand Vorstellungen und Bilder aus ihrem Unterbewußten auf, die sie jetzt aufgrund der unterbrochenen Mittellinienstrukturen nicht mehr mit sich selbst verbinden können. – Das hört sich für mein laienhaftes Verständnis durchaus plausibel an: unterbrochene Mittellinienstrukturen (gestörter Selbstbezug) und gestörte Umwelt-Gehirn-Einheit (gestörter Körperbezug) führen zur Schizophrenie.

Aus diesem empirischen Befund schlußfolgert Northoff, daß das eigentliche Gehirn das funktionierende Gehirn ist, also die statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit. Wie es im Detail wirklich funktioniert, ist dabei nicht wichtig. Jede Erklärung einzelner Gehirnfunktionen – ohne Bezug zur Umwelt – verbleibt im Bereich der Beobachtung, also beim beobachteten Gehirn. Ich finde Northoffs Differenzierung auch deshalb so bemerkenswert, weil wir auf diesem Weg von der wirklich bedenklichen Redeweise über ‚Korrelate‘ wegkommen. (Vgl. meinen Post vom 09.03.2011) Gehirnfunktionen sind keine Korrelate des Bewußtseins, sondern sie sind für unser Bewußtsein funktional oder eben nicht funktional. Von Funktionalität zu sprechen, schränkt das Bewußtsein nicht so sehr auf einzelne neuronale Prozesse ein, wie man ja auch an der Umwelt-Gehirn-Einheit sieht. Das Gehirn funktioniert nicht für sich selbst, sondern nur in Verbindung mit seiner Umwelt, – zu der selbstverständlich auch der Körper gehört. Letztlich ist er es, der über die ‚Haut‘ die Grenze zwischen innen und außen markiert.

Der andere Grund, warum Northoff das eigentliche Gehirn an der Umwelt-Gehirn-Einheit festmacht, ist ein transzendentaler. Für den ‚Gehirnzwang‘, nicht nur innere neuronale Prozesse zu integrieren, sondern sich mit einer Umwelt zu verbinden, verweist Northoff auf Kants Begriff der Synthese. Kant unterschied zwischen zwei verschiedenen Bewußtseinsprozessen: der Analyse und der Synthese. Das analytische Bewußtsein arbeitet sich an Begriffen und Erfahrungen ab und kommt dabei auch zu wichtigen Erkenntnissen. So können wir z.B. durch analytische Methoden feststellen, inwieweit unser Wissensbestand überhaupt gesichert ist. Wir können analytisch Vorurteilen und Irrtümern auf die Spur kommen. Aber eines kann das analytische Bewußtsein nicht: dem vorhandenen Wissen neues Wissen hinzufügen.

Das können wir nur über die Wahrnehmung, also über die ‚Verbindung‘ mit der Außenwelt. Die Wahrnehmung ist ‚synthetisch‘: sie fügt vorhandenen Erfahrungen neue Erfahrungen hinzu. So ist also auch das Gehirn süchtig nach Verbindungen, insbesondere mit seiner Umwelt: „Kant diskutiert immer wieder die Verbindung zwischen dem reinen Bewusstsein und den Gegenständen der Umwelt. Diese Verbindungsleistung nennt er Synthese. ... Er (der dynamische Prozeß der Synthese – DZ) bringt Objekte und Gegenstände im Bewusstsein hervor, aus den sensorischen Stimuli der Umwelt. ... Kant nennt den Vollzug dieser Synthese ‚denken‘. Für ihn webt es die Verknüpfung zwischen der Mannigfaltigkeit des Sinnlichen und der Einheit des Bewusstseins (des Verstandes). ... Durch die Synthese werden die Stimuli der Umwelt mit dem Bewusstsein des Verstandes verknüpft und verwoben.“ (2012, S.273)

Northoff stellt also die Verbindungsleistungen des Gehirns als statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit auf eine Ebene mit dem Kantischen Begriff der Synthese. Auch hierin ist also das funktionierende Gehirn für Bewußtsein funktional.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen