„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 9. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Im Zeitalter digitaler Universalmaschinen bekommt der Begriff der Analogie eine neue Bedeutung. Ursprünglich bezeichnet man mit Analogie ein sprachliches Stilmittel und logisches Werkzeug, das die Möglichkeit eröffnet, im Vermeiden wortwörtlicher Eindeutigkeiten neue Bedeutungsdimensionen zu erschließen. (Vgl. meine Posts zu Schrott/Jacobs, insbesondere vom 20.07.2011) Dieses ana-logische Verfahren, auf zwei verschiedenen Ebenen zu denken, indem man Realien und Begriffe aufeinander bezieht, dient nun selbst noch einmal als Analogie für das Verfahren, Schallwellen auf Schellack (mechanisch) und Lichtwellen auf Zelluloid (photochemisch) festzuhalten. Weder sind Schallwellen von derselben Materialität wie Schellack, noch sind Lichtwellen von derselben Materialität wie Zelluloid.

Bei der Schrift ist es mit der Analogiebeziehung nochmal etwas anders.  Der Materie auf der einen Seite, von Tontafeln bis Tinte auf Papier, entspricht auf der Seite der Worte keine Materie. Mit der Schrift werden geistige Phänomene auf materiellen Objekten festgehalten. Die Analogiebeziehung im Bereich der Schriftmedien wird also wesentlich durch Sinn bzw. Bedeutung bestimmt. Das ist anders als bei Ton- und Bildmedien: diese speichern die Schall- und Lichtwellen auch unabhängig von Sinn und Bedeutung einfach als ‚Rauschen‘. Bei Bildmedien ist das insofern nochmal etwas anders als bei Tonmedien, als Bilder sowohl von photochemischer Materialität als auch Kreationen aus Farbpigmenten auf Leinwand sein können. Im letzteren Falle ist wieder eine Sinndimension involviert, ohne die diese Farbpigmente nichts ‚speichern‘ würden als sich selbst.

Während also Ton- und Bildmedien – letztere vor allem aufgrund ihrer photochemischen Natur – auch unabhängig von Sinn und Bedeutung ihre analogische Funktion als Speichermedien ausfüllen können, löst sich ohne die essentielle Verbindung mit Sinn und Bedeutung der mediale Charakter der Schrift in Nichts auf, und wir haben es nur noch mit Tinte und Papier zu tun. Diese Besonderheit der Schrift wird von Kittler aber ignoriert: er stellt sie über die Schreibmaschine und deren technische Weiterentwicklung zur universalen diskreten Maschine, dem Computer, den anderen Speichermedien gleich, so daß auch im Bereich der Schrift auf digitaler Ebene denkbar wird – und laut Kittler sogar mehr als nur denkbar –, was bei den Analogmedien Schellack, Tonband, Zelluloid – ebenfalls Kittler zufolge – via Rückkopplung schon Realität geworden ist: die maschinelle Kombination von „Speichern/Übertragen/Berechnen“ (vgl. 1986, S.353); oder mit anderen Worten: Maschinen, die speichern, übertragen und lesen können, ohne daß sich ein menschliches Bewußtsein dazwischenschalten müßte.

Kittler benutzt den Analogiebegriff – in Anlehnung an Jean Marie Guyau (vgl. 1986, S.49-54) – in beiden Bedeutungen. Zum einen sprachlich, indem er ohne kritische Hemmung menschliche Sinnesorgane und Bewußtseinprozesse mit technischen und neurophysiologischen Korrelaten verknüpft; mit der schon erwähnten Begründung, so zu neuen Einsichten und Erkenntnissen beitragen zu können: „‚Der Analogieschluß hat in der Wissenschaft beträchtliche Bedeutung; ja vielleicht bildet die Analogie, sofern sie das Prinzip der Induktion ist, die Grundlage aller physischen und psychophysischen Wissenschaften. Sehr oft hat eine Entdeckung mit einer Metapher begonnen. Das Licht des Denkens kann kaum in eine neue Richtung fallen und dunkle Winkel ausleuchten, wenn bereits erhellte flächen es nicht zurückwerfen. Eindruck macht nur, was an etwas anderes erinnert, obwohl und weil es von ihm abweicht. Begreifen heißt, wenigstens teilsweise, sich erinnern. Beim Versuch, die psychischen Fähigkeiten oder besser Funktionen zu begreifen, wurden viele Vergleiche, viele Metaphern gebraucht. Hier, im noch unvollkommenen Zustand der Wissenschaft, ist die Metapher in der Tat von absoluter Notwendigkeit: Bevor wir wissen, müssen wir damit anfangen, uns etwas vorzustellen. So ist denn das menschliche Gehirn mit vielen verschiedenen Gegenständen verglichen worden.‘“ (1986, S.49)

Das hört sich ganz nach Blumenbergs Metaphorologie an (vgl. meinen Post vom 09.09.2011) oder nach Schrott/Jacobs. Allerdings fehlt der ‚Kühnheit‘ dieser Metaphorologie jede kritische Selbstbegrenzung. Nicht nur werden Gehör- und Sprechorgane des Menschen analogisch auf deren frühe phonographische und grammophon-technische Nachbildungen bezogen, auch Bewußtseinsprozesse werden als Gehirnprozesse in ihrer Funktionsweise mit akustischen Speichermedien verglichen: „... eine Hirnphysiologie, die seit Broca und Wernicke auch den Diskurs in lauter Subroutinen zerfällt und Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen auf diverse lokalisierte Teilzentren im Großhirn verteilt, weil sie nur Zustände aufzeigbarer materieller Teile kennt, hat ihr Analogiemodell längst am Phonographen ...“ (1986, S.62) – So sollen Wahrnehmungsempfindungen in der Materie von Gehirnzellen „Linien“ ziehen, die denen von Schallplattenrillen gleichen. Diesen Linien folgen dann künftige Wahrnehmungsempfindungen in Form von „Nervenströmen“: „‚Wenn nach einiger Zeit der Strom auf eines dieser schon gemachten Betten stößt, das er schon durchlaufen hat, so schlägt er diesen Weg aufs neue ein. Dann schwingen die Zellen, wie sie ein erstesmal geschwungen haben, und dieser ähnlichen Schwingung entspricht psychologisch ein Gefühl oder Gedanke, die dem vergessenen Gefühl oder Gedanken analog sind.‘“ (1986, S.50f.)

Die Zellen ‚schwingen‘ also, als wären sie Schallwellen. Da fragt man allerdings unwillkürlich, in welchem Resonanzraum diese Zellen eigentlich schwingen? Wie weit soll diese Analogie eigentlich bedeutungsstifend sein? Wo hat sie ihre Grenzen? Bildet der Schädel vielleicht den Klangkörper, der die Gefühls- und Gedankenzellen schwingen läßt? – Zu welcher neuen ‚Erkenntnis‘ soll diese Analogie eigentlich führen?

Guyau zufolge – den Kittler hier ausführlich zitiert – leidet die beschriebene Analogie vor allem an einem Manko: „‚Der wesentliche Unterschied zwischen Gehirn und Phonograph ist, daß bei Edisons noch grober Maschine die Metallscheibe für sich selber taub bleibt ...‘“ (1986, S.53) – Perfekt ist die Phongraphen-Analogie zum Gehirn also in dem Moment, wo die Rückkopplung gelingt, wo sich also die Schallwellen selber speichern, übertragen und hören (bzw. lesen oder ‚rechnen‘). Diese perfekte Analogie erreichen aber nicht die Analogmedien selbst, sondern erst die „universale diskrete Maschine“ (1986, S.54, 356, 362 u.ö.). Die durchgehende Analogie von Maschine und Mensch wird also paradoxerweise erst verwirklicht, wo das gleichzeitige Speichern, Übertragen und Lesen bzw. Hören nicht mehr via Rückkopplung von analogen, sondern von digitalen Maschinen besorgt wird.

Insbesondere zwei Eigenschaften der digitalen Rechenmaschinen sind es, die sie Kittler zufolge dazu qualifizieren, das menschliche Bewußtsein zu ersetzen. Zum einen überführen sie die Zerlegung der kontinuierlichen Zeitwahrnehmung in den unterschwelligen Rhythmus von Schnitten (Ton und Film), Lichtblitzen (Film) und Schreibmaschinentastaturen in berechenbare Ziffernfolgen von Nullen und Einsen. Zum anderen werden diese Ziffern in Form von JA/NEIN-Befehlen in technologische Prozesse umgesetzt, die sich selbst kontrollieren (Kybernetik). Wie beim in der Genesis beschriebenen Schöpfungsakt, der aus dem Tohuwabohu „Tag und Nacht, Morgen und Abend, Sonne und Mond, Erde und Himmel, Land und Wasser“ hervorgehen ließ (vgl. 1986, S.361), also lauter binäre Oppositionen, entstehen aus dem Rauschen elektrischer Ströme mittels digitaler „Ja-Nein-Organe“ Algorithmen und Computerprogramme.

Setzt das digitale Prinzip also einerseits ein schon in den Analogmedien liegendes Prinzip des Schneidens, Blitzens (Stroboskopeffekt) und Zerhackens (Schreibmaschine) nur konsequenter um, als es die Analogmedien können, so führen die digitalen „JA-NEIN-Organe“ ein völlig neues Prinzip ein: „Das Tohuwabohu und, in seinem Gefolge, die Analogmedien durchlaufen alle möglichen Zustände, nur nicht das NEIN.() Computer sind keine Emanationen einer Natur. Sondern die Universale Diskrete Maschine mit ihren Möglichkeiten der Lösung, Negation und Opposition von Binärzeichen spricht immer schon die Sprache der oberen Führung.“ (1986, S.362) – Erst dieses NEIN führt zur Rekursivität (vgl. 1986, S.355, 358ff.), die über bloße Rückkopplung hinausgeht und es Computern ermöglicht, in Form von IF-THEN- bzw. WENN-DANN-Befehlen ihre eigenen Programme im Rechenprozeß zu lesen, zu manipulieren und potentiell über sie hinauszuwachsen: „Eine einzige Rückkopplungsschleife (als „Rückwirkung des Ergebnisses der Rechnung auf den Ablauf und die Gestaltung des Programms selbst“ – DZ) – und Informationsmaschinen laufen den Menschen, ihren sogenannten Erfindern davon. Computer selber werden Subjekte. FALLS eine vorprogrammierte Bedingung ausbleibt, läuft die Datenverarbeitung zwar nach den Konventionen numerierter Befehle weiter hoch. FALLS aber irgendwo ein Zwischenergebnis die Bedingung erfüllt, DANN bestimmt das Programm selber über die folgenden Befehle und d.h. seine Zukunft.“ (1986, S.372)

Konrad Zuse war vor diesen Unabsehbarkeiten noch zurückgeschreckt und machte hinsichtlich der Möglichkeit, Computer sich selber ‚rechnen‘ zu lassen, ethische Bedenken geltend, auf die Kittler zwar verweist, die er aber ansonsten unkommentiert läßt. (Vgl. 1986, S.372) Ich will an dieser Stelle die Möglichkeit von „Maschinensubjekten“ (1986, S.373) nicht ethisch beurteilen. Mir geht es vor allem um die unreflektierten und unkritischen Analogieschlüsse, die Kittlers Darstellungen durchgehend bestimmen. Von der seltsamen Vorstellung eines Gehirns als Phonograph über die Gleichsetzung der Speicherung von Schall- und Lichtwellen mit der ‚Speicherung‘ von Bewußtseinsprozessen wie Sinn und Bedeutung zunächst als Schreibmaschinentypen auf Papier und ihrer schließlichen ‚Umformung‘ in digitale Zifferfolgen bis hin zur Gleichsetzung der WENN-DANN-Struktur von Computerprogrammen mit menschlichen Handlungssubjekten führen Kittlers Analogieschlüsse zu einer nun wirklich ethisch bedenklichen Abwertung der menschlichen Expressivität. Hier beginnt das eigentliche ethische Problem, mit dem wir uns in diesen Posts zu Kittler auseinanderzusetzen haben.

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