„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 23. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Als ich mich in meinen Posts vom 20.11.2011 bis zum 24.11.2011 an einem Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty versuchte, wählte ich ein Kapitel aus Merleau-Pontys „Phänomenologie der Wahrnehmung“: „Der Leib als Ausdruck und die Sprache“. Einerseits schreckte ich davor zurück, das ganze, sehr umfangreiche und inhaltsschwere Buch zu lesen und geistig verarbeiten zu müssen, andererseits hatte ich den Eindruck, daß dieses Kapitel für einen Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty besonders ergiebig sein könnte. Ich hatte dabei einige Textstellen aus Waldenfelsens Buch „Das leibliche Selbst“ vor Augen, in dem Waldenfels sich gegen das Subjekt und insbesondere gegen den Begriff „Ausdruck“ wendet. (Vgl. meine Posts vom 05.01.2011 und 08.01.2011) Da sich Waldenfels dabei in seiner Argumentation u.a. ausgerechnet auf Plessner beruft, der eine sehr pointierte Position zur Expressivität des Menschen bezieht, glaubte ich, daß dies ein ‚Knackpunkt‘ auch für einem Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty sein könnte.

Aus dem genannten Kapitel zog ich den Schluß, daß Merleau-Ponty mit dem Begriff des ursprünglichen Sprechens auf eine Verschmelzung von Ausdruck und Sinn hinaus wollte. (Vgl. meinen Post vom 21.11.2011) Als „ursprüngliches Sprechen“ bezeichnet Merleau-Ponty eine bestimmte Phase des Sprechenlernens, die man insbesondere bei Kindern beobachten kann, wenn sie ihre Muttersprache erlernen. Hier kommen die Dinge, die ansonsten stumm bleiben, selbst zur Sprache, und zwar auf einer Ebene, in der die ganze leibliche Sinnlichkeit des Sprechen lernenden Kindes mit den Dingen – genauer: mit der Wahrnehmung der Dinge – verschmilzt. Ich hatte dieses ästhesiologische Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist im Sprechen in meinem Post vom 21.07.2011 schon als ‚Verstehenshaltung‘ beschrieben. Dabei ging es mir aber vor allem um die verschiedenen ‚Schichten‘ des Bewußtseins, die in der Einheit der Person zusammenspielen, zum Teil auf fungierende, also lebensweltliche Weise, zum Teil aber eben auch ein explizites Selbstbewußtsein ermöglichend.

Bei Merleau-Ponty führt das aber zu einer Verschmelzung von Wort und Sinn. Bei Kindern – die so auch zu Urbildern für das sekundäre Sprechen der Erwachsenen werden – bezeichnen die Worte der Muttersprache die Dinge nicht nur, sondern sie sprechen sie aus. In ihnen kommt eine ansonsten stumme Erfahrung zu Wort. An dieser Stelle greift Merleau-Ponty ein altes phänomenologisches Anliegen auf: „Wie ein Motto fungiert die von Husserl an eine deskriptive Bewusstseinslehre gerichtete Aufgabe: ‚die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung‘ zur Aussprache ihres eigenen Sinns zu bringen.“ (M.-D. 2008, S.137f.)

Da ich selbst mit Plessner davon ausgehe, daß es sich bei ‚Bedeutung‘ und ‚Sinn‘ um Differenzerfahrungen handelt (vgl. meinen Post vom 07.07.2011), in denen wir die Erfahrung des Scheiterns bei der Realisierung unserer Intentionen zur Sprache und damit zu Bewußtsein bringen, hatte ich diese Stellen deshalb auch entsprechend kritisiert, indem ich Merleau-Ponty vorwarf, ein Denker der Authentizität zu sein und nicht ein Denker der Masken- und Rollenspiele wie Plessner. Merleau-Pontys Beschreibung der Schauspielerei als Verschmelzung von Person und Rolle am Beispiel der Phädra bestätigte mich in dieser Auffassung.

Um so erstaunter war ich, als ich zunächst bei meiner Lektüre von Meyer-Drawes „Leiblichkeit und Sozialität“ (1984 (vgl. meine Posts vom 04.12.2011 bis zum 09.12.2011)) immer wieder auf gegenteilige Behauptungen stieß, – sowohl von Meyer-Drawe wie auch von Merleau-Ponty selbst, die beide beteuern, daß er kein Denker der Verschmelzung von Denken und Sein sei, sondern ein Denker ihrer prinzipiellen Nicht-Koinzidenz: „Wie wir an mehreren Stellen unserer Ausführungen betont haben, besteht eine radikale Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Reflexion. Das gilt für die Reflexion der Sozialgenese, die immer zugleich auch Individualgenese ist, genauso wie für eine Theorie der Sprachentwicklung.“ (M.-D. 1984, S.161) – Gerade die Schlußbemerkung zur Sprachentwicklung verweist auf die Unstimmigkeit einer Theorie vom ursprünglichen Sprechen.

Dennoch stieß ich auch bei Meyer-Drawe immer wieder auf Formulierungen wie vom „inkarnierten Sinn“ (M.-D. 1984, S.134 u.ö.), der doch sehr an jenes ursprüngliche Sprechen erinnert, in dem Worte und Dinge miteinander – mir fällt hierfür einfach kein anderer Ausdruck ein – ‚verschmelzen‘. Wenn Merleau-Ponty tatsächlich ein konsequenter Denker der Nicht-Koinzidenz wäre, könnte es eben auch keinen inkarnierten Sinn geben; denn wie sollte man sich eine Inkarnation von Sinn vorstellen, in der Denken und Sein nicht koinzidieren?

Auf zwei Ebenen scheint es mir gerechtfertigt, Merleau-Ponty gegenüber – entgegen seiner eigenen Selbsteinschätzung – von ‚Verschmelzung‘ zu sprechen: auf der Ebene von Ausdruck und Sinn als ursprünglichem Sprechen und auf der Ebene von Sozialität und Leiblichkeit, als einer Ebene der Erfahrung, die jedem individuellen Bewußtseinsakt vorausgeht. Und beides beinhaltet letztlich die individuelle Unentrinnbarkeit der Lebenswelt. Ihr gegenüber wären wir dann prinzipiell unfrei, – was aber letztlich beinhaltet, daß wir tatsächlich immer unfrei wären. Damit wäre Bewußtsein als individuelles tatsächlich unmöglich.

In ihrem Buch „Diskurse des Lernens“ nimmt Meyer-Drawe aber nun durchgängig eine andere Position ein. Hier geht es nicht mehr um Sozialität und Leiblichkeit, sondern eben mit dem Lernen um gerade diese individuelle Freiheit. Dabei wird nicht länger der Frage nachgegangen, wie Sinn inkarniert, sondern es geht mit Plessner um vermittelte Unmittelbarkeit: „Im Lernen zeigt sich wie beim menschlichen Existieren überhaupt das, was Plessner die vermittelte Unmittelbarkeit und die natürliche Künstlichkeit nannte.“ (M.-D- 2008, S.32)

Weder ‚vermittelte‘ Unmittelbarkeit noch ‚natürliche‘ Künstlichkeit meinen so etwas wie ‚inkarnierte‘ Unmittelbarkeit oder ‚inkarnierte‘ Künstlichkeit. Die natürliche Künstlichkeit verweist vor allem darauf, daß dem Menschen seine Künstlichkeit so ‚natürlich‘ ist, wie den Tieren ihre Natur. Eine Unmittelbarkeit kann es bei ihm nicht auf unmittelbare Weise geben, sondern nur als prekären, jederzeit bedrohten Erwerb, wie etwa die Lebenswelt, in die wir hineinwachsen. Die Lebenswelt ist so eine Form vermittelter Unmittelbarkeit, der wir uns nie vollkommen sicher sein können, auch wenn wir um die Lebensweltlichkeit unseres Bewußteinslebens nicht wissen. Deshalb ist es hier unangemessen, von einem inkarnierten Sinn zu sprechen.

Letztlich formuliert Meyer-Drawe selbst genau diese Einsicht, wenn sie schreibt: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein, auch nicht für den Fall, dass das Ich sein eigenes Sein denkt. Die Zweideutigkeit unserer Existenz mündet nicht in eine ursprüngliche Integrität.“ (M.D. 2008, S.139) – Zu dieser Aussage stehen die Theoreme des ursprünglichen Sprechens und des inkarnierten Sinns im Widerspruch.

Letztlich kommt es aber vor allem darauf an, daß Meyer-Drawe Plessners grundlegende These, daß menschliches Bewußtsein erst im Scheitern seiner Intentionen zum ‚Ausdruck‘ kommt, voll und ganz bestätigt: „In dieser Brechung sind sie (die Dinge – DZ) uns zugänglich. Jenseits dieser Matrix breitet sich die Nacht der Identität aus, die jede Artikulation unmöglich macht. Dass unsere Erfahrung nicht mit den Dingen und nicht mit unserer eigenen Vergangenheit verschmelzen kann, bedeutet ‚keine schlechte oder verfehlte Wahrheit, sondern eine privative Nicht-Koinzidenz‘ ..., einen grundsätzlichen Entzug, welcher Sinngebung möglich macht. Um die Welt zu verstehen, darf sie nicht selbstverständlich sein.“ (M.-D. 2008, S.140) – Und: „Gerade der Entzug des Sinns nötigt uns zur Sinngebung, die nicht pure Gebung ist.“ (M.-D. 2008, S.183)

Sinn widerfährt uns dann – wie eine Ohrfeige (vgl.M.-D. 2008, S.189) – und zugleich reflektieren wir ihn und bringen ihn in Form von Sprache zum Ausdruck, ohne daß Denken und Sein verschmelzen. Wir haben es mit zwei Ebenen zu tun, mit Vollzug und Reflexion (vgl. meinen Post vom 10.01.2012), die niemals in einem Sein koinzidieren.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen