„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 7. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Der Reflexbogen besteht in der kürzesten Verbindung zwischen Reiz und Reaktion. Allenfalls bei den konditionierten Reflexbögen haben wir es dabei noch mit jener „raschen Kognition“ zu tun, wie sie Damasio auf ehemals bewußte, ins Unbewußte abgesunkene Lernprozesse bezieht, deren ‚Programme‘ nun automatisch, unter Umgehung des Bewußtseins, ausgelöst werden können. (Vgl. Antonio R. Damasio, Descartes Irrtum (5/2007, S.V) Die kürzeste Verbindung zwischen Reiz und Reaktion, konditionierter oder auch nicht-konditionierter Art, führt also immer am Bewußtsein vorbei. Warum? Bewußtsein ist langsame Kognition!

Blumenberg zufolge ist sogar die Wahrnehmung selbst, also der die eintreffenden Reize registrierende und selektierende Mechanismus, schon jenseits des Reflexbogens: „Die Wahrnehmung ist gewissermaßen ein Auslöser, der nicht funktioniert, ohne daß zuvor gefragt worden wäre oder gefragt werden könnte, was er erfordert.“ (Blumenberg 2007, S.32) – Die Wahrnehmung selbst stellt also schon eine Verzögerung dar, eine Verlangsamung jenes Prozesses, in dem „die überwältigende Fülle aller Wahrnehmungen urteils- und begriffslos durch uns hindurchgeht, unverarbeitet, unbeachtet wie ein Geräusch, wie ein Hintergrund, wie eine diffuse Landschaft.“ (Blumenberg 2007, S.32)

Die Wahrnehmungsreize bilden demnach ein vom Reflexbogen getragenes Rauschen, aus dem das menschliche Bewußtsein mit Hilfe von Sprache und Haltung die relevanten Geräusche herausfiltert, was insgesamt einen recht umständlichen Mechanismus darstellt und eben vergleichweise viel Zeit erfordert. Erst der kulturelle Kontext, also Sprache, in Kombination mit der individuellen Haltung formt aus den Wahrnehmungsreizen jene Wahrnehmung, die nun keine einfachen Reflexe mehr ‚auslöst‘, sondern immer erst einen Bewußtseinsakt erfordert, eine Entscheidung, bevor wir handeln.

Das führt zu einer anthropologischen Neubewertung des Handelns selbst. Der Mensch galt im Unterschied zum Tier lange Zeit als das handelnde Wesen, während Tiere nur reagieren. Das führte zu einer Aufwertung des Handlungsmoments gegenüber primär geistigen Bewußtseinsphänomenen. Bewußtsein als Intentionalität erfüllte sich letztlich weniger in der expressiven, Inhalte zum Ausdruck bringenden Funktion von Sprache, sondern vielmehr in der performativen, Handlungen initiierenden Funktion von Sprache, die sogar selbst als Handlung, eben als Sprech-Handlung beschrieben wurde. für diese Sichtweise auf den Menschen und die Sprache steht insbesondere die Sprechakttheorie: „Was der Sprachhandlung wichtig ist, ist nicht das, was sie zu sagen hätte. Dieser Begriff der Sprachhandlung hat eine hochgradige Affinität zum sophistischen (oder besser: der Sophistik nachgesagten) Begriff der Rhetorik.“ (Blumenberg 2007, S.86)

Im Grunde kann man sagen, daß der Reflexbogen als kürzeste Verbindung zwischen Reiz und Reaktion nun durch eine andere kürzeste Verbindung ersetzt worden ist: durch die zwischen Sprechen und Handeln, weil jetzt nämlich das Sprechen selbst zum spezifisch menschlichen Handeln wird. In diesem Zusammenhang wird der Mensch Blumenberg zufolge wieder zu einem Wesen stilisiert, „das sich die Verweilstufen diesseits von Handlungen gar nicht leisten kann, ein bedrängtes und zur Aktion und Interaktion gedrängtes Wesen ...“ (Blumenberg 2007, S.86)

Unter dem Druck der „Unerläßlichkeit und Unaufschiebbarkeit des Handelns als konstitutiven Moments des menschlichen Daseins“ (Blumenberg 2007, S.87) verliert der Mensch genau jenen Spielraum, den das Bewußtsein braucht, um sich entfalten zu können. Damit verliert er zugleich, um mit Plessner zu sprechen, die ihn auszeichnende Doppelaspektivität von Innen und Außen, die die expressive Struktur aller seiner Lebensäußerungen – einschließlich des Handelns – bildet. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Der Kurzschluß zwischen Sprechen und Handeln nivelliert jenen Zwischenraum, den Spielraum des Bewußtseins, der auch nach Plessner das eigentliche Kriterium unserer Menschlichkeit bildet. ‚Handeln‘ meint eben weder einfach agieren und reagieren noch Sprechen als Handeln. Als spezifisch menschliches Handeln meint es vor allem: sich im Handeln ausdrücken, – also Expressivität. In dem damit angesprochenen Bruch (Hiatus) zwischen Innen und Außen entfaltet sich der Spielraum des Bewußtseins.

Kommt noch ein weiterer Aspekt zum Kurzschalten von Sprechen und Handeln hinzu, nämlich daß alles, was des Sagens wert ist, auch sagbar sein muß (vgl. Blumenberg 2007, S.104), so steuern Grammatik, Syntax und Lexikon nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser Denken. Denn wo es weder zwischen Sprechen und Handeln ein Verweilen noch eine Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem gibt, „kommt es zu einem Absolutismus vom Rücken her.“ (Blumenberg 2007, S.103f.) – Und: „Nichts ist uns gegeben, was uns nicht durch Sprache vorgegeben wäre. Ist das befriedigend?“ (Blumenberg 2007, S.104)

Indem Blumenberg mit seiner Anthropologie des aufrechten Ganges den Finger auf eben diesen Punkt, auf die Gefährdung von Spielräumen durch konstitutiven „Zeitmangel“ (Blumenberg 2007, S.91) legt – denn immer schon haben wir zu wenig Zeit, sei es, um unsere Ziele zu erreichen, sei es, um Bedrohungen rechtzeitig auszuweichen –, befindet er sich im Einklang mit Plessner. Ähnlich wie Plessner verweist Blumenberg nämlich auf die Notwendigkeit, dem Bewußtsein Raum zu schaffen, Freiräume, die wir besetzen können, so wie es mit der Selbstaufrichtung begonnen hatte, mit der wir unseren Horizont erweiterten und uns Zeit verschafften, das, was uns bevorstand, vorwegzunehmen und zu bewältigen, bevor es uns erfaßte und überwältigte.

Zu diesem Zweck bedurfte und bedarf es nach wie vor durchaus „Abkürzungen“, wie Blumenberg feststellt. So eine Abkürzung stellt z.B. die Wissenschaft dar, die es uns ermöglicht, von den Erfahrungen und vom Wissen anderer zu profitieren, ohne daß wir diese Erfahrungen selber noch einmal durchleben müssen. (Vgl. Blumenberg 2007, S.21) Als eine andere Abkürzung bezeichnet Blumenberg die „Rhetorik“, die es uns ermöglicht, durch Überredung, also unter Umgehung mühsamen, zeitaufwendigen Diskutierens und Argumentierens zu Entscheidungen zu gelangen. (Blumenberg 2007, S.91)

Dieser Hinweis auf die Abkürzungsfunktion von Rhetorik wirft ein überraschend positives Licht auf die mit ihr verbundenen Manipulationstechniken, wird aber vielleicht dadurch etwas relativiert, daß Blumenberg der Rhetorik die Metapher zuordnet. Und auf die „Kühnheit“ der Metapher, die „extrem auseinanderliegende Bereiche miteinander“ zu verbinden vermag (vgl. Blumenberg 2007, S.28), werde ich im nächsten Post noch zu sprechen kommen. Hier soll vorerst der Hinweis genügen, daß diese Fähigkeit, „extrem auseinanderliegende Bereiche“ miteinander zu verbinden, einem Tigersprung gleich Gräben überbrückt, die uns ihr mühsames Schaufel für Schaufel Zuschütten mittels ausführlicher Argumentation erspart. Zumindestens für den Anfang. Damit überhaupt etwas getan werden kann. Die argumentative Schaufelarbeit kann dann hinterher nachgeholt werden.

Derartige Abkürzungen sind sozusagen ein Erfordernis der „praktischen Vernunft“, die dort ihr Werk verrichtet, wo die theoretische Vernunft unweigerlich an ihre Grenzen kommt, wie Blumenberg mit Bezug auf Kant konstatiert. (Vgl. Blumenberg 2007, S.44, 59, 92) Denn die praktische Vernunft kann – anders als die theoretische Vernunft – auf vollständige Argumentationszusammenhänge verzichten, und  sie hat, so Blumenberg, gegenüber der Rhetorik den Vorteil der Autonomie (vgl. Blumenberg 2007, S.92), was ich so verstehe, daß die praktische Vernunft nicht manipulativ ist, sondern dem subjektiven Willen des Handelnden entspringt. Ich möchte an diese Stelle anknüpfen und die praktische Vernunft nicht nur auf den subjektiven Willen, sondern auch auf die individuelle, durch einen lebenslangen Bildungsprozeß geprägte Haltung zurückführen. Die Haltung ist nicht mehr und nicht weniger als verkörperte praktische Vernunft.

Damit hat sie zwar keinen Anteil an dem transzendentalen Anspruch der praktischen Vernunft. Aber hier macht sich vielleicht auch der Umstand bemerkbar, daß Kant seine Vernunftbegriffe als „Ideen“ konzipiert. Ich hingegen ziehe es vor, vom „Sinn von Sinn“ zu sprechen. Ich glaube, daß beides auf dasselbe hinausläuft, nämlich auf die Notwendigkeit eines autonomen Gewissens bzw. eines autonomen Verstandesgebrauchs. Dennoch gibt es Unterschiede im Begründungszusammenhang, auf die ich – zumindestens zum Teil – im nächsten Post noch eingehen werde.

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