„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 11. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Als „Spurensicherung“ bezeichnet Kittler das vor allem an die Kriminalistik und an die Psychoanalyse erinnernde Verfahren, anhand von unbeabsichtigten Spuren bzw. Äußerungen (Versprecher) einen noch unbekannten ‚Täter‘ dingfest zu machen. Anders als die Täter der Kriminalistik, bei denen es sich immerhin noch um Rechts-Subjekte im vormedialen Sinne handelt, geht es aber Kittler eher um das, was von ihren ‚Taten‘ übrig bleibt, wie z.B. „Leichen“ bzw. „Kadaver“ (1986, S.115), um jenen „Abfall“, den das Reale selbst bildet (vgl. 1986, S.28). Geht es bei Freud bei der Spurensicherung zumindest nicht nur um das Unterbewußte, sondern immer auch um eine Stärkung des Ichs, so interessiert Kittler nur noch das Echo des Rauschens, das in allen Lebensäußerungen des Menschen mitschwingt: „Mit den technischen Medien, kommt eben ein Wissen zur Macht, das nicht mehr mit dem individuellen Allgemeinen seiner Untertanen, mit ihren Selbstbildern und Selbstbeschreibungen zufrieden ist, sondern anstelle solch imaginärer Formationen die unfälschbaren Einzelheiten registriert. ... Imaginäre Körperbilder, wie die Individuen selber sie hegten, konnte auch das Buch speichern und übermitteln. Unbewußt verräterische Zeichen wie Fingerabdrücke, Tonfälle, Schuhspuren usw. dagegen fallen in die Zuständigkeit von Medien, ohne die sie weder zu archivieren noch auszuwerten wären.“ (1986, S.131)

„Unfälschbare Einzelheiten“, „verräterische Zeichen wie Fingerabdrücke“ sind Eigenschaften einer Realität, die immer umfassender ist und mehr enthält, als unsere stets nur Stückwerk bleibenden Wahrnehmungen und Erinnerungen registrieren und speichern könnten. Als Teil dieser Realität schlägt unsere Anwesenheit immer schon tiefere Wurzeln, als wir uns jemals bewußt machen könnten. Wir können unsere Anwesenheit am Tatort der Realität nicht kontrollieren und hinterlassen deshalb Spuren. Nur Medien wie Ton- und Bildspeicher können unsere äußere, physische Präsenz vollständig dokumentieren; nur der bewußten Kontrolle entzogene Schreibmaschinen – oder eben von jeder persönlichen Zuwendung befreite Psychoanalytiker  – können die innere Realität des „psychischen Apparates“ (1986, S.139, 225, 238  u.ö.) einfangen und sichtbar machen. Und nur „Maschinengedächtnisse“ (1986, S.305), die an Mayer-Schönbergers digitales Gedächtnis erinnern (vgl. meine Posts vom 29.04.2011 bis zum 02.05.2011), können „‚den ganzen Bestand unserer physikalischen Kenntnisse mit Hilfe von selbstaufzeichnenden Apparaten und sonstigen automatischen Vorrichtungen in Form eines physikalischen Automaten-Museums sachlich nieder()legen‘.“ (1986, S.122)

Damit haben wir den Umfang des „Realen“, wie Kittler mit Lacan dieses alles umfassende ‚All‘ der Realität benennt, abgesteckt. (1986, S.27) Und dieses ‚Alles‘ besteht natürlich nicht in einem wohlgeordneten Kosmos, in einem Welt-All, in dem das Wort ‚Welt‘ noch an ein Bewußtsein erinnert, das seine Welt in Vordergründe und Hintergründe perspektivisch zu staffeln vermag. Dieses ‚All‘ des Realen, das Kittler meint, kann nur noch ‚rauschen‘, das als solches Rauschen aber der Messung in Metern und Sekunden zugänglich bleibt (vgl. 1986, S.111), von dem sich dann wieder Signale abheben lassen (vgl. S.71f., 180f.)), als emergierten sie dem Rauschen ungefiltert „in einer meßbaren Zeit ohne Menschen“ (1986, S.252), ohne Zutat eines Über-Ichs oder auch nur irgendeines sich seiner selbst bewußten Bewußtseins.

Vom „Realen“ unterscheidet Kittler, ebenfalls mit Lacan, das „Symbolische“, das wie ein „Gitter“ (vgl. 1986, S.28, 114, 138, 268) oder wie ein „Filter“ nur die Momente des Realen dem Bewußtsein zugänglich macht, die Sinn machen und bedeutungsvoll sind. Das Symbolische par excellénce ist deshalb die Schrift, die in Form von „Literatur“ oder „Geschichtsschreibung“ dem Realen und seinen Ereignissen, die an uns vorbei-‚rauschen‘, immer nur hinterherlaufen kann, ohne es je vollständig einfangen und erfassen zu können: „‚Literatur‘, schrieb Goethe, ‚ist das Fragment der Fragmente; das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.‘()“ (1986, S.13; vgl. auch S.120)

Um im notwendig Fragmentarischen der Literatur die Bruchstücke und ‚Torsoi‘ des Realen dennoch in ein kontinuierliches Geschehen einzubetten, um also alle die unvollständig bleibenden Daten im Text zu ergänzen und als ungehemmten neuronalen Datenfluß (vgl. 1986, S.12, 18, 44, 166, 241 u.ö.) zu imaginieren, um also Bücher zum „Surrogat unspeicherbarer Datenflüsse“ (S.19) werden zu lassen, – bedarf es des „Imaginären“ (1986, S.28), das Kittler mit Lacan als Drittes zur Dreiheit des Realen, Symbolischen und Imaginären hinzufügt.  Das Imaginäre erstreckt sich zwischen zwei gegensätzlichen Polen, dem Unbewußten und dem Bewußtsein. Zugleich verbindet es diese Pole. Als Unbewußtes fügt es das Zusammenhanglose zusammen. Es überspringt die Brüche und Schnittstellen, die in Millisekunden die Einzelbilder einer Filmspule voneinander trennen; es bettet einige wenige Wörter eines Textes in einen Handlungszusammenhang oder in einen Gedankengang ein und ‚kümmert‘ sich nicht weiter um die zahlreichen Auslassungen des Autors, – geschweige denn daß wir diese überhaupt bemerken. Und wenn unsere Imagination dabei doch ins Stolpern kommt, so eilt ihr das Bewußtsein zu Hilfe, denn jetzt gibt uns der Text etwas zu ‚denken‘ und wir werden möglicherweise auf eine neue Sinnebene gehoben.

Soweit aber geht Kittler eben nicht. Neue Sinnebenen zieht er nicht in Betracht. Das Imaginäre, das zwischen unbewußten und bewußten ‚Leseakten‘ – ob es sich dabei nun um Ton-, Bild- oder Schriftmedien handelt – vermittelt, soll nur dem Rauschen dienen, am „Engpaß des Symbolischen“ (1986, S.12) und damit auch am Bewußtsein vorbei. Denn die Schrift, wenn sie nicht durch den Zerhackungsprozeß der Schreibmaschinentastaturen hindurchgegangen und ‚automatisch‘ geworden ist, erscheint Kittler nur als defizitär, eben nur als Fragment und deshalb dem Rauschen nicht ebenbürtig: „Als Surrogat unspeicherbarer Datenflüsse erlangten Bücher Macht und Ruhm.()“ (1986, S.19) – Und: „Mit dem Phonographen verfügt die Wissenschaft erstmals über einen Apparat, der Geräusche ohne Ansehung sogenannter Bedeutungen speichern kann. Schriftliche Protokolle waren immer unabsichtliche Selektionen auf Sinn hin.“ (1986, S.133)

‚Sinn‘ ist für Kittler kein Qualitätsmerkmal mehr. ‚Sinn‘ ist immer schon des Betrugs und der „Zensur“ (1986, S.138, 166) verdächtig. Mit den des Rauschens mächtigen Medien beginnt nun eine Epoche, die sich gegen diese Zensur des Sinnhaften und Bedeutungsvollen wendet und „Unsinn von Sinn wie Weizen von Spreu“ scheidet, „und nicht umgekehrt“, wie Kittler nicht anzumerken vergißt (vgl. 1986, S.163): „Durch Mechanisierung wird das Gedächtnis den Leuten abgenommen und ein Wortsalat gestattet, der unter Bedingungen des Schriftmonopols gar nicht laut werden konnte. ... Die Epoche des Unsinns, unsere Epoche, kann beginnen. Dieser Unsinn ist immer schon das Unbewußte.“ (1986, S.134)

Die Epoche des Unsinns ist also eine Epoche des Realen, das an der Abschaffung der unvollkommenen Schrift, insbesondere der „Handschrift“ (vgl. 1986, S.145, 279, 305 u.ö.) und ihres ihr zugehörigen Bewußtseins arbeitet. Auffällig ist dabei, wie sehr Kittler darum bemüht ist, immer wieder das Defizit der Literatur als unvollständige Geschichtsschreibung und der Geschichtsschreibung als unvollständige Protokollschrift des Realen hervorzuheben, und wie er die erstaunliche Fähigkeit des Bewußtseins, mit Hilfe der Schrift Phantasieräume zu erschaffen, deren Tiefenschärfe und Farbigkeit mit jeder Literaturverfilmung in 3-D und Dolby-Surround mithalten kann, nur als „Surrogat“ zu kommentieren vermag. Deshalb möchte ich hier an den Schluß dieses Posts eine Stelle aus Jasper Ffordes „Es ist was faul“ zitieren, in der eine fiktionale Figur in der „Außenwelt“ unterwegs ist und das Vorbei-Rauschen der realen Außenweltlandschaft während einer Autofahrt kommentiert:

„’s ist eigenartig!“, murmelte er und starrte abwechselnd die Sonne, die Bäume, die Häuser und den Verkehr an. „Man brauchte eine Rhapsodie von wirblicht wilden Worten, um all das zu beschreiben, was ich hier erblicke!“
    „Sie werden Englisch reden müssen, da draußen.“
    „All dies“, erklärte Hamlet und wedelte mit der Hand in Richtung der unscheinbaren Vororte, „bedürfte etlicher Millionen Worte, um richtig wiedergegeben zu werden.“
    „Sie haben recht“, sagte ich. „Aber das ist ja gerade der Charme der literarischen ÜbertragungsTechnologie. Ein halbes Dutzend Wörter genügt, um ein Bild heraufzubeschwören. Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass der Leser die Arbeit fast gänzlich allein macht.“
    „Der Leser? Was hat denn der damit zu tun?“
    „Nun, jede Interpretation eines Ereignisses, eines Schauplatzes oder einer Figur in der BuchWelt hängt von den Erfahrungen ab, die der Leser an die Beschreibung derselben heranträgt. Sie ist in jedem Fall einzigartig und unverwechselbar, denn der Leser oder die Leserin bekleiden diese Beschreibung mit der Erinnerung an das, was sie selbst schon erlebt haben. Jede Figur, die ihnen in der Literatur begegnet, wird so zu einer Mischung aus Personen, die sie aus der Wirklichkeit oder aus anderen Werken schon kennen. Erst dadurch gewinnen sie ihre Realität. Die bloßen Buchstaben auf der Seite allein könnten das gar nicht leisten. Und weil jeder Leser unterschiedliche Erfahrungen hat, ist jedes Buch einzigartig für jeden Leser.“
(Fforde, S.29f.)

Jede Interpretation eines fiktionalen Ereignisses, schreibt Fforde, hängt von den Erfahrungen der Leser ab, jedes Buch ist einzigartig für jeden Leser, – Günther Anders würde sagen: zum jedem ‚S‘ gehört ein ‚p‘! (Vgl. meinen Post vom 08.04.2012)

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