„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 15. Mai 2012

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011

1. Existentieller Historismus
2. Genesis und Geltung
3. Historische Individualität und Subjektivität
4. Lebenswelt und Gewalt
5. Lebenswelt und Praktiken
6. Unaufgehobene Potentiale

Im Letzten Post hatte ich Joas’ dreipoliges Spannungsfeld aus Werten, Institutionen und Praktiken (vgl. Joas 2011, S.133 und S.204) mit dem Begriff der Lebenswelt verglichen. Das will ich hier jetzt ein wenig vertiefen. Insbesondere Joas’ „Praktiken“ stellen eine Verbindung aus innerer Haltung, Verhaltensroutinen und Lebenswelt dar, die auch den leiblichen Aspekt der Lebenswelt beinhaltet: „Viele geltende kulturelle Selbstverständlichkeiten sind in Praktiken verkörpert, die täglich vollzogen werden, ohne daß jeder einzelne sich über sie und ihre Berechtigung überhaupt Rechenschaft ablegt. ... Ganz falsch wäre es und eine Täuschung über die Rolle des Bewußtseins im Handeln, wenn die Orientierung von Handelnden an Werten als bewußte Orientierung an solchen Behauptungen (über das Gute und das Böse – DZ) aufgefaßt würde. Vieles bleibt dem Bewußtsein unthematisch und in Praktiken verkörpert, ohne herausgehoben und reflektiert zu werden. Damit sind auch Spannungen zwischen Praktiken und Werten wahrscheinlich. ... Wenn wir weiterhin annehmen, daß es neben der Praxis des Alltagslebens und der Kommunikation über Werte auch noch Institutionen im Sinn einer von den einzelnen Handelnden abgelösten, verpflichtend gewordenen Handlungserwartung gibt, dann wird ein Spannungsfeld erkennbar, das drei Pole hat: Werte, Institutionen, Praktiken.“ (Joas 2011, S.133)

Zwischen Werten und Praktiken gibt es also Spannungen, denen – wenn ich mit Joas davon ausgehe, daß Werte stets von bewußten Stellungnahmen begleitet werden – meine in diesem Blog beschriebene Verhältnisbestimmung von Naivität und Kritik entspricht, die sowohl die erste, also lebensweltlich befangene Naivität wie auch die zweite, reflektierte Naivität beinhaltet.  Das entspricht in etwa der Unterscheidung zwischen der Gesinnung als der subjektiven Seite institutionell gestützter Werte und Normen (erste Naivität) und der Haltung als individueller Ausformung lebensweltlicher Dispositionen (zweite Naivität). (Vgl. hierzu meinen Post vom 06.03.2012)

Der Begriff der Institution umfaßt sittliche (Bräuche, Rituale etc.) und rechtlich kodifizierte (Körperschaften etc.) Lebensbereiche. Diese Institutionen haben ihre Geschichte und ihre eigenen Erinnerungsstrukturen. Sie sind ein Moment der Lebenswelt, die selbst allerdings eine Bewußtseinsfunktion bildet, die vor allem ein Anachronismus ist, also außerhalb jeder chronologischen Bestimmbarkeit ‚fungiert‘. Es ist vor allem der Lebensweltglaube, der Sitten und Institutionen am Leben erhält, jener „Geist“, von dem Joas spricht, der nicht aus den Institutionen entweichen darf, wenn auf sie Verlaß sein soll. (Joas 2011, S.204; zum Lebensweltglauben vgl. auch meinen Post vom 06.02.2012)

Damit weiche ich ein wenig von Joas’ Konzept der Sakralisierung der Person ab. Oder anders: ich lege die Sakralisierung, von der Joas spricht, als Verlebensweltlichung aus, in der eine historische Entwicklung der „Idealbildung“, die, wie Joas zeigt, auch ganz entscheidend von „den Kämpfen nordamerikanischer Protestanten um religiöse Freiheit“ geprägt wurde (vgl. Joas 2011, S.41), ‚abgesunken‘ ist in ein gleichermaßen gesellschaftliches (kollektives) wie individuelles Unterbewußtes. Jan Assmann beschreibt die Wirkungsweise dieser Lebenswelt treffenderweise als „unsichtbare Religion“, die wie ein unsichtbares Gedächtnis fungiert. (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011) Im unsichtbaren Gedächtnis sind die Kulturbestände der Veränderung in der Zeit entzogen und prägen dennoch – eben im Sinne eines religiösen Glaubens – unser Handeln in der Zeit.

Wenn Joas also den „Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses“ (Joas 2011, S.18) beschreibt, so wird in diesem Prozeß gewissermaßen unsichtbar, was nun als heiliges Tabu unsere Stellungnahmen motiviert. (Vgl. Joas 2011, S.92, 94, 81f., 108 u.ö.) Wenn nämlich viele „geltende kulturelle Selbstverständlichkeiten () in Praktiken verkörpert (sind), die täglich vollzogen werden, ohne daß jeder einzelne sich über sie und ihre Berechtigung überhaupt Rechenschaft ablegt“, so bleibt deren Berechtigung nicht nur gelegentlich, sondern grundsätzlich unerörtert; denn wie begründet man eine unsichtbare Religion? Wie begründet man Tabus?

Von der Art solcher Tabus sind Werte. Daß z.B. die Menschenwürde unantastbar ist, ist gleichermaßen ein Tabu wie das Zentrum eines ganzen Komplexes von Werten, – eben den Menschenrechten. Werte wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Sakralität der Person) sind rational nicht begründbar, und ihr Geltungsanspruch läßt sich deshalb auch nicht verallgemeinern. Tabus sind also von vornherein partikular und gelten nur für diejenigen, die an sie glauben.

Um sich aber dennoch jemandem, der diese Werte nicht teilt, verständlich zu machen, kann man ihm Geschichten erzählen, die die Lebenswelt, in der diese Werte gelten, sichtbar machen. Man kann sich so über seine eigene lebensweltliche Naivität erheben, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zugleich gibt man dem Zuhörer die Möglichkeit, die erzählten Geschichten mit eigenem Sinn zu füllen. Erzählten Geschichten zuhören beinhaltet immer auch ein Montageverfahren, in dem die Zuhörer Verständnislücken, Verkürzungen, logische Widersprüchlichkeiten etc. mit eigenem Sinn ausfüllen oder glätten. Tatsächlich funktioniert ja auch das Gedächtnis nach diesem Prinzip. (Vgl. meinen Post vom 22.03.2011)

Erzählen bedeutet also letztlich einen weitgehenden Verzicht auf umfassende und logisch zusammenhängende Begründungsverfahren. Es basiert eher auf dem „Mut zur Lücke“; die Lücken im Erzählzusammenhang bilden geradezu Einladungen an die narrative Phantasie der Zuhörer, in die Geschichte einzusteigen und zu einem Teil von ihr zu werden.

Joas zeigt nun am Beispiel, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 zustandegekommen ist, daß genau dieses Prinzip, der bewußte Verzicht auf komplizierte, umständliche Begründungsversuche diese Erklärung überhaupt erst ermöglicht hatte: „In der Vielfalt ihrer Verfasser und im bewußten Verzicht der Mitwirkenden, auf ihrer spezifischen Version einer Begründung zu bestehen, zeigt sich der Charakter dieses Dokuments als eines Resultats von Wertegeneralisierung in besonderer Klarheit.“ (Joas 2011, S.271)

Da Werte aufgrund ihrer lebensweltlichen, kulturellen Bedingtheit notwendigerweise partikular sind und an der Erklärung der Menschenrechte beileibe nicht nur Europäer, sondern in maßgeblicher Funktion Chinesen, Araber, Libanesen etc. beteiligt gewesen waren, hätte der Versuch einer Begründung der Menschenrechte nur die kulturellen Gräben weiter aufgerissen, anstatt sie zu überbrücken. Und da man deshalb auf spezifische Begründungen für die Geltung der Menschenrechte verzichtet hatte, konnten sie nun eine ungeheure geschichtliche Dynamik entfalten, weil sich die unterschiedlichsten Menschen und Völker auf sie berufen konnten. Der Begründungsverzicht war eine Einladung an die Menschen, die Menschenrechte mit ihrem eigenen Sinn zu füllen.

Das wird noch einmal an der aktuellen Debatte über die Frage deutlich, inwiefern der Islam überhaupt demokratiefähig sei. Dessen Demokratiefähigkeit wird nicht nur von amerikanischer und europäischer Seite aus problematisiert. Auch die Islamisten selbst distanzieren sich von den Menschenrechten, weil sie sie für eine spezifisch europäische Tradition halten, die mit ihrer eigenen Tradition nichts zu tun habe. Dabei kann Joas überzeugend nachweisen, daß an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 maßgeblich Araber beteiligt gewesen sind. (Vgl. Joas 2011, S.273) Aber wichtiger ist vielleicht noch, daß die Menschenrechte einen Geltungsanspruch erheben, der unterschiedliche Begründungstraditionen ausdrücklich zuläßt und nicht etwa im Sinne eines falsch verstandenen Universalismus ausschließt. Denn die eigentliche Tiefenschicht ihres Geltungsanspruchs wird von den „individuellen Sonderbildungen“ des „Gesamtlebens“ gebildet, aus denen die „lebendige Kraft“ hervorgeht, mit der neue Werte geschaffen werden können. (Vgl. Joas 2011, S.192)

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