„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. Mai 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Als Beginn des medientechnologischen Projekts in Richtung auf eine immer genauere Abbildung der Realität, die Kittler zufolge mit der „Einführung des Tonfilms auch noch die letzte Differenz zwischen Simulation und Wirklichkeit“ löscht (vgl. 1999/2011, S.269) und die in der „Telepräsenz“ des HDTV-Standards gipfelt, die als „Invasion oder Eroberung der Retina durch ein künstliches Paradies“ (1999/2011, S.290) dem Menschen seine Anwesenheit in der Realität vollständig vergessen macht , – als Beginn dieses medientechnologischen Projekts bezeichnet Kittler die Erfindung der „Linearperspektive“. (Vgl. 1999/2011, S.52f.) Die Linearperspektive bildet den ersten Versuch des Menschen, seine Sinneswahrnehmung mittels technischer Mittel – z.B. unter Zuhilfenahme der camera obscura – zu täuschen.

Die Linearperspektive geht – abgesehen von ihren waffentechnischen und ballistischen Implikationen (vgl. 1999/2011, S.65, 280 u.ö.) – mit einer neuen Aufmerksamkeit auf die menschliche Subjektivität einher; mal was anderes als Kittlers ständige Abschaffungsrhetorik: „Im 18. Jahrhundert ... stellte sich die Optik dem cartesischen Subjekt, das sie selber durch Linearperspektive, Camera obscura und Laterna magica produziert hatte.“ (1999/2011, S.114f.) Was mich an diesen optischen Rahmenbedingungen in den Anfängen der neuzeitlichen Subjektivität besonders interessiert, ist die mögliche Ergänzung zur Rekursivität (vgl. meinen Post vom 14.04.2012), die in der Vorstellung eines gleichzeitig unendlichen wie imaginären Fluchtpunkts liegt: „Die Linearperspektive beruht dagegen zunächst implizit und später ganz ausdrücklich() auf der Grundannahme eines unendlichen Universums, dem auf jedem einzelnen perspektivischen Gemälde ein unendlich ferner Fluchtpunkt wie das Miniaturmodell dieses Universums entspricht.“ (1999/2011, S.54)

So scheint die Linearperspektive im perspektivischen Rahmen eines Gemäldes also weniger ‚eingefangen‘ zu werden, als vielmehr diesen Rahmen auf ein unendliches Universum hin zu überschreiten. Dieser Fluchtpunkt ‚markiert‘ als Punkt zugleich einen Nicht-Ort, eine Utopie, auf den hin ein wahrnehmendes Bewußtsein seine Gegenstände, seine Welt, versammelt und orientiert.

Der unendliche Fluchtpunkt eines Subjekts steht demnach für ein Bewußtsein, das auf verschiedenen, wechselseitig aufeinander bezogenen Ebenen funktioniert. Bezogen auf die Graphik mit den konzentrisch zusammengesetzten Kreisen heißt das, daß dieser Fluchtpunkt in zwei Richtungen geht: zum einen in Richtung auf den anderen Menschen bzw. in Richtung auf eine Welt voller Gegenstände; zum anderen in Richtung auf eine innere Welt von Empfindungen und Erinnerungen. Hier muß man sich den innersten Kreis als eine Form der vertikalen Verankerung (vgl. meinen Post vom 21.02.2012) in einer Haltung bzw. in einem sich durchhaltenden Sinn denken, der es dem Menschen ermöglicht, sein Leben zu führen.

Der unendliche Fluchtpunkt verweist dabei auch nochmal auf die (rekursive) Struktur dieses Sinns als Sinn von Sinn: sinnhaftes Leben bewährt sich nur als sich beständig erneuernder Horizont auf einer Wanderung ins offene Weite und nicht in Form einer Besetzung der Retina durch künstliche Paradiese.

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