„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 19. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt. 
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Rousseau verwendet in seinem Roman „Emile oder über die Erziehung“ große Sorgfalt auf die Frage, wie Emile am besten lernt, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 05.06.2010) Um zu vermeiden, daß er sich daran gewöhnt, sich der Autorität anderer, erfahrenerer Menschen als er selbst zu unterwerfen, schlägt er vor, seine Erziehung in der Kindheit, also bis in die Vorpubertät, ganz auf die Ausbildung seiner Sinnesorgane zu konzentrieren. (J.-J. Rousseau, Emile, Stuttgart 1963,S.109ff., 2. & 3. Buch) Emile soll lernen, ihre jeweiligen Leistungen zu unterscheiden und zu prüfen, um nicht zu falschen Schlußfolgerungen hinsichtlich dessen zu gelangen, was er mit ihrer Hilfe wahrnimmt. Die Natur ist hierbei Gegenstand und Lehrmeister in einem. Sie stellt sowohl die Gegenstände als auch die Mittel ihrer Wahrnehmung in Form der Sinnesorgane bereit, ohne irgendwelche an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Die Antworten muß sich Emile im übenden Gebrauch seiner Sinnesorgane mithilfe seines Verstandes selbst geben: „Da er gezwungen ist, sich alles selbst beizubringen, braucht er seinen eigenen Verstand und nicht den anderer: denn um nichts auf die Meinung der anderen zu geben, darf man auch nichts auf die Autorität geben. Die Mehrzahl unserer Irrtümer kommt viel weniger aus uns selbst als von den anderen.“ (Rousseau 1963, S.435)

Dabei sind es bis zur Pubertät vor allem Fragen der Nützlichkeit und der Notwendigkeit (Rosseau 1963, S.209f.), die den Verstand des Kindes beschäftigen, und nicht die letztlich metaphysischen oder moralischen Fragen nach dem Wesen der Dinge: „Er versucht keineswegs, die Dinge an und für sich zu erkennen, sondern nur in den Beziehungen, die ihn angehen.“ (Rousseau 1963, S.436)

Das herausragende Kennzeichen einer Erziehung durch die Natur und die Dinge ist deren Stummheit. (Vgl. Rousseau 1963, S.109ff.) Alle beredten Erkenntnisquellen von den Mitmenschen bis zu Büchern oder Unterrichtsmedien in Form von Modellen und Apparaten hindern das Kind daran, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, weil sie ihn mit schon vorgefertigten Antworten in Form von Vorurteilen vereinnahmen:„Unsere ersten Philosophielehrer sind unsere Füße, unsere Hände, unsere Augen. Das alles durch Bücher zu ersetzen, heißt nicht, uns denken lehren, sondern uns der Gedanken anderer bedienen, es heißt, uns lehren, viel zu glauben und nie etwas zu wissen.“ (Rousseau 1963, S.276)

Als Beispiel für die Unbrauchbarkeit von Modellen führt Rousseau ein aus Pappen und Drähten zusammengehaltenes Modell des Sonnensystems an, das dem Kind falsche Informationen über die wirklichen Größenverhältnisse im Sonnensystem liefert und außerdem das Auge durch die zusätzliche Papp- und Drähtemechanik in die Irre führt. (Vgl. Rousseau 1963, S.361) Indem sich das Kind der ‚Autorität‛ dieses Modells beugt, wird es also nicht nur mit falschen Informationen belastet, sondern es lernt auch, den eigenen Sinneseindrücken zu mißtrauen. Bei abendlichen und frühmorgendlichen Spaziergängen zur Beobachtung des Sonnenuntergangs und Sonnenaufgangs lernt Emile mehr über das Sonnensystem, als ihm irgendwelche Modelle und Apparate vermitteln können. (Vgl. Rousseau 1963, S.356ff.)

Wenn also unser Verstand durch Modelle und Apparaturen entmündigt wird, weil diese sich zwischen die Natur und die Dingwelt auf der einen Seite und den menschlichen Sinnen auf der anderen Seite schieben und den Verstand so mit einer schon vorstrukturierten Welt konfrontieren, was bedeutet das dann für die gegenwärtige Konjunktur der Hirnforschung? Meyer-Drawe zufolge beginnt die stumme Natur hier nämlich wieder zu sprechen. Ähnlich wie Rousseau den von Menschen gemachten Modellen mißtraut, weist Meyer-Drawe auf den mehrfachen Artefaktcharakter (vgl.M.-D. 2008, S.31, 74) der mittels mathematischer Verfahren sichtbar gemachten Schnittbilder des Gehirns hin: „Bilder der funktionellen Magnetresonanztomographie oder der Positronen-Emissions-Tomographie verstehen sich nicht von selbst. Wir haben die Formen bereitgestellt, in denen die Natur unseren Fragen Antwort gibt. Wie kommen wir darauf, dass sie plötzlich wieder von selbst spricht?“ (M-D. 2008, S.92)

Nicht nur, daß mittels aufwendiger technologischer Apparaturen und chemischer und physikalischer Zugriffe auf die Gehirnaktivitäten der Eindruck naturwissenschaftlicher Objektivität erzeugt wird und mittels mathematischer Verfahren aus dem überkomplexen ‚Rauschen‛ von zig Milliarden von Nervenimpulsen ‚Informationen‛ herausgefiltert werden, mit deren Hilfe wiederum Computerbilder generiert werden, die suggerieren, wir hätten es hier mit „Abbilder(n) der Natur“ (M.-D. 2008, S.31) zu tun, – darüber hinaus wird auch den subjektiven Äußerungen von Versuchspersonen zu subjektiven Willensakten der Status empirisch erhobener Daten zugesprochen: „Die Versuchsleiter bleiben bei der Suche nach einem neuronalen Korrelat des Vollzugs auf die Antwort der Probanden angewiesen, also letztlich auf Introspektion sowie Glaubwürdigkeit und damit auf vorwissenschaftliche, wenn nicht gar unwissenschaftliche Größen. Beide wurden seit Beginn der Etablierung empirischer Erforschungen menschlicher Möglichkeiten stets verdächtigt, für objektive Aussagen untauglich zu sein. Nun wächst ihnen bei jeder Auslegung der Bilder einer enorme Bedeutung zu.“ (M-D., 2008, S.77)

Wo die Naturwissenschaft sonst den Einfluß des subjektiven Bewußtseins in ihren Laboren und Experimenten auszuschalten versucht, wo immer sie kann, um zu ‚objektiven‛ Ergebnissen zu kommen, werden plötzlich Methoden der mathematischen Quantifizierung mit subjektiven ‚Eindrücken‛ korreliert, und siehe da: die daraus hervorgehenden Schnittbilder, die bestimmte Bereiche des Gehirns farbig hervorheben, werden zu objektiven Forschungsergebnissen, deren Aussagekraft wir uns unterwerfen müssen, weil wir den verborgenen Interpretationsprozeß, aus dem sie hervorgegangen sind, nicht mehr durchschauen können. – Hier hatten Pappe und Drähte zu Rousseaus Zeiten immerhin noch den Vorteil, dort, wo sie das Auge verwirren, die künstliche Mechanik sichtbar zu machen.

An dieser Stelle kommen wir nun zu einer weiteren Ehrenrettung der bislang in diesem Blog stets so negativ besprochenen Lebenswelt. Wo sie von mir sonst immer als Behinderung eines eigenständigen Verstandesgebrauchs dargestellt wurde, hat sie nun nicht nur selbst etwas zu diesem Verstandesgebrauch beizutragen, sondern sie wird jetzt sogar zu der Plattform, auf der sich unser Verstand gegenüber den pseudo-realistischen Schnittbildversionen von Bewußtseinsprozessen zu behaupten vermag: „Wer kann daran zweifeln, dass sich uns in der Theorie entzieht, was in unserem Alltag fungiert: die Verständigung mit anderen, die Vertrautheit mit uns selbst sowie schließlich das Erkennen der Dinge. Wie fremd muss man sich geworden sein, um das Schnittbild eines menschlichen Gehirns für anschaulicher zu halten als die eigene Erfahrung des freien Willens?“ (M.-D. 2008, S.174f.)

Die Lebenswelt, in der wir uns verhalten, hat ihre eigene Anschaulichkeit, ihre eigene phänomenale Würde. Daß wir uns nicht zu ihr verhalten können, macht uns einerseits ihr gegenüber unfrei, bildet aber zugleich, in Form des leiblichen Weltglaubens (vgl. meinen Post vom 13.01.2012), eine unbezweifelbare Basis, die wir nur aufgeben können, wenn wir uns selbst und unsere geistige Gesundheit aufgeben. Daß diese geistige Gesundheit tatsächlich bedroht ist, zeigt Meyer-Drawes Schlußbemerkung im letzten Zitat, daß wir nämlich begonnen haben, Artefakten (Schnittbildern) mehr zu glauben als der eigenen leiblich-sinnlichen Anschauung.

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