„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 20. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11.  Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Ich selbst hatte in einem Post vom 10.09.2011 schon einmal Parallelen zwischen dem Verstehen und der Emergenz als Kontextphänomenen gezogen. Die Parallele bezog sich vor allem auf den Irrationalismus des Übergangs vom Nicht-Wissen zum Wissen (Verstehen) einerseits und von der Gestaltlosigkeit zur Gestalt (von Agglomerationen zu Schwärmen) andererseits. Als ich dann in weiteren Posts Plessner und Merleau-Ponty miteinander verglich, hob ich vor allem den Widerspruch zwischen einer exzentrischen Bewußtseinsorientierung und einer dezentralisierten Leibphilosophie hervor, in dem ‚Gestalt‘ und ‚Emergenz‘ zwei antinomische Bewußtseinsprozesse darstellen. (Vgl. auch meine Posts vom 16.08.2011 und 24.11.2011)

‚Gestalt‘ ‚emergiert‘ nicht, sondern ‚transgrediert‘, d.h. sie fällt nicht aus Kontexten zufällig heraus, sondern aktualisiert einen konkreten Sinn, der sich ungeachtet seiner vielfältigen Bezüge auf identifizierbare Weise durchhält. Gestalten bilden ein aus Teilen bestehendes Ganzes, von dem die Teile sich nicht trennen können, ohne zugrunde zu gehen. ‚Schwärme‘ hingegen ‚transgredieren‘ nicht, sondern ‚emergieren‘, d.h. sie fallen spontan aus Kontexten heraus und aktualisieren eine kurzfristige Illusion von Zusammengehörigkeit. Sie bilden ein heterogenes Ganzes, von dem die Teile sich trennen können, ohne zugrunde zu gehen.

In meiner Auseinandersetzung mit Meyer-Drawes Weiterentwicklung der Merleau-Pontyschen Phänomenologie wendete ich mich insbesondere gegen jenen Aspekt seiner Leibphilosophie, der das Bewußtsein zugunsten einer Aufwertung von dezentralisierten und depersonalisierten Leibphänomenen entwertet. (Vgl. meine Posts vom 06.12.2011 und 08.12.2011) Nachdem ich in diesem Blog die Parallele zwischen Verstehen und Emergenz als Kontextphänomenen also schon angesprochen hatte, witterte ich hier bei Merleau-Ponty und Meyer-Drawe vor allem die Gefahr einer schleichenden Vereinnahmung phänomenologischer Denkansätze durch einen neuen, pseudo-naturwissenschaftlich fundierten Irrationalismus der Komplexitätsforschung, – ‚pseudo-wissenschaftlich‘ vor allem wegen der magischen Suggestivität einer mittels neuester Computertechnologien umgesetzten ‚narrativen Mathematik‘, deren bedenklichster Effekt darin besteht, uns in Platons Höhle zurückzuversetzen, so gebannt von den Computermonitoren, daß es anderer Fessellungen nicht mehr bedarf. (Vgl. meinen Post vom 31.08.2011)

An dieser Stelle aber berühren sich Meyer-Drawes Besorgnisse hinsichtlich der Hirnforschung (vgl. meinen letzten Post vom 19.01.2012) und meine eigenen Besorgnisse. Die hergestellten, konstruierten Realitäten hochtechnologischer naturwissenschaftlicher Forschungsmethodiken verlieren ihren aufklärerischen Wert und tragen nur noch zur Entmündigung des Menschen bei. In Meyer-Drawes Buch „Diskurse des Lernens“ bildet nun die dezentrale Struktur keine begrüßenswerte Alternative mehr zur beklagten Einseitigkeit von Subjekt-Objekt-Differenzierungen, die es zu überwinden gelte. Vielmehr haben wir es hier nur noch mit einer „(h)ervorstechende(n) Eigenschaft des Internets als Netz der Netze“ zu tun. (Vgl. Meyer-Drawe 2008, S.37)

Weit davon entfernt, die Bewußtseinsphilosophie und ihre Subjekt-Objekt-Dualismen überwinden zu wollen, wird nun beklagt, daß die „souveräne Gestalt von Subjektivität ... dem Knoten im Netz Platz gemacht (hat).“ (Vgl. Meyer-Drawe 2008, S.37) – Denn eines kann keine Schwarmintelligenz, kein Netzwerk begreiflich machen: „... wie das Gehirn als ‚extrem dezentral organisiertes System‘ zu einer ‚zusammenhängenden Deutung von Welt‘ gelangt.“ (Vgl. Meyer-Drawe 2008, S.188) – Meyer-Drawe ist offensichtlich durch die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts, seit Erscheinen ihres Buches „Leiblichkeit und Sozialität“ (1984), angesichts der wissenschaftlichen Entwicklung empfindlich geworden für diese schleichende Entmündigung des Verstandes, zu dessen Stärkung dieser Blog vor allem beitragen soll: „Die Tabuisierung rationaler Aufklärung lässt stets aufhorchen. Die Grenzen der Vernunft sollten durch sie selbst bestimmt und nicht diktiert werden.“ (Meyer-Drawe 2008, S.111)

Die Neigung der Phänomenologen, dem Irrationalen das Wort zu reden, gegen rationalistische Verengungen von Wahrnehmung und Erfahrung Position zu beziehen, rührt von einem feinen Gespür für die Gefahren des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Phänomenologen wie Hermeneutiker wissen um die enorme Bedeutung des Vorwissens und – insbesondere wiederum die Phänomenologen – auch um die Bedeutung außersprachlicher Bewußtseinsphänomene. Das ist ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche, wie man am Beispiel Merleau-Pontys sehen kann, der gerade die außer- und vorsprachlichen Bewußtseinsphänomene gegen das Bewußtsein selbst wendet und es so in Frage stellt.

Aber aktuell liegt die Gefahr vor allem darin, daß solche Ansätze gerade von denen bestätigt werden, gegen die sich die phänomenologische Wissenschaftskritik einmal gewandt hatte. Hirnforschung und Phänomenologie begegnen sich in der Destruktion des Bewußtseins. Wo die einen den Leib und seine Vollzüge gegen das Bewußtsein setzen, sprechen die anderen von Informationen, die über Nervenfasern kommuniziert werden (vgl. Meyer-Drawe 2008, S.208), was diese nur noch untereinander und mit sich selbst tun, sich selbst organisierend und geschlossen gegenüber der Außenwelt: „Hirnphysiologisch kann gezeigt werden, dass das Gehirn auf sich selbst reagiert, dass es wie ein selbstreferentielles, operativ geschlossenes System funktioniert.“ (Meyer-Drawe 2008, S.191)

Subjekt ist nicht mehr der Mensch, sondern das Gehirn: „Cerebrale Agenten wie das entscheidende, wählende, kommunizierende und fühlende Gehirn treten an die Stelle des modernen Subjekts.“ (Meyer-Drawe 2008, S.210) – Und: „Sie (die neuronale Maschine – DZ) funktioniert wie ein Datenverarbeitungssystem, das geschlossen operiert, weil es nur auf interne Signale reagiert. Das menschliche Gehirn ist in diesem Zusammenhang zum absoluten Souverän avanciert. Nicht mehr das autonome Subjekt ist das Zentrum, um das alles kreist, sondern das Gehirn, das denkt, kommuniziert, bewertet, entscheidet, interpretiert und lernt.“ (Meyer-Drawe 2008, S.162)

Nicht mehr eine phänomenologische Kritik des Bewußtsein ist also an der Zeit, sondern seine phänomenologische Stärkung: daß der Mensch selbst es ist, der seinen Verstand gebraucht und nicht eins seiner Organe! Und daß es unsere Sinnesorgane sind, die uns mit der Realität konfrontieren, und nicht apparative Technologien, deren Funktionalität wir nicht mehr durchschauen! In der Verteidigung dieser Humanität kommt Meyer-Drawe schließlich zur letzten Konsequenz jeder Leibphilosophie, – der Verknüpfung von Verstand und Körper, zum Körperleib: „Unserem Denken ist eine Auslieferung an die Welt eingeschrieben, welche unüberwindlich ist, so dass wir unsere Vernunft, unseren Verstand oder auch unseren Geist verfehlen, wenn wir sie ohne Körper begreifen wollen.“ (Meyer-Drawe 2008, S.212)

Hierin, in dieser Verknüpfung von Verstand und Körper, hat der phänomenologische Hang zum Unmittelbaren und zum Irrationalen sein Recht. Das eine darf aber nicht gegen das andere ausgespielt werden.

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