„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 9. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denkenund Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Die Lebenswelt wurde bisher in diesem Blog zwar als ein Bewußtseinsphänomen beschrieben, aber zugleich auch als ein Widerpart kritischen Selbstbewußtseins, eines eigenständigen Verstandesgebrauchs. In dieser Konstellation hatte ich die Möglichkeit eines eigenständigen Verstandesgebrauchs in einer je individuellen Verhältnisbestimmung von Naivität und Kritik gesehen, wobei ich die Naivität als das subjektive Moment der Lebenswelt verstand, insofern auf einer ersten, frühen Ebene des Bewußtseinslebens dieses vollständig und ununterscheidbar mit der Lebenswelt verschmilzt, dann aber aufgrund von körperlichen oder psychischen Irritationen, vom Niesen bis zum Trauerfall, aus dieser Lebenswelt herausfällt, so daß sich dem individuellen Bewußtsein die Möglichkeit einer zweiten Naivität eröffnet und diese ihm so zu einem kognitiven Werkzeug, zu einem Erkenntnismittel werden kann. Von nun an können Intuition und Logik, Naivität und Kritik sich wechselseitig begrenzen und stützen.

Was ich bis jetzt nicht berücksichtigt hatte, ist, daß der Lebenswelt selbst mit der Neubestimmung der Naivität ein bewußtseinserweiterendes Moment nicht mehr abgesprochen werden kann. Sie bildet nicht mehr nur ein Erkenntnishindernis. Und das nicht nur im Sinne einer zweiten Naivität, die uns erst im Nachhinein, im Durchschauen der ersten Naivität, nützlich wird. Die Lebenswelt bildet vielmehr von vornherein eine unhintergehbare Basis auch des kritischen Bewußtseinslebens, insofern ihm die allermeisten Gegenstände, aus denen sich dieses Bewußtseinsleben bildet, allererst aus der Lebenswelt zuwachsen. Und damit kommen wir hier schon dicht an jene Inter-Faktizität heran, die ich in meinen Posts vom 04.12.2011 bis zum 09.12.2011 bisher so kritisch besprochen hatte.

In ihrem Buch „Diskurse des Lernens“ spricht Meyer-Drawe allerdings nicht mehr von Inter-Faktizität, sondern vom ‚Appell der Dinge‘: „Dinge besitzen einen Aufforderungscharakter. Sie appellieren, mit ihnen zu hantieren.“ (M.-D. 2008, S.179) – An anderer Stelle spricht Meyer-Drawe vom ‚Appell des Milieus‘: „Wir sind nicht nur das, was wir ererbt haben, sondern unsere Möglichkeiten entfalten sich mit Hilfe der Appelle unseres Milieus.“ (M.-D. 2008, S.192) – So verknüpft sie Milieu und Dinge, Lebenswelt und Naturwelt zu einem komplexen Welthorizont, der das notwendige Korrelat zu jedem Bewußtsein bildet: ohne Welt keine Gegenstände, ohne Gegenstände aber, als den „Erfahrungsmöglichkeiten“ schlechthin (vgl.M.-D. 2008, S.180), kein Bewußtsein: „Diese Welt, in der wir leben, ist eine Welt der Dinge, auch derer, die wir gemacht haben und an denen wir unsere Spuren hinterlassen haben.“ (M.-D. 2008, S.212) – Damit eröffnet sich aber ein Aspekt der Lebenswelt, der weit über die Milieubefangenheit des individuellen Bewußtseins hinausweist.

Die Lebenswelt wird so zu einem Sinnmedium, das nun auch die Naturwelt umfaßt. Denn ob wir es nun mit gemachten Dingen, also mit Artefakten zu tun haben, oder mit nicht-gemachten Naturdingen – sie nehmen uns in Anspruch, und in diesem Inanspruchgenommenwerden durch die Dinge besteht das grundlegende bewußtseinsweckende Moment der Lebenswelt. Unser Bewußtseins-Leben ‚lebt‘ im Umgang mit den ‚Dingen‘: als Lebenswelt bzw. – um es mit dem hier bislang so kritisch besprochenen Begriff zu formulieren – als Inter-Faktizität!

Natürlich stellt sich aber weiterhin die Frage, wie sich das Bewußtsein aus dieser lebensweltlichen Verstrickung mit den Dingen befreien kann. Denn auch weiterhin gilt ja, daß die Lebenswelt uns am eigenständigen Verstandesgebrauch hindert, während ebenfalls gilt, daß sich unser Bewußtseinsleben ohne Gegenstände nicht durchhalten kann: ohne Gegenstände kein Bewußtsein. Hier führt Meyer-Drawe nun ihren Lernbegriff ein. Lernen, wie es Meyer-Drawe beschreibt, beinhaltet vor allem das Problem, wie wir uns von den Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Bewußtseinslebens befreien können, um unseren Gegenständen gegenüber einen Spielraum des Nicht-Wissens zu gewinnen. Denn erst in diesem Fraglich-Werden selbstverständlichen Wissens, im Nicht-Wissen, besteht der Anfang jeden Lernprozesses: „Der Fortschritt der Erkenntnis erfordert einen Bruch mit der vertrauten Sicht der Dinge. Denn so, wie wir durch unsere Gewohnheiten in unsere Lebenswelt eingegliedert werden, so werden wir durch sie in Schlingen des Selbstverständlichen gefangen gehalten. Etwas Neues in Erfahrung zu bringen, heißt aber Lernen. Dies ist der Vollzug, in dem das Zutrauen zu prärationalen Konventionen gestört wird und in dem das Fremde in das Vertraute einbricht.“ (M.-D. 2008, S.14)

Spätestens hier wird also deutlich, daß die Lebenswelt nicht nur eine „Welt der Dinge“ bildet, die unser Bewußtsein in Anspruch nehmen, sondern diese Dinge zugleich ebenso viele Leimruten darstellen, an denen es kleben bleibt, so daß es zu keinem eigenständigen Verstandesgebrauch kommen kann. Um also einen Lernprozeß beginnen zu können, der eben nicht darin besteht, schon Bekanntes zu bestätigen und zu bekräftigen, muß dieses schon Bekannte einen Stoß erhalten, bzw. der Verstand muß einen Stoß erhalten, wie der Schlag mit dem Stock bei meditierenden Buddhisten. Dieser ‚Stoß‘ bzw. ‚Schlag‘ kann in einem Staunen bestehen, in einer Irritation, in einer Benommenheit: „Immer wieder werden ... im Verlaufe unserer Argumentation das Staunen, das Stutzen und damit die zeitliche Struktur des Lernens Beachtung finden. Staunen und Verwunderung durchtrennen die fließende Zeit und verursachen eine Art Starre, einen Zustand der Benommenheit, dessen Bedeutung für den Lehr-Lernprozess bereits Sokrates zu schätzen wußte.“ (M-D. 2008, S.28)

Erst diese Bewußtseinsverwirrungen, die das Bewußtseinsleben stören, suspendieren es von seiner Befangenheit durch die Lebenswelt. Lernen ist demnach nicht etwas, das Spaß machen muß, wie uns die Hirnforscher gerne einreden, wobei sie zugleich gerne gönnerhaft auf die ‚Erkenntnisse‘ der Reformpädagogen verweisen, die solches – ‚selbstverständlich‘ – schon immer längst gewußt haben. Wie sie beteuern, lernen wir am effektivsten, wenn wir Spaß haben beim Lernen. In der Tat! Der erste Philosophenpädagoge der Neuzeit, der auf die Bedeutung des Spaßfaktors hingewiesen hatte, John Locke, hatte schon um die lebensweltliche Macht des Spaßlernens gewußt. Gerade weil Spaß nichts Befreiendes hat, sondern im Gegenteil etwas extrem Involvierendes, Gefangennehmendes, war ihm nämlich der Spaß beim Lernen so wichtig. Denn wenn dem angehenden Gentleman, der angehenden Lady die Etikette ihres Standes in Fleisch und Blut übergehen sollte, wenn ihnen die Etikette zur zweiten Natur werden sollte, dann gelang dies am besten auf spielerische Weise. Denn wenn etwas  Spaß macht, im Spiel, eignen wir es uns auf eine Weise an, die unserem Bewußtsein entgeht. Ohne daß wir die Chance haben, das, was uns widerfährt, zu bewerten und zu hinterfragen, wird es Teil unserer selbst, als zweite Natur, als Lebenswelt. – Das Spiel war bei John Locke kein Spaß, sondern blutiger Ernst!

So hält auch Meyer-Drawe fest: „Es reicht jedoch nicht, einfach zu beteuern, dass Lernen Spaß machen müsse und Kinder lediglich unterstützend begleitet werden sollen. Was – wenn kaum Schätze aus welchen Gründen auch immer zu bergen sind? Es gibt eine andere Seite des Lernens, welche nicht ohne weiteres zu Tage fördert, was lediglich auf seine Entdeckung wartet. Es gibt jenes Lernen, das dort beginnt, wo die eigene Kapitaleinlage fragwürdig und man sich selbst als Eigner zweifelhaft wird.“ (M.-D. 2008, S.31) – So ist der Spaßfaktor nicht nur ein Lebensweltfaktor, der verhindert, daß wir uns unseres Wissensbesitzes, unserer Kreativität, unserer verborgenen Begabungen: unseres ‚Kapitals‘ eben, unsicher werden, sondern – da hier ja erst das eigentliche Lernen beginnen kann – er behindert auch das Lernen überhaupt.

So gehören also zur Lebenswelt immer diese zwei Momente: Inanspruchnahme und Suspension, so wie es zum eigenständigen Verstandesgebrauch eines stets individuellen Verhältnisses aus Naivität und Kritik bedarf. In diesem Sinne bildet die Lebenswelt tatsächlich eine unhintergehbare Voraussetzung des subjektiven Bewußtseins, und sie kann ihm deshalb logisch vorgeordnet werden, wie es Meyer-Drawe in „Leiblichkeit und Sozialität“ (1984) tut. Aber zu dieser logischen Vorausgesetztheit gehört eben immer auch die Möglichkeit, aus ihr herauszufallen, so daß sie als zweite Naivität zu einem Mittel der individuellen Urteilskraft werden kann. Denn erst dann beginnt, wie Meyer-Drawe deutlich genug macht, die Möglichkeit des Lernens.

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