„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 12. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens 
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
In meinem Post vom 09.01.2012 war es schon angeklungen: es gibt ein grundlegendes Problem des Lernens mit dem Anfangen. Lernen bildet eine spezielle Vollzugsform, die sich von anderen Erfahrungsvollzügen wie etwa „sich freuen, sich täuschen oder auch geboren werden, altern und aufwachen“ (vgl. M.-.D. 2008, S.151) darin unterscheidet, daß wir nicht darauf warten können, daß sie sich zur rechten Zeit einstellt. Das gilt zwar u.a. auch für das Aufwachen, aber dafür stehen uns technische Mittel wie der Wecker zur Verfügung, so daß wir das Aufwachen problemlos herbeiführen können. Daß auch der Zeitpunkt für das Geborenwerden medizintechnisch herbeigeführt werden kann, ist ebenfalls bekannt, wenn das auch nicht so problemlos ist wie das Wecken. Insgesamt aber haben wir es hier bei diesen Vollzügen damit zu tun, „dass wir selbst daran beteiligt sind, ohne sie auszulösen.“ (Vgl. ebenda)

Das Lernen können wir aber heutzutage weder einfach sich selbst überlassen, indem wir gelassen darauf warten, daß es sich zur rechten Zeit von selbst vollzieht, noch können wir es mit Hilfe von Weckern oder Medikamenten herbeiführen, obwohl letzteres – Stichwort enhancement – inzwischen tatsächlich zu einer weitgehend tolerierten Modeerscheinung geworden ist. Trotz dieser bezeichnenden Verzweiflungsakte, Lernen zu erzwingen, ist und bleibt es ein pädagogisches Paradox von der Art eines „Sei spontan!“. So wenig wir damit anfangen können, spontan zu sein, können wir aufgrund einer einfachen Willensentscheidung damit anfangen zu lernen.

Hinzu kommen pädagogische Pseudotheorien, die das Verständnis und damit einen adäquaten Umgang mit dem Lernanfangsproblem zusätzlich erschweren. Bei diesen pädagogischen Pseudotheorien, oft mit reformpädagogischen Schlagworten verquickt, handelt es sich um Phrasen wie „lebenslanges Lernen“ (M.-D. 2008, S.147) oder „Lernen des Lernens“ (M.-D. 2008, S.187). Die Phrase vom „lebenslangen Lernen“ verdeckt nämlich, daß Lernen immer einen Anfang nehmen muß, daß Lernen also eine besondere Erfahrungsform darstellt. Sie suggeriert, daß eigentlich alles Lernen ist und daß wir deshalb immer schon lernen. Und weil wir eigentlich immer schon lernen, brauchen wir damit gar nicht erst anzufangen.

Woran erinnert das? – In meinem Post vom 30.09.2011 zu Sloterdijk hatte ich schon darauf hingewiesen, daß dessen so radikal klingende Formel „Du mußt Dein Leben ändern!“ letztlich folgenlos bleibt, weil Sloterdijk feststellt, daß wir unser Leben sowieso ständig ändern, und deshalb gar nicht eigens damit anfangen müssen. So ist es auch mit dem lebenslangen Lernen: da wir schon immer lernen, brauchen wir auch gar nicht mehr damit anzufangen:„Dass dies überhaupt ein Problem ist, wird heute mitunter kaum bemerkt, weil Lernen als ein lebenslanger Prozess betrachtet wird, der kein Ende findet und welcher bereits vor der Geburt beginnt.“ (M.-D. 2008, S.147)

Dieser lernverhindernde Effekt der Phrase von lebenslangen Lernen wird durch die Phrase vom „Lernen des Lernens“ verstärkt. Letztere suggeriert nämlich, daß es gar nicht mehr auf die Inhalte ankommt, auf das, was gelernt wird, sondern nur auf die ständige Bereitschaft und Fähigkeit, sich den wechselnden Umständen, insbesondere den jeweiligen beruflichen Anforderungen erfolgreich anzupassen. Eine „reibungslose, hochtourige Anpassung in einer stressfreien Atmosphäre (ist) das Ideal der Zeit ... In den derzeitigen Technologien zur Produktion von Mitgliedern der globalisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum für einen Mangel. Kumulation ist das entscheidende Stichwort ..., Anpassung die erfolgreiche Aktion.“ (M.-D. 2008, S.15)

So führt also gerade das Verständnis von Lernen als kontinuierlicher Kumulation von Informationen zu einer „Inhaltsarmut“ (M.-D. 2008, S.207) des Lernbegriffs, die die Welt gerade jener Gegenstände entleert, die echte Lernanfänge veranlassen könnten. Auch mit der Phrase vom Lernen des Lernens wird also einerseits der Umfang des Lernbegriffs ‚immens ausgeweitet‘, wie Meyer-Drawe schreibt, und zugleich wird der Lernbegriff jeder Bedeutung beraubt: „Der Preis dieser immensen Ausweitung des Lernverständnisses ist eine zunehmende Verallgemeinerung, bei der schließlich die Differenz zu anderen Veränderungen und die Lerninhalte keine Rolle mehr spielen. Die genuin pädagogische Auffassung gerät aus dem Blick, dass nämlich jedes Lernen Lernen von etwas durch jemand Bestimmten, bzw. durch etwas Bestimmtes ist.“ (M.-D. 2008, S.18)

Das wissenschaftliche Problem mit dem Lernanfang besteht einfach in dem aporetischen Verhältnis von Vollzug und Reflexion. Der Lernanfang läßt sich weder beobachten noch reflektierend auf den Begriff bringen: „Viel häufiger ist wohl ein Anfangen, das sich als solches erst im Rückblick erweist und das sich didaktisch sowie methodisch nur sehr schwer verwirklichen lässt. Es reagiert nicht auf einen Mangel an Erkenntnis, sondern nistet in einem Überschuss an Welterfahrung. Dabei handelt es sich um ein erstes Mal, das ohne Zeugen bleibt, weil es um die Eröffnung eines neuen Verständnishorizontes geht, wenn etwa im schulischen Lernen die spezifische wissenschaftliche Blickweise gegen das lebensweltliche Meinen gesetzt wird.“ (M.-D. 2008, S.146)

So haben wir es also beim Lernanfang mit einem grundlegenden anthropologischen Phänomen zu tun: „Die Frage nach dem Anfang des Lernens nähert sich der Frage nach dem Anfang der menschlichen Existenz.“ (M.-D. 2008, S.147) – Meyer-Drawe verortet das Lernen damit auf einer existentiellen Ebene, und sie verwendet dabei Beschreibungsformen, die mich an Eugen Herrigels „Zen in der Kunst des Bogenschiessens“ (o.O. 20/1981) erinnern. Dort wird der Schüler im Bogenschießen als „Anfänger“ beschrieben, der tatsächlich ein Problem mit dem Anfangen hat. Als dieser sich bei seinem Meister beklagt, daß es ihm einfach nicht gelingen will, nach dem Spannen des Bogens und den damit verbundenen Konzentrationsübungen, die er sich mühsam in einem jahrelangen Prozeß der Versenkung und des Trainings (Sloterdijk!) angeeignet hat, die Bogensehne loszulassen, antwortet dieser: „Sie haben nur zu gut beschrieben ... wo für Sie die Schwierigkeit liegt. Wissen Sie, weshalb Sie auf den Abschuß nicht warten können und weshalb der Atem in Not gerät, bevor er gefallen ist? Der rechte Schuß im rechten Augenblick bleibt aus, weil Sie nicht von sich selbst loskommen. Sie spannen sich nicht auf die Erfüllung hin, sondern warten auf Ihr Versagen. Solange dem so ist, bleibt Ihnen keine andere Wahl, als ein von Ihnen unabhängiges Geschehen selbst hervorzurufen, und solange Sie es hervorrufen, öffnet sich Ihre Hand nicht in der rechten Weise ...“ (Herrigel 20/1981, S.40f.)

Damit haben wir in diesem Zitat alle Momente eines echten Vollzugs, wie Meyer-Drawe ihn beschreibt und auf die ich schon zu sprechen gekommen bin: das Problem, daß etwas beginnen muß, an dem ich beteiligt bin, das ich aber nicht planend bzw. reflektierend herbeiführen kann. Wir haben es beim Bogenschießen im Sinne des Zen mit einem „unabhängigen Geschehen“ zu tun, also mit einem Vollzug. Und es wird vom „rechten Augenblick“ des Loslassens gesprochen, was an den „Kairos“ im Meyer-Draweschen Sinne erinnert. (Vgl. meinen Post vom 07.12.2011) In „Diskurse des Lernens“ spricht Meyer-Drawe von der mit dem Problem des Lernanfangs verbundenen Frage nach dem richtigen Augenblick: „Die Frage drängt sich auf, wie man auf etwas stößt, was fungierende Selbstverständlichkeiten sowohl im Hinblick auf die Selbsteinschätzung als Wissender als auch die Überzeugung, sich in Bezug auf die Sache auszukennen, außer Kraft setzt. ... Diese eigentümliche Struktur eines kritischen Moments im Lern- und Lehrprozess soll im Folgenden mit Hilfe des Verständnisses von kairos erläutert werden ...“ (M.-D. 2008, S.141; vgl. auch: S.145)

Bei „fungierenden Selbstverständlichkeiten“ handelt es sich immer um die Lebenswelt, die in gewisser Weise selber ein „Vollzug“ ist, so wie das Lernen: wir sind an ihr auf subjektlose Weise ‚beteiligt‘. Aber anders als z.B. das Lernen hat die Lebenswelt keinen Anfang und kein Ende. Sie fungiert, d.h. sie bestimmt uns im Hintergrund, ohne daß es uns bewußt wird. Der Kairos ist nun jener Moment, der uns aus der Lebenswelt heraus-‚stößt‘ oder – wie ich es hier immer gerne formuliere – aus ihr ‚herausfallen‘ läßt. Dabei steckt im ‚Kairos‘ eine Menge mehr an Subjektivität, als wir dem Lernvollzug hier bislang zugebilligt hatten. Er bezeichnet nämlich genau jenen Moment des Ergreifens einer Gelegenheit, den der Zen-Meister in Herrigels Buch mit dem Öffnen der Hand beim Loslassen der Bogensehne beschreibt. Es ist also ein Ergreifen und Loslassen in einem, nicht anders als das Lachen oder Weinen bei Plessner, wo wir ebenfalls uns selbst loslassen und uns im Akt des Loslassens aus einer ausweglosen Situation befreien. – Daß aber Lernen möglicherweise etwas mit der Kunst des Bogenschießens zu tun haben könnte, wird vielen Spaßideologen und Effektivitätsfanatikern der derzeit gängigen Lerntheorien sicher nicht gefallen.

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