„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 22. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

In „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ hält Plessner fest, daß man nicht über den Menschen sprechen kann, ohne eine positive Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur vorzunehmen: „Die Theorie der Geisteswissenschaft braucht Naturphilosophie, d.h. eine nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurückwirkt.“ (Plessner 1975/1928, S.26) – In „Die Einheit der Sinne“ ist vom „erlebnismäßige(n) Hineinragen der Natur in das seelische Sein“ die Rede.  (Vgl. Plessner 1980/1923, S.174) – In „Lachen und Weinen“ umschreibt Plessner die Natur des Menschen mit folgenden Worten: „Die Natur hat ihn als eine Existenz mit doppeltem Boden geschaffen, mehreren Ebenen und Aspekten angehörig, auf welche sich die widerstreitenden Kräfte verteilen ...“ (Plessner 1950/1941, S.116)

Plessner hat also keine Berührungsprobleme mit dem Naturbegriff, weder mit der Natur, aus der der Mensch herkommt (Biologie), noch mit der Natur, die er bearbeitet (Kultur), noch mit der Natur, die er seinem Wesen nach ist, und sei sie letztlich auch nur negativ bestimmbar als Entzweiung mit sich selbst. Das ist eigentlich auch nicht anders zu erwarten, wenn jemand vom Leib her und auf den Leib hin denkt. Wer immer den Leib in seine Überlegungen zum Menschen mit einbezieht, kann einer Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur nicht ausweichen. Einfach nur zu postulieren, daß alles, was den Menschen betrifft, künstlich sei, artifiziell oder kulturell bedingt, reicht nicht aus.

Deshalb war ich schon sehr überrascht, bei Merleau-Ponty auf folgende Textstelle zu stoßen: „Es geht schlechterdings nicht an, beim Menschen eine erste Schicht von ‚natürlich‘ genannten Verhaltungen und eine zweite, erst hergestellte und darübergelegte Schicht der geistigen oder Kultur-Welt unterscheiden zu wollen. ...“ (Merleau-Ponty 1966, S.224) – War denn bislang nicht immer vom Leib und von der Leiblichkeit als wesentlichen Bestimmungen des menschlichen Weltverhältnisses die Rede gewesen? Es macht biologisch einfach keinen Sinn, dessen Naturausstattung zu leugnen; wie es dann übrigens noch auf der selben Seite auch Merleau-Ponty zugesteht, wenn er schreibt, daß der Mensch dem „biologischen Sein“ „einiges“ „verdankt“. Leider versäumt es Merleau-Ponty, diese Aussage mit jener anderen über die Nicht-Unterscheidbarkeit einer „natürlichen Schicht“ zu verbinden und zu erklären, inwiefern etwas, das einerseits „schlechterdings“ irrelevant ist, andererseits doch wieder „einiges“ bewirkt haben soll.

Trotz dieses verwirrenden Hin und Hers zum Naturbegriff, findet Merleau-Ponty doch zu einer durchaus interessanten Definition für ‚Kultur‘, nämlich als dem Gebrauch, den wir von unserer biologischen Ausstattung machen: „Der bloße Umstand, daß zwei bewußte Wesen dieselben Organe und dasselbe Nervensystem besitzen, bewirkt noch keineswegs, daß dieselben Erregungen sich beim einen wie beim anderen in denselben Zeichen äußern. Entscheidend ist vielmehr die jeweilige Art und Weise des Gebrauchs des Leibes der in der Emotion in eins vollzogenen Formgebung von Leib und Welt. ... Der Gebrauch, den der Mensch von seinem Leibe macht, transzendiert den Körper als bloß biologisch Seiendes.“ (Merleau-Ponty 1966, S.223f.)

Wenn wir einmal davon absehen, daß Merleau-Ponty hier eine für seinen eigenen Ansatz befremdliche Abstraktion vornimmt, nämlich das Ablösen der Physiologie vom Leib, die im Unterschied zum Leib noch keine Individualisierung ermöglicht, – einmal abgesehen davon, daß es doch eigentlich genau diese Physiologie ist, in die hinein sich das leibhafte Weltverhältnis emotional und motorisch vermittelt, – davon also abgesehen erfaßt er mit dem „Gebrauch“, den wir von all dem machen, genau jenen Freiraum, der das Verhältnis von Natur und Kultur bestimmt.

Denn neben dem Bewußtsein bildet die Kultur selbstverständlich genau jenen geistigen Freiraum, der es uns ermöglicht, „Gebrauch“ von ‚der‘ Natur zu machen, – handle es sich dabei nun um die Natur unserer Umwelt oder um die biologische Natur unseres eigenen Leibes. Aber die Freiheit dieses Gebrauchs der Natur ist selbstverständlich überhaupt kein Grund, ihr gegenüber die Natur selbst als bedeutungslos abzutun. Die Frage ist vielmehr, wie dieser Freiraum möglich wird und welche Rückschlüsse sich daraus für ‚die‘ Natur des Menschen ergeben.

Was bei Merleau-Ponty letztlich nicht thematisch wird, ist, daß die „jeweilige Art und Weise des Gebrauchs“ nicht nur einen Freiraum voraussetzt. Der Freiraum selbst braucht auch eine Differenz, aus der heraus er sich öffnen kann. Diesen Freiraum eröffnet bei Plessner der Körperleib, also die Physiologie bzw. seine Anatomie, die ganz und gar nicht kontingent ist, sondern notwendig, im Sinne von Plessners Einheit der Sinne! Erst die Differenz des Körperleibs gibt Raum für den Gebrauch von Sensorik und Motorik.

Als ähnlich befremdlich – wiederum von seinem eigenen Ansatz her – empfinde ich es, wenn Merleau-Ponty sich weigert, zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen zu differenzieren: „Das künstliche Zeichen läßt sich aus keinem natürlichen herleiten, da es beim Menschen natürliche Zeichen gar nicht gibt, und die Annäherung der Sprache an emotionale Ausdrücke kompromittiert nicht ihr Spezifisches, da auch die Emotionen, als Weisen unseres Zur-Welt-Seins, zur mechanischen Anlage unseres Körpers im Verhältnis der Kontingenz stehen und dasselbe Vermögen, Reizen und Situationen Gestalt zu geben, das in der Sprache seine höchste Ausbildung findet, auch ihnen schon eignet.“ (Merleau-Ponty, S.223)

Wie kann es in Merleau-Pontys Phänomenologie so etwas wie eine „mechanische Anlage des Körpers“ geben, von der sich die Emotionen als kontingente Weisen unseres Zur-Welt-Seins unterscheiden lassen? Entweder bildet der Leib als Körper ein unhintergehbares Fundament unserer Weltlichkeit, dann kann ich davon nicht nochmal eine körperliche Physiologie als leblose Mechanik abspalten. Oder der Leib stellt nur eine Bewußtseinsfunktion dar und besteht letztlich nur als kulturelle Prägung. Im letzteren Falle würde die Natur tatsächlich keine Rolle spielen. Im ersteren Falle aber bildet die Natur als ganze, bis in die physiologischen Prozesse hinein, eine unhintergehbare Voraussetzung aller Lebensäußerungen des Menschen.

Damit ist dann noch nichts über die Kontingenz oder die Notwendigkeit dieser Lebensäußerungen selbst gesagt. Aus der Biologie der Geschlechter ließe sich noch nicht ableiten, was ein ‚Mann‘ oder was eine ‚Frau‘ ihrer Natur nach sind. Dennoch ist die biologische Verschiedenheit nicht bedeutungslos. Über eine entsprechende Differenzierung in die eine oder in die andere Richtung, Freiheit oder Determination, ist noch nichts gesagt, wenn wir mit Plessner davon ausgehen, daß die Naturprozesse „in das seelische Sein“ „hineinragen“.

Indem sich Merleau-Ponty weigert, zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen zu unterscheiden, weil alle Zeichen künstlich sind, auch die leiblichen Gebärden, nivelliert er die Differenz zwischen wortloser Gebärde und Wortsprache. Plessner hingegen verlegt die entscheidende Differenz sogar auf einen noch früheren Zeitpunkt, indem er schon zwischen unbewußter Mimik und bewußter Gebärdensprache unterscheidet, ob also jemand freundliche Zugewandtheit mimisch spontan oder nur als höfliche Gebärde zum Ausdruck bringt: „Aber der gleitende Umschlag von der natürlichen Mimik zur gewollten (oder jedenfalls der Konvention unterliegenden) Gebärdensprache kann den Wesensunterschied zwischen beiden Ausdrucksweisen nicht verwischen. Wenn die Geste etwas ausdrückt, indem der Mensch mit ihr etwas meint, so hat der mimische Ausdruck ... eine Bedeutung, indem sich in ihm eine Erregung (ein Zustand oder eine Aufwallung des Innern) spiegelnd äußert.“ (Plessner 1950/1941, S.70)

Anders als Plessner, der zwischen dem bewußten ‚Gebrauch‘ einer Gebärde, mit der ich etwas zum Ausdruck bringe, so daß sich hier eine Differenz zwischen ‚sagen‘ und ‚meinen‘ eröffnet, und der Mimik unterscheidet, in der sich eine Emotion jenseits dieser Differenz bloß ‚spiegelt‘, schlägt bei Merleau-Ponty – gerade weil ihm beim Menschen alles unterschiedslos Kultur bzw. ‚künstlich‘ ist – die Kulturleistung par excellence, die Sprache, in bloße Natur um. Sie wird zur Sprachgebärde, ‚in‘ der wir uns – um mit Plessner zu sprechen – nur noch ‚spiegeln‘ können, als Ausdruck unserer Inkarnation.

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