„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 28. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Trotz meiner harschen Kritik an Kittler sehe ich durchaus, daß er interessante Begrifflichkeiten entwickelt, die dazu beitragen können, zu klären, was es mit Subjektivität und Selbstbewußtsein auf sich hat. Zu diesen Begrifflichkeiten gehören das „Medienverbundsystem“ und Kittlers kulturhistorische Darstellungen zur „Linearperspektive“, auf die ich in den folgenden Posts noch eingehen werde. In diesem Post will ich nochmal auf den Begriff des „Reellen“ zurückkommen, den Kittler von Lacan übernimmt.

In meinem Post vom 11.04.2012 war ich schon auf Kittlers Darstellungen zu Lacans Begriffen des Realen, Imaginären und Symbolischen in „Grammophon. Film. Typewriter“ (1986) eingegangen. (Vgl. 1986, S.27f.u.ö.) Dort hatte Kittler noch nicht zwischen Realem und Reellem differenziert, was er in „Optische Medien“ nachholt. Hier heißt es nun, daß man das Reelle „bitte nicht mit der landläufig sogenannten Realität () verwechseln“ solle: „Als le réel bestimmt sich dasjenige und nur dasjenige, was weder Gestalt hat wie das Imaginäre noch eine Syntax wie das Symbolische. Das Reelle, mit anderen Worten, fällt sowohl aus kombinatorischen Ordnungen wie aus Prozessen optischer Wahrnehmung heraus, eben darum aber – das ist eins der Leitmotive dieser Vorlesung – eben darum aber kann es nur von technischen Medien gespeichert und verarbeitet werden.“ (1999/2011, S.40)

Ich vermute, daß Kittler deshalb plötzlich so großen Wert darauf legt, zwischen dem Reellen und der Realität – eingeschlossen den Begriff des Realen – zu differenzieren, weil ihm aufgegangen ist, daß der Begriff der Realität zu anspruchsvoll ist, um ihn als bloßen Effekt von Medienverbundsystemen zu verbuchen. Wer von ‚Realität‘ spricht, kann nicht umhin, auch von ‚Bewußtsein‘ zu sprechen. Wer aber auf Simulation im Imaginären hinauswill – unter Umgehung von Bewußtseinsprozessen –, muß es tunlichst vermeiden, solche ‚veralteten‘ Begrifflichkeiten auch nur von Ferne in Erinnerung zu bringen. Im Kittlerschen Sinne ist der Begriff der ‚Realität‘ kontaminiert mit Bewußtsein. An dessen Stelle setzt er deshalb den Begriff des Reellen.

Damit ist Kittler in seine Analyse weiter vorgedrungen als etwa Metzinger, der ja gar nicht bemerkt, was er tut, wenn er ständig behauptet, der Realitätsbezug sei nur simuliert. (Vgl. meinen Post vom 05.05.2010) Mit jeder dieser Behauptungen ruft er unweigerlich die Vorstellung eines welthaltigen Bewußtseins auf, was ihn immer wieder in Selbstwidersprüche geraten läßt.

Wenn Kittler jetzt also statt von dem Realen oder von der Realität nur noch von dem Reellen sprechen will, so geht es ihm in diesem Reellen vor allem um das Rauschen, dessen Speicherung und Berechnung ja seinen Analysen zufolge die eigentliche Aufgabe technologischer Medien bildet. Es geht ihm also um Dynamiken, die „aus kombinatorischen Ordnungen wie aus Prozessen optischer Wahrnehmung“ herausfallen, wie es im obigen Zitat heißt, und die die Medien angeblich speichern und verarbeiten können. In seiner Euphorie bezüglich dieser der Kontrolle des Bewußtseins entzogenen Medienleistung behauptet Kittler, daß mit Hilfe von Computern „dank Mandelbrots Fraktalen“ mittlerweile sogar Wolken „in ihrer ganzen Zufälligkeit berechnet werden können und dann als errechnete, nicht gefilmte Bilder auf einen Bildschirm kommen“. (Vgl. 1999/2011, S.40)

Was Kittler hier tatsächlich aussagt, ist, daß Mandelbrots Fraktale Wolken simulieren können. Indem er aber undifferenziert von Wolken „in ihrer ganzen Zufälligkeit“ spricht – ohne dabei noch zwischen Realem und Reellem zu unterscheiden –, verschwindet hinter diesem „Reellen“ einer berechneten Simulation das Reale der wirklichen Wolken, die so unberechenbar und unkontrollierbar sind, daß bislang kein Klimamodell der Welt in der Lage ist, sie bei seinen Prognosen zu berücksichtigen. Wo in der Simulation jede einzelne Wolkenbewegung einem Algorithmus folgt, werden reale Wolkenbewegungen – und damit 70% der Klimadynamik – wegen ihrer Unberechenbarkeit bei den derzeitigen Klimamodellen schlicht und einfach ignoriert.

Ich will hier nicht in einen naturwissenschaftlichen Wettstreit mit Kittler treten, dessen medientechnologische Kompetenz ich neidlos anerkenne. Er hat das unbestreitbare Recht, sich bei seinen Medienanalysen auf das Reelle zu beschränken und das Reale aus seinen Betrachtungen auszuklammern. Er hat nur überhaupt kein Recht dazu, das ‚reale‘ Rauschen, d.h. die reale Unberechenbarkeit komplexer Naturphänomene, hinter dem simulierten ‚Rauschen‘ von Computeralgorithmen einfach verschwinden zu lassen und damit den Eindruck zu erwecken, man könne das, was man simulieren (berechnen) kann, ungestraft zerstören, – was, wie Kittler schreibt, eine „großartige Idee“ wäre. (Vgl. 1999/2011, S.167) Denn – wie er einen gewissen Oliver Wendell Holmes zitiert – sobald wir einen „sehenswerten Gegenstand() aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen haben“, brauchen wir ihn nicht mehr: „Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.“ (1999/2011, S.42) – Es ist Kittler selbst, der von hier die Linie bis nach Hiroshima zieht, wo in eins mit der Vernichtung von zehntausenden, nicht ‚Leuten‘, sondern Menschen photographische Effekte entstanden, nämlich Schatten an den Häuserwänden. Eine wirklich großartige Idee, Herr Kittler ...

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