„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. März 2012

Globalisierung und Lebenswelt

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin 2011

1. Was beschreibt eine „diagnostische“ Theorie?
2. Der innerste körperliche Kern der Lebenswelt
3. Innen- und Außenhorizonte schieben sich ineinander
4. Kommunikation ohne ‚Grenzen‘
5. Neue (Alltags-)Medien

B./B.-G. sprechen in bezug auf den Kinderwunsch und auf die Mutterliebe vom „innersten körperlichen Kern der Familie“ (B./B.-G., S.197) Ich möchte diese Formulierung aufgreifen und in bezug auf die Familie als vom innersten körperlichen Kern der Lebenswelt sprechen. Das hat den Vorteil, zwei Entwicklungsebenen, die biologische (Mutter-Kind-Verhältnis) und die kulturelle (Elternschaft), miteinander zu verbinden und als Ursprungszelle jeder Lebenswelt zu thematisieren. Mit ‚biologischer Entwicklungsebene‘ ist nicht gemeint, daß die Geschlechterrollen biologisch festgelegt sind und die natürliche Bestimmung der Frau deshalb die Mutterrolle sei, sondern daß die Embryogenese ein natürlicher Bestandteil der individuellen Ontogenese und der ‚natürliche Ort‘ dieser Embryogenese der Mutterleib ist. Ansonsten ist die Mutterschaft Teil eines kulturell bestimmten und intergenerationell eingebetteten Eltern-Kind-Verhältnisses, in dem die Elternrollen historisch und biographisch variabel sind.

„Familie“ soll also in den folgenden Posts der Verknüpfungspunkt sein, an dem biologische und kulturelle Entwicklungsprozesse im Werden einer individuellen Person zusammenfließen. Das Medium dieser Ontogenese und damit auch das Medium dieses Zusammenflusses bildet die Lebenswelt, die zugleich – in der subjektiven Perspektive – als individuelle ‚Seele‘, also als Zwischenreich im Plessnerschen Sinne beschrieben werden kann. Vermittels der weitgehenden leiblichen Symbiose von Mutter und Kind, als Embryo und als Säugling, und vermittels der kulturellen Einbettung der verschiedenen Phasen des Eltern-Kind-Verhältnisses wächst das Individuum in eine Lebenswelt hinein und formt sich seine Seele.

Bei B./B.-G. ist nur selten wörtlich von der „Lebenswelt“ die Rede – nach meiner Zählung gerade dreimal (vgl. B./B.-G., S.66, 100, 169) –, aber zahlreiche Formulierungen umschreiben das Phänomen der Lebenswelt und stellen es als Hauptproblematik ins Zentrum ihres Themas. So ist vom „Binnenraum des eigenen Lebens“ die Rede, in dem die Menschen mit der „Welt“ konfrontiert werden. (Vgl. B./B.-G., S.26) Kulturen werden als „natürliche Einheiten“ beschrieben, „die man nicht wählen kann, zu denen man schicksalhaft dazu- oder nicht dazugehört.“ (Vgl. B./B.-G., S.30) Es wird von der „heimtückische(n) Wirkung“ und der „untergründige(n) Kraft“ „kulturelle(r) Unterschiede“ gesprochen. (Vgl. B./B.-G., S.48) Diese Unterschiede sind die Ursache für „biographische Rückwende(n)“, von denen einzelne Partner in multikulturellen Paarbeziehungen gegen ihren Willen und zu ihrer eigenen Überraschung heimgesucht werden. (Vgl. B./B.-G., S.55ff.) Es werden Verwandlungen in den Familien und Paarbeziehungen beschrieben, die „schleichend, auf Samtpfoten (erfolgen)“ (vgl. B./B.-G., S.106), also hinter dem Rücken unseres Bewußtseins und damit auf lebensweltliche Weise.

Lebenswelt ist also längst nicht nur das, was auch ausdrücklich als Lebenswelt etikettiert wird. Lebens-Welt ist All-Tag, d.h. jeder alles umfassende, unser Fühlen und Denken tragende Tag unseres Lebens mit seinen „(e)lementare(n) Rahmenbedingungen“ und seinem „Fundus selbstverständlich geteilter Bedeutungen“. (Vgl. B./B.-G., S.228)

Ich könnte diese Aufzählung von Synonymen der Lebenswelt endlos fortsetzen, weil im Grunde genommen auf jeder Seite des 280 Seiten starken Buches von B./B.-G. von nichts anderem als eben immer wieder von der Lebenswelt die Rede ist und von dem, was mit ihr geschieht in einer Welt, in der die Innenhorizonte der Lebenswelten und die Binnenräume „der Liebe und der Familie“ (vgl. B./B.-G., S.226) mit der hinzukommenden und hereinbrechenden Perspektive des Anderen, als Ehepartner, Schwager, Schwiegersohn oder -tochter, als Pflegekraft oder Hausarbeitshilfe zu Außenhorizonten werden; nicht zu vergessen die illegalen ArmutsmigrantInnen und ihre Familien, die sie zurücklassen und sie auf den Weg brachten.

Was passiert also mit dem innersten körperlichen Kern der Lebenswelt, der Familie, und wie wirkt sich das, was mit der Familie passiert auf die Lebenswelt aus? Dieser Frage werde ich in den folgenden Posts unter dem Titel „Globalisierung und Lebenswelt“ nachgehen, wobei die gesellschaftliche, kulturelle Dimension der Lebenswelt im Zentrum steht. Ein weiterer Post wird unter dem Titel „Globalisierung und Elternschaft“ stehen. In ihm geht es vor allem um die individuelle Situation des zwangsweise globalisierten Weltbürgers und um eine durch die Fortschritte der Bio-Technologien erzwungene Neubestimmung seines Verhältnisses zu sich selbst und seinem Körperleib.

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