„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 8. März 2012

Globalisierung und Lebenswelt

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin 2011

1. Was beschreibt eine „diagnostische“ Theorie?
2. Der innerste körperliche Kern der Lebenswelt
3. Innen- und Außenhorizonte schieben sich ineinander
4. Kommunikation ohne ‚Grenzen‘
5. Neue (Alltags-)Medien

Ich kenne keine bessere, tiefer reichende Medienkritik als die von Günther Anders. (Vgl. meine Posts vom 23.01.2011 bis zum 29.01.2011) Insbesondere an die Art, wie er die unsere Wahrnehmung verändernde Wirkung der Medientechnologien der 50er Jahre des 20. Jhdts. beschreibt, reicht keiner der aktuellen Medienanalysten heran; auch nicht B./B.-G. in ihrem Buch über die Fernliebe. Dabei ist das wesentliche Prinzip der Fernliebe doch die Entkörperlichung der Liebesbeziehung (vgl. B./B.-G., S.33, 67 u.ö.), ihre Verschiebung ins Reich der Phantasie: „Liebe war und ist immer vorgestellte Liebe. Sie findet, wir wissen es, wesentlich im Kopf statt. Das Besondere an der Internet-Liebe ist: Sie findet nur im Kopf statt.“ (B./B.-G., S.67) – Anders hat dafür ein Wort: dank der Medien wird die Welt zum „Phantom“. Und mit der Welt auch wir selbst. Dabei hatte Anders zu seiner Zeit noch keine Ahnung vom Internet und der Digitalisierung unserer Wahrnehmungswelt.

Der einzige ‚Hauch‘, durchaus auch im Sinne eines flatus vocis, von Körperlichkeit, der den Fernliebenden bleibt, ist der „Klangkörper“ der Stimme über Handy und Skype. Zusammen mit den auch diesen letzten körperlichen Rest hinter sich lassenden e-mail- und SMS-Medien tragen sie die von Phantasien geformten Erzählungen in das Bewußtsein des Adressaten: „Der ‚reine‘ Ort der Fernliebe ist der Klangkörper der Stimme, die Erzählung, die von den inneren Bedeutungslandschaften des Anderen weiß und darauf eingeht; die, mit anderen Worten, die Kunst der Intimität beherrscht: Nähe über Entfernungen hinweg fühlbar zu machen. ... Die Intimität der Stimmen lebt von dem Austausch der erzählten Selbstporträts, in denen der und die Andere auf ganz alltäglich-selbstverständliche Weise gegenwärtig ist.“ (B./B.-G., S.69)

Mit der Körperlosigkeit geht also eine Ortlosigkeit einher, und mit ihr wiederum eine Alltagslosigkeit (vgl. B./B.-G., S.70ff./154), die wiederum unmittelbar auf die Abwesenheit der Lebenswelt verweist. Die Neuen Alltags-Medien sind in Wirklichkeit Feiertags-Medien ohne Alltag. (Vgl. B./B.-G., S.71) Das bedeutet für Familien, deren biologische Eltern aus Armutsgründen oder/und aus beruflichen Gründen sich längere Zeit im Ausland befinden und die deshalb den Kontakt zu ihren Familien in ihrem Herkunftsland nur mit den Neuen Medien aufrechterhalten können, daß ein wesentliches traditionelles Merkmal der Familie nicht mehr ‚funktioniert‘, – die Ortsbindung und mit ihr die notwendige physische Präsenz aller Familiemitglieder: „Familie war face-to-face-Beziehung und meinte physische Anwesenheit. ... Anfangs war die Ortsbindung das entscheidende Merkmal von Familie.“ (B./B.-G., S.24)

Mit dem fehlenden physischen Bezug ist ein weiteres wesentliches Merkmal der Familie bedroht: die Alltags-Sorge, das alltägliche für-einander-Dasein. Zwar gibt es durchaus erstaunlich erfolgreiche ‚Modelle‘ einer globalen Familiensolidarität, in denen die Familie als „Weltfamilien-Unternehmen“  (B./B.-G., S.186, 188) auftritt, – ein Wort, das mich allerdings allererst an die Mafia denken läßt; aber in der dort praktizierten Solidarität ist eine Differenz zwischen Familie und Unternehmen nicht mehr erkennbar. Im Weltfamilien-Unternehmen ist die Familie mit der kapitalistischen Wirtschaftsform verschmolzen, so daß sie nicht nur als Familienindividuum, sondern vor allem als globalisiertes Familienkapital in reinster Form auftritt. Hier ist der Bezug zur Mafia tatsächlich nicht weit.

Andere Familien-Unternehmen sind weniger materialistisch und mehr phantasiegeprägt, eben im Sinne der Neuen Medien. Wenn traditionelle Familienverbände im Rahmen ihrer mit ihren Emigrationswünschen verbundenen Heiratspolitik ihre Töchter und Söhne mit schon erfolgreich emigrierten Verwandten verheiraten, um sie in das Zielland nachfolgen zu lassen, haben wir es hier ebenfalls mit Aktivitäten eines Familienindividuums zu tun. Dabei sind aber die Töchter und Söhne, die sich ins Zielland ‚verheiraten‘, nicht einfach nur Opfer dieses Familienhandelns, sondern folgen eigenen Klischees und Wunschvorstellungen von einem besseren Leben, das ihnen gerade die Medien des Ziellandes vermitteln: „Indem die Medien die Bilder und Verheißungen westlicher Lebensformen exportieren, erzeugen sie in den nicht-westlichen Ländern neue Bezugspunkte und Vergleichsmaßstäbe, verändern dort die alltagsprägenden Erwartungen, Hoffnungen, Ziele. Und dies gilt besonders für die Armutsregionen der Welt. Wie vielfach beschrieben, haben sich in den letzten Jahrzehnten und Jahren die Angebote der Massenmedien vervielfältigt und sind immer breiter zugänglich geworden. Film und Fernsehen, Video und Internet, all diese Medien vermitteln Informationen, wahre und falsche.“ (B./B.-G., S.111)

Das erinnert an Günther Anders’ Medienkritik, nach der die Medien die Welt in ein Phantom verwandeln. Diese Medien unterminieren nun in den Armutsregionen die eigene Lebenswelt der Menschen. Ohne diesen Prozeß der Entlebensweltlichung – Anders spricht von „Verfremdung“ (vgl. meinen Post vom 24.01.2011) – reflektieren zu können, tritt ihnen über die Medien eine Außenwelt gegenüber: „Statt das eigene Leben als Schicksal hinzunehmen, beginnen immer mehr Menschen, sich andere Welten vorzustellen und mit der eigenen zu vergleichen.“ (B./B.-G., S.112) – Diese Konfrontation mit einer selbst nur medial vermittelten, arrangierten ‚Außenwelt‘ – und sei sie selbst noch so phantomhaft und unwirklich – muß unweigerlich zur Zersetzung der eigenen Lebenswelt führen, – so wie früher, wenn Anthropologen oder Abenteurer im Amazonas oder in anderen bislang abgeschlossenen Weltregionen erstmals einer bis dahin lebendigen Dorf- oder Stammesgemeinschaft begegneten, worauf diese dann in kürzester Zeit jeden inneren Halt verlor und zerfiel.

Anstatt also zu einer Reflexion der eigenen Lebenswelt zu führen, die die Chance einer zweiten Naivität in sich trägt – also die Möglichkeit, die eigene Naivität gleichzeitig zu leben und zu nutzen –, entsteht nur der Wunsch, die eigene Lebenswelt mit der anderen zu vertauschen; oder noch naiver: die eigene Lebenswelt in die fremde Lebenswelt zu transferieren und dort weiter zu ‚leben‘. Daß dieser Wunsch selbst auch schlicht in Notwendigkeiten des Überlebens begründet ist, soll hier nicht geleugnet werden. Die Neuen Medien täuschen die Menschen zwar hinsichtlich des Realitätsgehaltes ihrer ‚Informationen‘, aber deren Armut ist real. Mir geht es hier vor allem um die Frage, was in den Köpfen geschieht. Und da trifft das zu, was Anders „Verbiederung“ nennt: „In der Tat besteht ihre (der Verbiederung – DZ) Hauptleistung darin, die Ursachen und Symptome der Verfremdung, deren ganze Misere, abzublenden; darin, den Menschen, den man seiner Welt, und dem man seine Welt entfremdet hat, der Fähigkeit zu berauben, diese Tatsache zu erkennen; kurz darin, der Verfremdung eine Tarnkappe aufzustülpen, die Realität der Verfremdung zu verleugnen, um ihr dadurch die Straße für ihre hemmungslose Tätigkeit frei zu halten ...“ (Antiquiertheit Bd.1, S.124)

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