„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. Juni 2012

Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (2008)

(I: Warum wir kooperieren; 1. Zum Helfen geboren (und erzogen) (S.19-48); 2. Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen (S.49-81; 3. wo sich Biologie und Kultur treffen (S.82) // II: Forum; Joan B. Silk (S.87-94); Carol S. Dweck (S.95-101); Brian Skyrms (S.102-107); Elizabeth S. Spelke (S.108-123))

1. Methode
2. Rekursivität und institutionelle Realitäten
3. Rekursivität und Roboter
4. Mutualität versus Altruismus?

Tomasellos Bestimmung der anthropologischen Differenz, die er am „einzigartige(n) ‚Wir‘-Gefühl der Menschen“, am „Sinn für geteilte Intentionalität“ festmacht (vgl. Tomasello 2010, S.53), wirft die Frage nach dem Verhältnis von individueller und kollektiver ‚Intelligenz‘ auf. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang immer lieber von ‚Bedürfnissen‘ als von ‚Intelligenz‘. (Vgl. meinen Post vom 01.01.2011) Auch Tomasello stellt die Frage nach dem individuellen und sozialen Umgang des Menschen mit seinen Bedürfnissen: „Alle lebensfähigen Organismen müssen eine egoistische Ader haben und sich um ihr eigenes Wohlergehen und Überleben sorgen, andernfalls würden sie nicht viele Nachkommen hinterlassen. Menschliche Hilfsbereitschaft und unser Wille zur Kooperation bauen sozusagen auf diesem grundlegenden Eigeninteresse auf.“ (Tomasello 2010, S.20)

Die mit den grundlegenden Bedürfnissen verknüpfte Überlebensfrage ist also nicht gleichgültig für die Frage nach der anthropologischen Differenz, also nach der Menschlichkeit des Menschen. Das hat schon ein anderer, großer Philosoph vor zweieinhalb Jahrhunderten so gesehen: Rousseau. (Vgl. meinen Post vom 17.03.2012) Tomasello verweist kurz auf Rousseau, indem er ihn mit Hobbes vergleicht und eine Opposition zwischen beiden aufmacht, in der Rousseau für die kooperative Natur des Menschen steht und Hobbes für die egoistische Natur des Menschen. (Vgl. Tomasello 2010, S.19 und 46) Auch Joan B. Silk schreibt im Forum: „Die stag hunt ist ein Rousseausches Ideal, in der Natur jedoch möglicherweise nicht sehr verbreitet.“ (S.90)

Aber Rousseau baut seine Anthropologie nicht etwa auf der kooperativen Natur des ‚Wilden‘ auf, sondern auf seiner ursprünglich solitären Lebensweise. Unter den Bedingungen dieser Lebensweise ist er gut, weil er sich alle seine Bedürfnisse selbst befriedigen kann und eben nicht kooperieren muß. Er ist in seiner Bedürfnisbefriedigung nicht abhängig von der Hilfeleistung anderer. Die „stag hunt“, von der Silk spricht, also die Hirschjagd, beinhaltet, daß man zum Erlegen einer Beute von dieser Größenordnung die Mithilfe von anderen Jägern und Treibern braucht. Ein Mensch alleine könnte nur Hasen jagen. Mit dieser Metapher soll letztlich verdeutlicht werden, daß die herausragenden kulturellen und technischen Leistungen aus der Zusammenarbeit vieler intelligenter Menschen hervorgegangen sind. Anders als noch bei Rousseau ist dabei immer auch impliziert, daß ein Mensch für sich alleine letztlich nur vegetieren kann, also irgendwie kein richtiger Mensch ist.

Von dieser stag hunt ist im ersten Teil von Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit der Menschen, wo es um die ursprüngliche Güte des Menschen im Naturzustand geht, überhaupt nicht die Rede. Erst im zweiten Teil, in dem der Mensch den Naturzustand verläßt, spricht Rousseau vom stag hunt, als erstem Schritt des Wilden in die Abhängigkeit von anderen Menschen. Rousseaus Ansicht nach kommt die Menschlichkeit des Menschen gerade in der städtischen Zivilisation immer zu kurz. Gerade unter den Bedingungen der Arbeitsteilung, die Rousseau nicht als Kooperation, sondern als Abhängigkeit und Konkurrenz verstand, wird der Mensch ständig daran gehindert, seine eigenen, individuellen Potentiale gemäß seinen eigenen, individuellen Bedürfnissen zu entfalten.

Tomasellos Rousseaumißverständnis führt uns also mitten in die Problematik des Verhältnisses von Mutualität und Altruismus. Und gerade dieses Rousseaumißverständnis zeigt auch, daß Tomasello bei der begrifflichen Differenzierung zwischen Mutualität und Altruismus Schwächen zeigt. Dabei geht es ihm vor allem um die Frage, welche von diesen beiden die individuellen und sozialen Bedürfnisse des Menschen organisierenden Sozialformen die grundlegendere ist. Wenn man von Tomasellos eingangs zitierter Darstellung der „egoistischen Ader“ als einem „grundlegenden Eigeninteresse“ ausgeht, ist die Antwort eigentlich recht einfach. Vor diesem Hintergrund wäre Altruismus etwas äußerst Künstliches, zu dessen Möglichkeitsbedingungen eine entsprechend starke kulturelle Nötigung gehören würde. Entsprechend hält auch Tomasello fest, daß er den „menschliche(n) Altruismus“ für „keine universelle Eigenschaft“ hält und „daß Menschen in verschiedenen Bereichen und unter spezifischen Bedingungen mehr oder weniger altruistisch handeln.“ (Vgl. Tomasello 2010, S.20) – Demnach geht Tomasello davon aus, daß sich ein Altruismus nur unter entsprechend günstigen Umweltbedingungen ausprägen kann. Altruismus ist „kein genereller Wesenszug“. (Vgl. Tomasello 2010, S.31)

So hält Tomasello dann auch grundsätzlich fest: „Ich glaube nicht, daß Altruismus die Grundlage für die Fähigkeit und Tendenz der Menschen ist, gemeinsam zu leben und in institutionell definierten kulturellen Gruppen zu funktionieren. Der Altruismus spielt hierbei nur eine Nebenrolle. Viel entscheidender ist der Mutualismus, durch den wir alle von unseren gemeinsamen Handlungen profitieren. ... Mutualismus ist also möglicherweise der Ausgangspunkt für den menschlichen Altruismus und die Entstehung einer Art geschützten Raums, in dem die Menschen beginnen konnten, sich in dieser Richtung zu entwickeln.“ (Tomasello 2010, S.49f.)

So einfach zunächst, – und dann doch wieder nicht. Denn an anderer Stelle macht Tomasello wiederum den Altruismus zur grundlegenden Sozialform. Dort heißt es, daß es „drei Hauptarten des Altruismus in Abhängigkeit von der beteiligten ‚Ware‘“ gebe (vgl. Tomasello 2010, S.20): „Gegenstände, Dienstleistungen und Informationen.() Im Hinblick auf Gegenstände wie Nahrungsmittel bedeutet Altruismus, großzügig zu sein und zu teilen; wer im Hinblick auf Dienstleistungen altruistisch ist und beispielsweise einen außer Reichweite befindlichen Gegenstand herbeiholt, ist hilfsbereit; und die dritte Kategorie umfaßt das altruistische Teilen von Informationen und Einstellungen (einschließlich Klatsch und Tratsch). Es ist wichtig, zwischen diesen drei Typen des Altruismus zu unterscheiden, weil sich die jeweiligen Kosten und Erträge unterscheiden und möglicherweise verschiedene Evolutionsgeschichten haben.“ (Tomasello 2010, S.20f.)

Bei den genannten drei „Typen des Altruismus“ handelt es sich um „Helfen“ (vgl. Tomasello 2010, S.21-26), „Informieren“ (vgl. Tomasello 2010, S.26-31) und „Teilen“ (vgl. Tomasello 2010, S.31-35) Die drei Typen bilden zugleich die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Wenn aber der Mutualismus fundamentaler ist als der Altruismus und wir mit den Menschenaffen zwar nicht den Altruismus, aber sehr wohl den Mutualismus gemeinsam haben, und wenn dann aber nur das Informieren ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist (vgl. Tomasello 2010, S.30f.), wir also die anderen beiden Typen des Altruismus mit den Menschenaffen ebenfalls gemeinsam haben, wie kann dann Mutualismus vom Altruismus so verschieden sein, daß Tomasello dem einen, eben dem Mutualismus, eine auch die Menschenaffen umfassende Universalität zuspricht, und dem anderen, dem Altruismus, sogar eine lediglich den Menschen und seine Motive einbeziehende Universalität abspricht?

Auch andere Textstellen widersprechen Tomasellos Versuchen, den Altruismus auf diese Weise dem Mutualismus nachzuordnen. So heißt es z.B. über die Hilfsbereitschaft von kleinen Kindern im Alter von 14 bis 18 Monaten: „Kinder helfen ... auf erstaunlich vielfältige Art und Weise. In unserer Studie halfen sie einem Erwachsenen, vier unterschiedliche Arten von Problemen zu lösen: Sie holten außer Reichweite befindliche Gegenstände herbei, beseitigten Hindernisse, korrigierten einen Fehler des Erwachsenen und wählten die korrekte Vorgehensweise für die Lösung einer Aufgabe.“ (Tomasello 2010, S.21f.) – Und alles das taten sie, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, also nicht aus mutualistischen Motiven!

Ganz im Gegenteil führte der Versuch, die Kinder für ihre Hilfsbereitschaft zu belohnen, dazu, daß sie nun weniger oder sogar gar nicht mehr hilfsbereit waren. (Vgl. Tomasello 2010, S.22f.)  Um hilfsbereit zu sein, zahlten sie sogar einen Preis, indem sie z.B. ein spannendes Spiel unterbrachen, nur um einem Erwachsenen zu helfen. Wurden sie aber dafür belohnt, ‚externalisierten‘ sie ihre Hilfsbereitschaft und erwarteten von nun an immer eine Gegenleistung. (Vgl. Tomasello 2010, S.23) Tomasello hält ausdrücklich fest, daß dieser bei Kleinkindern beobachtete Altruismus nicht etwa kulturell bedingt, sondern ausschließlich intrinsisch motiviert war, und: „Konkrete Belohnungen leisten also nicht nur keinen unterstützenden Beitrag zur Entwicklung der Hilfsbereitschaft von Kindern, sondern könnten diese sogar untergraben.“ (S.23f.)

Erst im späteren Lebensalter werden kulturelle Erfahrungen wichtiger für die spezifische Ausprägung dieses ursprünglichen Altruismus. Und erst dann ist der Altruismus auch nicht mehr universell, wie eben im Kleinkindalter, sondern kulturell verschieden.

Alles das zeigt, daß Tomasellos Versuch, zwischen Mutualismus und Altruismus zu unterscheiden, in sich widersprüchlich und insgesamt verworren ist. Mir scheint nach der Lektüre seines Buches, daß es zwei Möglichkeiten gibt, zwischen Mutualismus und Altruismus zu differenzieren: zum einen könnte man von den Interessen und Bedürfnissen der Individuen ausgehen, zum anderen von den Interessen und Bedürfnissen der Gesellschaft. Von den Individuen ausgehend bestünde der Mutualismus in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Interessenausgleich. Dem entspräche die goldene Regel: wie du mir, so ich dir! Und Altruismus wäre dann ein auf Empathie (Mitleid) beruhendes Bedürfnis, Notleidenden zu helfen. Dem entspräche das christliche Gebot der Nächstenliebe. Als extrinsische und intrinsische Motivationsformen schließen sie sich gegenseitig aus. Ich kann nicht gleichzeitig einem Notleidenden helfen wollen und mich dafür bezahlen lassen.

Was die Interessen der Gesellschaft betrifft, ginge es beim Mutualismus vor allem darum, ihn so mit dem Altruismus zu verbinden, daß der individuelle Interessenausgleich reguliert und gesteuert werden kann: es ginge also um Kontrolle. Hier bestünde der ‚Altruismus‘ vor allem darin, daß sich die Individuen Normen auch dort unterwerfen, wo sie der unmittelbaren Verwirklichung ihrer eigenen Interessen im Wege stehen. Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von „Regeln als supraindividuelle(n) Einheiten“. (Vgl. Tomasello 2010, S.42) Das Wort „supraindividuell“ verweist auf die Konstitution eines die Individuen übergreifenden, selbst aber wiederum individuellen „Wir-Gefühls“ einer Gruppe.

Wenn sich Individuen für diese Regeln auch dort einsetzen, wo sie ihren eigenen Interessen aktuell entgegenstehen, handeln sie altruistisch, im Dienste eines von sozialen Institutionen gesteuerten, gruppeninternen Mutualismus. Auch dazu sind schon Kleinkinder – im Unterschied zu Menschenaffen – in der Lage: „Daß schon Kleinkinder Normen durchsetzen, scheint in diesem Licht noch viel mysteriöser. Was wir hierfür brauchen, ist die Anerkennung einer schon bei Kleinkindern vorhandenen geteilten Intentionalität, durch die sie Teil einer größeren ‚Wir‘-Intentionalität werden. Ohne diese zusätzliche ‚Wir‘-Identität und Rationalität läßt sich nicht erklären, warum Kinder die aktive Durchsetzung sozialer Normen als Unbeteiligte auf sich nehmen – insbesondere solcher Normen, die nicht auf Kooperation basieren, sondern willkürlich erlassen werden.()“ (Tomasello 2010, S.43)

Im Rahmen dieser Gruppenidentität schließen sich also Mutualismus und Altruismus nicht nur nicht gegenseitig aus, sondern sie gehören untrennbar zusammen. Der Altruismus ist auf die Einhaltung des Mutualismus in der Gruppe gerichtet, und der Mutualismus besteht in der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder. Mit anderen Worten: Menschen sind aus zwei grundverschiedenen Motiven altruistisch; aus individuellen, also aus Mitleid, und aus sozialen, also aufgrund von Gruppensolidarität.

Es macht also wenig Sinn, zwischen Mutualismus und Altruismus in dem Sinne zu unterscheiden, daß das eine ein universelles Phänomen ist und das andere nicht. Beides sind gleichzeitig universelle und individuelle Phänomene und zeigen immer beide Seiten einer individuellen Interessen- und Bedürfnisorientierung, zu der eben auch der Altruismus als einer Form von Empathie gehört, und eines gesellschaftlichen Formations- und Steuerungsinteresses, zu dem die Erziehung und der öffentliche Raum (guter Ruf, Sanktionseinrichtungen etc.) gehören. Am Beispiel des „Überrechtfertigungseffektes“ (Tomasello 2010, S.23) wird sehr schön deutlich, wie sich bei intrinsischen und extrinsischen Motiven individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse ins Gehege kommen und wechselseitig behindern können.

Auch das zeigt noch einmal, daß die anthropologische Differenz nicht einfach an den sozialen Institutionen, bei denen die Schimpansen kognitiv nicht mehr mithalten können (vgl. Tomasello 2010, S.53), festgemacht werden sollte, sondern daß es vielmehr darum geht, das Spannungsverhältnis zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen hervorzuheben.

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