„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 26. September 2011

Der Intellektuelle auf dem Papststuhl

Anläßlich des gerade beendeten Deutschlandbesuchs des Papstes und seiner hier gehaltenen Reden ist immer wieder vom „Intellektuellen auf dem Papststuhl“ die Rede. In dieser Beschreibung des Papstes schwingt ein gewisser Respekt mit, verbunden mit einem leisen Bedauern, daß ihm nur wenige sachverständige Zuhörer folgen können. Und zu dieser Beschreibung gehört auch immer wieder die deutlich zum Ausdruck gebrachte Enttäuschung, daß seine Gesprächs- und Kompromißbereitschaft gegenüber Andersdenkenden und Anders- oder Gar-nicht-Gläubigen gegen Null tendiert.

Diese Melange aus unterschwelligen bis expliziten Konnotationen scheint mir von einer gewissen Verwunderung darüber getragen zu sein, daß gerade ein Intellektueller, der doch von einer lebendigen Streitkultur herkommt und diese offensichtlich nach wie vor zu schätzen weiß, so dogmatisch auftritt. Aber letztlich ist es doch der tiefste Instinkt jedes Intellektuellen, nicht einfach nur zu streiten, sondern am Ende auch Recht zu behalten. Jeder Intellektuelle ist vor seinem ‚Gewissen‘ überzeugt, im Besitz der besseren Argumente zu sein. Insofern ist jeder Intellektuelle ein kleiner Papst.

Intellektualität zeichnet sich nicht etwa dadurch aus, daß man seine eigene Meinung bezweifelt, sondern daß man argumentiert, d.h. daß man seine Meinung aufs Spiel setzt und sie dem Konkurrenzkampf der Meinungsvielfalt aussetzt. Nur Intellektuelle argumentieren. Alle anderen schlagen lieber gleich zu, wenn sie sich und ihre Meinung durchsetzen wollen. Der Umgang des normalen Menschen mit seiner Meinung unterscheidet sich nämlich nicht vom Umgang des normalen Gläubigen mit seinen Glaubenssätzen. Als 1989 die Mauer fiel, konnten plötzlich viele Bürger in den künftigen neuen Bundesländern ‚ihre‘ Meinung frei äußern. Meinungsfreiheit war von einem Tag auf den anderen plötzlich zu einem hohen Gut geworden, das jeder für sich in Anspruch nahm. Mir fiel auf, daß viele der künftigen neuen Bundesbürger – nicht anders übrigens als viele der alten Bundesbürger auf der anderen Seite der ehemaligen Grenze – dabei etwas mißverstanden. So sehr sie nämlich das neue Recht, frei die eigene Meinung äußern zu können, nun auch ausgiebig nutzten, so wenig waren sie bereit, diese Meinung im Gespräch aufs Spiel zu setzen und hinterfragen zu lassen. ‚Meinung‘ wurde mit ‚Privat‘-Meinung gleichgesetzt. Mit der Äußerung ihrer Meinung schien für sie – so hatte ich den Eindruck – die Diskussion beendet zu sein. Tatsächlich beginnt die Diskussion damit aber erst!

Die Meinungsfreiheit wurde auf zwei Sätze reduziert, die man formelhaft, wie einen Glaubenssatz, vor sich her trug. 1. Satz: „Dies oder jenes ist nicht in Ordnung!“, bzw.: „Dies oder jenes soll nun geschehen!“; und 2. Satz: „Das ist meine Meinung!“ – Das Possessivpronomen wurde (und wird) dabei besonders betont, im Sinne von: „Dies ist jetzt mein Recht, das mir keiner mehr nehmen darf!“ – Diese Art Meinungsfreiheit ist aber nur eine Stammtischfreiheit, wo man sich unter seinesgleichen wechselseitig darin bestätigt, immer schon im Recht zu sein. In so einer Stammtischrunde wird aber nicht wirklich etwas riskiert. Um etwas zu riskieren, muß man argumentieren. Denn nur wer argumentiert, riskiert auch, daß er unter Umständen widerlegt werden könnte. Und erst in diesem Augenblick, wo wir unsere Meinung der Kritik anderer aussetzen – wo wir etwas riskieren –, können wir auch wirklich von Meinungsfreiheit sprechen. Von jener Meinungsfreiheit nämlich, die uns grundgesetzlich garantiert ist.

Ansonsten sollten wir nämlich nicht von Meinungsfreiheit sprechen, sondern von Glaubensfreiheit. Glaubensfreiheit ist die einzige Form der Meinungsfreiheit, die nicht widerlegt zu werden braucht. Der entsprechende Paragraph im Grundgesetz, die Religionsfreiheit nämlich, schafft so etwas wie ein Reservat für Meinungen, die man einfach so haben darf: eine Art Naturschutzgebiet für seltene Tierarten, die dem Naturprozeß der gegenseitigen Auslese entzogen werden. Der einzige Unterschied zwischen Meinungen und Glaubenssätzen besteht also darin, daß Meinungen nicht nur jederzeit widerlegt werden können und dürfen, sondern sogar widerlegt werden müssen, weil nur in diesem möglichen Widerlegtwerden die Meinungsfreiheit ihren Sinn erfüllt.

Ansonsten aber gilt eben auch für Intellektuelle, daß sie ihre Meinungen im Überlebenskampf der öffentlichen Debatten nicht gerne sterben sehen. Insofern bildet der Papststuhl eine ideale ökologische Nische für jeden Intellektuellen, in der er nach Herzenslust argumentieren kann – sich als Intellektueller nach Herzenslust ausleben darf –, ohne sich der Gefahr auszusetzen, am Ende nicht Recht zu behalten. In diesem Sinne ist dem ehemaligen Professor Ratzinger, als er zum Papst gewählt wurde, im wahrsten Sinne des Wortes ein Himmelsgeschenk gemacht worden. Er kann seine Meinung zur Lehrmeinung machen und sie auch argumentativ subtil begründen, ohne daß ihm irgendjemand widersprechen und damit ins Unrecht setzen kann. Niemand sollte sich darüber wundern, daß er nicht darauf verzichten will, dieses Amt gemäß seiner intellektuellen Natur auszufüllen.

Da macht es nun auch Sinn, daß der Papst (oder Prof. Ratzinger?) um dieses Privilegs willen die Kirche jetzt von der Welt wegrücken will. Etwas so Köstliches wie das Bewußtsein, immer schon im Recht zu sein, muß mit allen Mitteln bewahrt werden. Damit aber nähert sich die päpstliche Theologie endgültig dem Stammtischniveau an. Im nicht irritierbaren Kreis der Gleichgesinnten meint und glaubt es sich doch am besten. – Schade eigentlich um die vielen guten Denkanstöße, die die Papstreden im übrigen sonst noch enthalten haben.

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