„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 11. Februar 2012

Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1. Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2. Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3. Was heißt ‚interne Quellen‛?
4. Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5. Selbstbewußtsein als „Interface“
6. Narrativität und Rekursivität

Es gibt verschiedene Aspekte an Metzingers phänomenalem Selbstmodell, die mich an die Differenz von Vollzug und Reflexion erinnern. Wie ich schon in meinem Post zu Meyer-Drawe vom 10.01.2012 geschrieben habe, geht es bei dieser Differenz um den Bruch (Hiatus) zwischen Fühlen und Denken und zwischen Handeln und Denken, also ganz allgemein zwischen Erlebnis und Reflexion. Die Reflexion – oder die bewußte Wahrnehmung oder die bewußte Entscheidung – ist gegenüber vorbewußten Prozessen, aus denen die bewußte Wahrnehmung hervorgeht bzw. die die bewußte Entscheidung anbahnen, immer ‚verspätet‘. Diese Verspätung des Bewußtseins besteht nicht nur in einer bloßen Unterbrechung des Reflexbogens, sondern beinhaltet auch eine ‚Dichte‘ bzw. ‚Dauer‘, die wir nicht mit den Mitteln der Reflexion durchdringen bzw. kurzschließen können.

In der Neurophysiologie wird diese Differenz immer wieder als Beleg für die Unfreiheit des menschlichen Willens gedeutet. Daß wir uns frei entscheiden können bzw. daß wir die Wahl haben, ist nur eine Illusion, weil die eigentlichen Entscheidungsprozesse auf einer vorbewußten Ebene ablaufen. Für Phänomenologen wie Meyer-Drawe sind diese vorbewußten ‚Vollzüge‘ hingegen Voraussetzungen unserer Freiheit, weil sie uns in Form von Störungen aus dem Schlaf des Bewußtseins wecken und uns so überhaupt erst vor die Möglichkeit einer Wahl stellen. Einig sind sich beide Seiten darin, daß wir diesen vorbewußten Prozessen gegenüber insofern unfrei sind, als wir sie nicht kontrollieren können.

Diese ‚Vollzüge‘ gibt es auf zwei Ebenen: als leiblichen Weltglauben und als Lebensweltglauben. Metzingers Begriff der phänomenalen Repräsentation kann man als leiblichen Weltglauben und die Begriffe des phänomenalen Selbstmodells und des phänomenalen Darstellungsraums kann man als Lebenswelt interpretieren. Akzeptiert man diese Parallelen, so kann man Metzingers Begriff der Transparenz als einen vorbewußten Vollzug verstehen: „Man kann sich nicht einfach aus dem phänomenalen Modell der Wirklichkeit ‚hinausdenken‘, indem man seine Meinungen über dieses Modell ändert: Die Transparenz phänomenaler Repräsentationen ist kognitiv nicht penetrabel, phänomenales Wissen ist nicht dasselbe wie begrifflich-propositionales Wissen.“ (S.24)

Meyer-Drawes Begriff des Vollzugs entspricht in vielerlei Hinsicht den Plessnerschen Beschreibungen vom präsentativen Bewußtsein. (Vgl. meinen Post vom 30.01.2012) Auch hierzu kann man bei Metzinger eine Parallele finden, wenn er vom „phänomenale(n) Gegenwartsfenster“ (vgl.S.26f.) spricht: „Weil die Virtualität des Selbstmodells und die Virtualität des Gegenwartsfensters nicht auf der Ebene des subjektiven Erlebens verfügbar sind, wird das in ihnen dargestellte System zu einem jetzt anwesenden Subjekt.“ (S.27)

Insoweit also das phänomenale Selbstmodell und die Vollzüge des bewußten Wahrnehmens und Erlebens (als „Gegenwartsinsel(n) im physikalischen Fluss der Zeit“ (S.27)) nicht kognitiv verfügbar sind, also nicht reflektierend eingeholt werden können, haben wir es hier mit einer Differenz im Sinne des Plessnerschen Hiatus zu tun. Aber der Unterschied zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung macht sich gleich wieder am Begriff der Virtualität fest. Phänomenologen trennen einfach nicht zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung. (Vgl. meine Posts vom 04.06.2010 und vom 05.06.2010) Das ist nur im Rahmen einer (digitalen) Informationstheorie des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses möglich, weil hier von den sinnlichen (analogen) Eigenschaften der Gegenstandswahrnehmung abstrahiert wird.

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