„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 26. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6.Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie
 
(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)

Das Bewußtsein läßt sich mit den direkt beobachtenden Methoden der Neurophysiologie nicht untersuchen, wie Georg Northoff festhält. (Vgl. 2012, S.37) Inwiefern allerdings die bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie überhaupt als eine solche direkte Beobachtungsmethode bezeichnet werden können, habe ich schon unter dem Stichwort der ‚narrativen Mathematik‘ in Frage gestellt. (Vgl. meinen Post vom 31.08.2011) Während es aber bei Gehirnfunktionen nur ein technologisches, jedoch kein prinzipielles Problem des direkt beobachtenden Zugangs zu ihnen gibt, gibt es bei Bewußtseinsphänomenen, abgesehen von der Introspektion (Meditation), ein prinzipielles Problem. Kants Antwort darauf ist die transzendentale Methode, auf die ich im nächsten Post noch zu sprechen kommen werde.

Eine andere Möglichkeit des indirekten Zugangs zum Bewußtsein als Untersuchungsgegenstand besteht im Erzählen von Gleichnissen. Das ist eine Spezialität von Hans Blumenberg. Der Titel des letzten Buches, „Höhlenausgänge“, das hier besprochen wurde, beinhaltet schon so ein Gleichnis: das Bewußtsein als Höhle bzw. das Bewußtsein an der Schwelle des Höhlenausgangs. Das nach wie vor beste Buch zur heuristischen und didaktischen Funktion von Beispielgeschichten, das ich kenne, stammt von Günther Buck: „Lernen und Erfahrung“ (3/1989).

Auch Northoff wählt zwei Varianten zur Höhlenmetapher: er spricht von der Containertheorie des Bewußtseins, die er Newton und Leibniz zuordnet (vgl. 2012, S.23f.), und von der Tunneltheorie des Bewußtseins, die er Kant zuordnet (vgl. 2012, S.24f.). Die Containertheorie soll den Gedanken veranschaulichen, daß sich das Bewußtsein irgendwo drinnen befindet, so daß der beobachtende Blick von außen auf undurchdringliche Wände stößt. Das Gehirn wäre so ein Container, und es stellt für den Beobachter eine black box dar. Leibniz würde dem noch die Variante des Containers im Container hinzufügen, weshalb Northoff ihn als Vertreter einer „Doppelcontainertheorie“ bezeichnet. (Vgl. Northoff 2012, S.24) Diese verweist auf die Notwendigkeit, im Gehirn selbst noch einmal nach einem ‚Ort‘ zu suchen, das im besonderen Maße für Bewußtseinsprozesse empfänglich ist. Northoff spricht hier von einem „Nest im Container der Welt“, das sich das Bewußtsein gebaut hat. (Vgl. 2012, S.25) – Northoff wird später auf diesen Gedanken zurückkommen und statt von einem „Nest“ von einer „Hängematte“ sprechen. (Vgl. 2012, S.169-185)

Die Metapher vom Nest, das sich das Bewußtsein im Gehirn gebaut hat, könnte man noch ausbauen. Dann wäre das Bewußtsein ein Vogel, der nicht immer zuhause ist. Er fliegt gelegentlich weg, am liebsten nachts, und kommt erst am frühen Morgen wieder.

Bei der Tunneltheorie, die Northoff Kant zuordnet, geht es weniger um den Blick von außen auf das Bewußtsein, sondern von innen, also vom Bewußtsein her, auf die Welt. Hier erzählt Northoff die Geschichte von den Urlaubern, die durch den Gotthardttunnel nach Italien in die Ferien fahren. (Vgl. 2012, S.25) Wenn die Urlauber aus dem Norden den Tunnel hinter sich haben und in Italien ankommen – an das Licht der Sonne gewissermaßen (siehe Platons Höhlengleichnis) – haben sie sich verwandelt. Man könnte sagen: sie sind aus dem nördlichen Reich der Schatten in das südliche Reich der Farben und des Lichts gefahren und so zur Welt gekommen. So ergeht es Northoff zufolge auch den verschiedenen Sinneswahrnehmungen, wenn sie im Gehirn ankommen: „Sie sind nun nicht mehr voneinander getrennt, sondern zu Objekten oder Ereignissen im Bewusstsein zusammengefügt. Ihre verschiedenen Punkte in Raum und Zeit sind zu einem Kontinuum geworden: dem räumlich-zeitlichen Kontinuum des Bewusstseins.“ (2012, S.25)

Das schönste Beispiel, das Northoff für das Bewußtsein findet, ist, wie ich finde, der Füllbraten. (Vgl. 2012, S.104ff., 111f.) Dieses Beispiel ist deshalb so gelungen, weil es die vielen verschiedenen Momente bei der Entstehung von Bewußtsein so schön beschreibt, die dann schließlich als Zutaten beim Schmoren im „Backofen der Subjektivität“ (2012, S.112) zur Einheit des Bewußtseins zusammengefügt werden. Diese Einheit des Bewußtseins besteht letztlich darin, daß der fertige Füllbraten schmeckt: „Die Wahrnehmung des Gegenstands im Bewusstsein entspricht also dem individuellen Geschmack des Bratens. Wohingegen das, was Bewusstsein genannt wird, der Geschmack an sich ist, unabhängig von einem bestimmten Gegenstand wie dem Braten.“ (2012, S.111f.)

Allerdings finde ich, daß Northoffs ‚Füllbraten‘ eben nicht zeigt, daß es so etwas wie einen Geschmack an sich gibt, so wenig wie es ein Bewußtsein an sich ‚gibt‘, im empirischen Sinne dieses Wortes, als handelte es sich um ein Datum oder einen Gegenstand, auf den man nur zu zeigen braucht. Jede Geschmackswahrnehmung muß mindestens von der Vorstellung eines ‚Bratens‘ begleitet sein können – etwa wie ein Verhungernder, der von einem Füllbraten träumt –, um als Geschmack empfunden werden zu können. Es bedarf also entweder des tatsächlichen Anblicks oder Geruchs eines Füllbratens oder einer inneren Vorstellung, eines Tagtraums, um eine Geschmacksempfindung zu wecken. So sehr also das ‚Ich denke‘ (bzw. ‚Ich schmecke‘) jede Vorstellung begleiten können muß, muß auch irgendeine Vorstellung jedes Denken (bzw. Schmecken) begleiten können, weil es sonst weder ein Denken noch ein Schmecken ‚gäbe‘! – Das gehört übrigens zur Homunculus-Problematik, auf die ich in einem späteren Post noch zu sprechen kommen werde.

Um die indirekte Methode der transzendentalen Kritik zu veranschaulichen, konstruiert Northoff das Beispiel von der Tischplatte und den Tischbeinen (vgl. 2012, S.38f.), das mich übrigens wieder ein wenig an Platons Höhlengleichnis erinnert. Da sitzt jemand an einer Tischplatte und fragt sich, ob sich unter der Platte auch Tischbeine befinden. Er scheint wie die Höhlenbewohner auf seinem Stuhl gefesselt zu sein, denn anstatt einfach nachzuschauen, muß er umständlich darüber nachdenken: „Sie benutzen die Platte, die Sie sehen und beobachten können, ganz normal als eine Tischplatte. Sie sitzen auf einem Stuhl an dieser Platte, auf die sie dieses Buch gelegt haben, um darin zu lesen. Wodurch aber ist es möglich, dass Sie eine bloße Platte wie einen Tisch benutzen? Sie haben sie gesehen und geschlussfolgert, dass sie so etwas wie Tischbeine aufweisen muss. Ihre Platte kann, das wissen Sie, nicht im luftleeren Raum schweben. Die Tischbeine sind die Voraussetzung beziehungsweise die notwendige Bedingung der Möglichkeit für Ihre Verwendung der Platte als Tisch. Obwohl Sie es selbst nicht beobachten können, können Sie dennoch erkennen, dass Ihre Platte Tischbeine aufweisen muss. Sie haben also eine Schlussfolgerung vom Endpunkt auf den Anfangspunkt gezogen. Damit haben Sie eine transzendentale Methode angewendet.“ (2012, S.39)

Dieses Beispiel ist wichtig für die ganze weitere Argumentation. Denn einerseits zeigt Northoff klar, wie sehr sich die transzendentale Methode durch ihr indirektes Verfahren der Schlußfolgerung von empirischen und transzendenten Methoden unterscheidet. Andererseits aber bewegt sich Northoff mit diesem Beispiel von der sichtbaren Tischplatte und den unsichtbaren Tischbeinen im selben Raum wie die Empirie. Die Tischbeine sind nicht prinzipiell unsichtbar. Aus welchen Gründen auch immer jemand, der an einem Tisch sitzt, nicht in der Lage sein mag, einfach nachzuschauen, was es mit den Tischbeinen auf sich hat: keiner dieser Gründe behindert ihn prinzipiell, sondern nur umständehalber.

Wenn es Northoff also darum ging, zu zeigen, wie die transzendentale Methode funktioniert, ist ihm das Beispiel mißlungen: es hinkt, wie man so schön sagt. Ging es ihm aber darum, darzulegen, wie er im weiteren Verlauf des Buches selber vorzugehen gedenkt, paßt es sehr genau. Northoffs Beispiel legt schon nahe, daß man beim Gehirn nur auf die richtige Weise hinzuschauen brauche, um das bislang unsichtbare Bewußtsein so zu sehen, wie wir auch die Tischbeine sehen könnten, sobald sich die Umstände entsprechend geändert haben.

Zum Schluß möchte ich noch auf ein Problem zu sprechen kommen, das ich immer beim Lesen von naturwissenschaftlichen Büchern habe. Die Darstellungen von Experimentalanordnungen sind oft verkürzt und detailarm (oder im Gegenteil zu detailreich), und die Schlußfolgerungen, die aus diesen Experimenten gezogen werden, erscheinen mir oft als so beliebig, daß im Grunde auch das Gegenteil daraus geschlossen werden könnte. Dann verstehe ich weder die Experimentalanordnung noch die Schlußfolgerungen der betreffenden Forscher. So geht es mir auch gelegentlich mit Northoffs Experimentalbeschreibungen. So beschreibt er z.B. ein Experiment mit Affen, denen Vordergrund- und Hintergrundstimuli geboten werden. (Vgl. 2012, S.152f.) Das wäre eigentlich eine höchst interessante Studie zur Gestaltwahrnehmung bei Tieren. Aber dabei ist so viel von Frequenzen und Schwingungen und Deltaphasen etc. die Rede, daß mir beim Lesen des Textes der Sinn des Experiments verloren gegangen ist. Vor allem, was ich besonders bedauerlich finde, die Frage, wie die Experimentatoren die Affen dazu gebracht haben, Vordergrundstimuli von Hintergrundstimuli zu unterscheiden und wie sie überhaupt um den Erfolg dieser Gestaltdifferenzierung in der Wahrnehmung der Affen wissen können, wird weder beantwortet noch überhaupt gestellt.

Nicht ganz so gravierend ist das Problem sicherlich bei menschlichen Versuchspersonen. Eine ganz ähnliche Versuchsanordnung wurde auch bei Menschen durchgeführt. (Vgl. 2012, S.161f.) Hier ging es darum, Töne zu unterscheiden, die mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten zum Hören eines „Zieltons“ führten. Auch hier werden wieder viele Begriffe wie Frequenzen, Schwingungen, Amplituden etc. präsentiert, die mich ehrlich gesagt nicht sonderlich interessieren. Ich begnüge mich da mit dem allgemeinen Eindruck, daß das schon alles irgendwie stimmen wird. Was mir aber wirklich wichtig ist, läßt Northoff auch hier einfach – um im Bild mit der Tischplatte zu bleiben – unter den Tisch fallen: die Frage nämlich, wie man die Versuchspersonen darauf ‚konditioniert‘ hat, unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten zu erkennen! Letztlich wird nämlich von dem konditionierten Verhalten der Versuchspersonen auf bewußtseinsförmige Prozesse im Gehirn geschlossen. Und die Differenz zwischen Konditionierung und Bewußtsein sollte doch dabei auch eine Rolle spielen.

Das ist der Grund, warum ich mich in meinen Kommentaren zu Northoffs Buch mehr auf seine Beispielgeschichten und philosophischen Argumentationen beziehen werde, als auf die zahlreichen neurophysiologischen Erkenntnisse, die er präsentiert.

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