„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. Mai 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile (individuelles Allgemeines und empirisch-statistische Frauen)
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Darauf, daß in Kittlers Medienanalysen immer viel von Leichen die Rede ist, wurde schon hingewiesen. (Vgl.u.a. meinen Post vom 12.04.2012) Dabei ging es einerseits um konkrete Leichen, die aufgrund von Kriegen des 19. und 20. Jhdts. die technologische Entwicklung der Film-, Rundfunk- und Informationsmedien begleiteten, und andererseits im übertragenen Sinne darum, wie sich Menschen aus Fleisch und Blut durch die Medien in Gespenster und Phantome verwandeln. In „Optische Medien“ wird eine weitere metaphorische Linie zum leeren Raum und damit zur Abwesenheit der gesamten materiellen Welt gezogen, womit wir endgültig bei einem Nihilismus angelangt wären, der sich von dem aufgeklärten Nihilismus, wie ich ihn vertrete, grundsätzlich unterscheidet (vgl. meine Posts vom 04.04.2011 und vom 07.07.2011), weil Kittler das Schicksal des Menschen herzlich egal ist.

Kittler zieht die Linie von toten ‚Heiligen‘, um die herum Grabmäler gebaut werden, wie um die Leichname von Pharaonen herum Pyramiden gebaut worden sind. Diese heiligen Leichen liegen also in von Stein umschlossenen Hohlräumen, die, wenn man mal von den Leichen absieht, leer sind: „Lacan geht wie Hegel von der Hypothese aus, daß die älteste Form von Kunst und/oder Kult die Architektur gewesen ist. Im Unterschied zu Hegel macht er aber klar, daß im Zentrum dieser Architektur – also im Inneren von Pyramiden oder Tempeln – kein Gott haust, sondern eine Leiche. Diese Leiche braucht Platz, also ausgesparten Raum, also ... ein Loch. Als dieses architektonisch offengehaltene Loch nun definiert Lacan das Heilige selbst: es ist die Anwesenheit einer Abwesenheit.“ (1999/2011, S.66)

Mit einem kühnen Sprung, den man mit Blumenberg vielleicht als „Kühnheit der Metapher“ bezeichnen könnte, bezieht Kittler jetzt diesen Leerraum auf den „perspektivischen Fluchtpunkt“ der Malerei, die an die Stelle der Architektur getreten sei, weil es preiswerter ist, Bilder zu malen, als Tempelanlangen zu bauen.  (Vgl. 1999/2011, S.66) Der Fluchtpunkt der perspektivischen Malerei bildet nämlich ein unendlich kleines Loch, um den herum ein Gemälde ‚konstruiert‘ wird, so daß wir es auch hier mit der „Anwesenheit einer Abwesenheit“ zu tun haben. Aber dieser Fluchtpunkt unterscheidet sich von dem leeren Raum in Tempelanlagen in seiner Dimensionalität. Die Grabkammer ist dreidimensional, während der Fluchtpunkt gegen Null tendiert. Dieses gegen-Null-Tendieren überträgt Kittler auch auf die camera obscura, – einem weiteren ‚Loch‘, das um so schärfere Bilder ablichtet, je kleiner es ist. (Vgl. 1999/2011, S.58)

Letztlich bleibt aber auch der perspektivische Fluchtpunkt noch von der zweidimensionalen Materialität des Gemäldes umschlossen. Erst der Computer schafft alle Dimensionen ab: „Man kann ihre (die Computer – DZ) Entwicklungsgeschichte ... geradezu als Abschaffung aller Dimensionen begreifen. ... Computer in dieser Sicht sind die vollbrachte Reduktion aller Dimensionen auf Null. Weshalb ihr Input und Output in den ersten zehn Jahren ab 1943 auch in nackten Zahlenkolonnen bestand.“ (1999/2011, S.294f.)

Der Unterschied zwischen Grabkammern und perspektivischen Fluchtpunkten einerseits und Computern andererseits besteht nämlich im unterschiedlichen Verhältnis zu ihrer Unsichtbarkeit. Bei Grabkammern verweist die Sichtbarkeit der Architektur und bei Gemälden die Sichtbarkeit der Farben und Linien auf die dahinter verborgenen Kammern und Fluchtpunkte. Wir haben es also mit durch Sichtbarkeiten konstituierten Unsichtbarkeiten zu tun. Bei Computern hingegen ist die Verbindung zu Monitoren und Bildschirmen nur eine zufällige, da der ‚Mensch‘ bzw. die Leute ein Interface brauchen, das ihnen einen Zugang zu den im Computer stattfindenden Rechenprozessen ermöglicht.

Die Computer selbst brauchen dieses Interface nicht. Computer müssen, „gerade weil sie von Hause aus dimensionslos und damit bilderlos sind, alle optischen oder akustischen Daten aus eigener Kraft errechnen ... . Bilder auf Computermonitoren, von denen es ja bereits jetzt fast ebensoviele wie Fernsehgeräte gibt, bilden deshalb gar keine existierenden Dinge, Flächen oder Räume ab. Sie entstehen durch Anwendung mathematischer Gleichungssysteme auf die Fläche, die dieser Monitor ist.“ (1999/2011, S.296f.) – Und damit mündet Kittlers Vorlesung in einen dem Menschen in seiner Abwesenheit keinerlei Anwesenheit mehr zugestehenden, vollendeten Nihilismus: „Am Ende dieser Vorlesungen über optische Medien muß deshalb die sichtbare Optik im schwarzen Loch von Schaltkreisen verschwinden.“ (1999/2011, S.293)

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