„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 14. Mai 2012

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011

1. Existentieller Historismus
2. Genesis und Geltung
3. Historische Individualität und Subjektivität
4. Lebenswelt und Gewalt
5. Lebenswelt und Praktiken
6. Unaufgehobene Potentiale

Wodurch ist eine Entscheidung für Werte, über die wir nicht souverän verfügen können (vgl. Joas 2011, S.190) und zu denen wir auch nicht durch argumentativ herbeigeführte Konsense finden (vgl. Joas 2011, S.256f.), motiviert? Zunächst einmal wachsen wir natürlich vor dem Hintergrund „einer kulturellen Gesamtformung“ (vgl. Joas 2011, S.164) in solche Wertebindungen hinein, indem wir sie als „individuelle Ganze“ mehr unbewußt als bewußt einfach übernehmen. Hier deutet sich schon das Thema der „Lebenswelt“ an, das Joas aber immer nur streift und eher negativ konnotiert, indem er sich etwa von einer möglichen „‚kulturalistische(n)‘ Verengung“ distanziert, die die Menschen nur „als Gefangene der Kulturen, denen sie angehören“, vorstellt, so daß „ihr Handeln als bloße Ausführung kultureller Programme“ erscheint, „die sie verinnerlicht haben oder auf die sie in den normbewehrten Erwartungen anderer ständig stoßen, so daß sie eigentlich über keine Verhaltensalternativen verfügen“. (Vgl. Joas 2011, S.132)

Joas ist mehr am menschlichen Handeln und seiner Originalität (vgl. Joas 2011, S.169) und Kreativität (vgl. Joas 2011, S.162, 133) interessiert, was aber dann wieder, so Joas, nicht dahingehend mißverstanden werden dürfe, „als hätten die Handelnden keine verinnerlichten Werte und könnten sich deshalb auf kulturelle Erwartungen distanziert und kalkulierend beziehen. Hier hilft nur ein komplexeres Modell weiter, das sich der schlechten Alternative entzieht, entweder gelte ein Rationalmodell des Handelns oder ein Modell kultureller Programmierung.“ (Vgl. Joas 2011, S.132) – Diese Unentschiedenheit bei seiner Abwägung zwischen kulturell-historischen Bedingungen der menschlichen Wertebindung und der „irreduziblen Kreativität“ individuellen Handelns bei der Neuschöpfung und Erweiterung zu einer immer subtileren Differenzierung der Menschenrechte und zu einer immer umfassenderen Universalisierung ihrer Geltungsansprüche, ergibt sich aus dem Fehlen eines Begriffs von der Lebenswelt.

Denn es ist offensichtlich, daß es hier um die Frage geht, inwieweit der Mensch in der Entwicklung seiner individuellen Urteilskraft einerseits von einer Lebenswelt naiv getragen und gehalten wird und inwieweit er frei ist, aus dieser Lebenswelt herauszutreten und sich zu einer zweiten Naivität zu erheben, wie ich es in diesem Blog schon häufiger diskutiert habe. Denn mit dieser zweiten Naivität ist eine Balance aus Naivität und Kritik gemeint, eine ‚Haltung‘, die das Ergebnis eines Bildungsprozesses ist. (Vgl. meine Posts vom 14.12.2010, 24.01.2011, 01.04.2011, 09.01.2012, 10.01.2012)

Dabei stellt sich immer wieder zuerst die Frage, wie sich der Mensch aus der ersten Naivität, eben der Lebenswelt, befreit. Diese Befreiung ist selbst wiederum kein souveräner Akt, sondern am besten als Stolpern und Herausfallen beschreibbar. Bei Nishitani reicht dazu schon ein Niesen, bei Plessner sind es Lachen und Weinen, und wieder andere Autoren verweisen auf die Erschütterungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, um zu verdeutlichen, wodurch Lebenswelten, von deren Selbstverständlichkeiten wir bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gewußt hatten, plötzlich zerbrechen können und uns in einem Nichts der Orientierungslosigkeit zurücklassen.

Wir haben es letztlich also immer mit mehr oder weniger gewaltsamen Störungen von Lebensvollzügen zu tun, in die unser Bewußtsein scheinbar unlösbar eingebettet ist und aus die herauszufallen gleichzeitig eine Chance bedeutet, zu wachsen, und die Gefahr, unwiderruflichen seelischen Schaden davonzutragen. Auch Joas beschreibt die Entstehung von Werten als Antwort auf Störungen und seelische Erschütterungen. Allerdings hatte er seiner eigenen Aussage zufolge bislang mehr die positiven Erleuchtungserfahrungen, die „enthusiastischen wertkonstitutiven Erfahrung(en)“ in den Vordergrund gestellt. (Vgl. Joas 2011, S.108f.) Das bekannteste Beispiel wäre wohl das Damaskuserlebnis, aufgrund dessen sich der Christenverfolger „Saulus“ in den Apostel „Paulus“ verwandelt hatte. In seinem aktuellen Buch wendet sich Joas allerdings mehr den Gewalterfahrungen zu, aus denen, zwar nicht allein-, aber zumindestens mitverursacht die Menschenrechte hervorgegangen sind.

Dabei stellt das mit Gewalterfahrungen verbundene Leid zwar noch kein Motiv dar, das in gerade Linie zu neuen Wertbildungen führt: „Aus Leiden allein entstehen keine Werte, es bedarf auch der Kraft zur Umformung der Leidenserfahrung in Orientierungswerte, um zu verhindern, daß Leiden unter Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Gewalt in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung oder in zyklisch sich aufbauende Gewaltspiralen führen, aus denen kein Ausstieg mehr möglich scheint.“ (Joas 2011, S.115) – Aber diese positiven, in die Zukunft der Gewaltvermeidung gerichteten Motive können überhaupt erst aufgrund des vorangegangenen Lebensweltverlustes – Joas spricht hier treffenderweise von „Formen der Selbstentgrenzung“ (vgl. Joas 2011, S.109) – freigesetzt werden. Und erst wenn wir uns in einer neuen Naivität ‚gefangen‘ und kritisch über die nunmehr zerbrochene erste Naivität erhoben haben, können wir die neuen Motive bzw. Werte umsetzen, – in der eigenen Haltung wie auch im gesellschaftlichen, politischen Handeln.

Allerdings möchte ich der dramatischen Redeweise vom ‚Lebensweltverlust‘ hier noch einmal eine etwas andere ‚alltäglichere‘ Wendung geben. Im Grunde nämlich steht die zweite Naivität unserem lebensweltlich fungierenden Bewußtsein viel näher, als es nach dem bisher Gesagten scheint. Nicht umsonst verweist auch Joas immer wieder auf das Prinzip der Narrativität, das der Wertebindung zugrundeliegt. (Vgl. Joas 2011, S.14 u.ö.) Ich möchte ganz besonders auf seine Beschreibung von Alfred Döblins Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ verweisen, in dem ein traumatisierter Kriegsheimkehrer im engsten Kreis der Familie auf Vorschlag des Vaters anfängt, seine Geschichte zu erzählen. (Vgl. Joas 2011, S.120ff.) Auch seine Eltern erzählen ihre Geschichten. Im wechselseitigen Zuhören werden dabei Dinge offengelegt, die zunächst beim traumatisierten Sohn einen Heilungsprozeß einleiten, dann aber weit über einen Heilungsprozeß hinausgehen.

Ohne jetzt auf Joas’ Darstellungen zu diesem Roman näher eingehen zu wollen, möchte ich hier lediglich festhalten, daß die Geschichten neue Ebenen eröffnen, die bislang Verschwiegenes offenlegen und gleichermaßen Ungesagtes wie Unsagbares artikulieren helfen, wie es rationales Analysieren und Argumentieren niemals könnte. Letztlich befinden wir uns immer, wenn wir Geschichten zuhören oder Romane lesen, auf jener Ebene der zweiten Naivität, von der wir im Lesen bzw. Zuhören gleichzeitig wissen und befangen sind. Von ihr aus können wir uns unserer ersten Naivität, der Lebenswelt, zuwenden und sie kritisch reflektieren.

Joas kommt dieser Lebensweltbefangenheit des menschlichen Bewußtseins mit seinem dreipoligen Spannungsfeld aus „Werte(n), Institutionen, Praktiken“ (vgl. Joas 2011, S.133; vgl. auch S.204) zwar recht nahe, aber die lebensweltliche Verwobenheit von Werten und Praktiken wird bei ihm nicht wirklich deutlich. Denn dabei haben wir es nicht einfach nur mit einer kulturalistischen Verengung zu tun, sondern mit einer wesentlichen Funktionsweise des menschlichen Bewußtseins.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen