„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 4. August 2011

Len Fisher, Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen, Frankfurt a.M. 2010 (2009)

1. Schwarmintelligenz als universales und skalenfreies Phänomen
2. Mustererkennung und Gestaltwahrnehmung
3. Mehrheitsentscheidungen und individuelles Urteil
4. Gesellschaftsfähigkeit
5. Bildung und Netzwerk

Fisher spricht an einer Stelle von der „kollektiven Intelligenz in der menschlichen Gesellschaft“ (Fisher 2010, S.19). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Schwarmintelligenz auch kollektive Intelligenz ist? Da Schwarmintelligenz keine zentralisierte Intelligenzform ist, ist sie auch kein Bewußtsein. Mit Plessner gehe ich davon aus, daß zum Bewußtsein Positionalität gehört: zentrische Positionalität bei Tieren und exzentrische Positionalität beim Menschen. (Vgl. meinen Post vom 24.10.2010) Weil Schwarmintelligenz also kein Bewußtsein ist, kann sie auch kein Unterbewußtsein haben. Kollektive Intelligenz hingegen erinnert an das kollektive Gedächtnis und hat deshalb Anteil an dem Unterbewußtsein einer Gesellschaft, die in den Individuen ihre zentralisierten Intelligenzformen hat. Nur über diese Individuen – und über das kulturelle Gedächtnis – kann sie auch ein Unterbewußtsein haben. (Vgl. meine Posts zu Assmann vom 04.02.2011 bis zum 19.02.2011)

Fisher geht auf den Zusammenhang von Schwarmintelligenz (Biologie) und kollektiver Intelligenz (Gesellschaft) nicht weiter ein. Ob er überhaupt beim Begriff der kollektiven Intelligenz in diese Richtung gedacht hat, ist eher zweifelhaft. Mir gibt er damit allerdings damit die Gelegenheit, die Frage nach der ‚Gesellschaftsfähigkeit‘ der Schwarmintelligenz aufzuwerfen.

Wenn es um Schwarmintelligenz beim Menschen geht, dann wird entweder sein Verhalten bei Massenpaniken angesprochen oder die Gruppenintelligenz bei Entscheidungsprozessen oder bestimmte soziale Organisationsformen wie z.B. Unternehmen oder Internetplattformen wie Amazon oder Wikipedia (vgl. Fisher 2010, S.114-117). Bei diesen sozialen Organisationsformen bewegen wir uns aber nun mitten im engeren Bereich gesellschaftlicher Strukturen. Kann die Schwarmintelligenz uns hier neue Aufschlüsse über das Verhalten von Individuen geben?

Das Wenige, das Fisher dazu beiträgt, besteht lediglich in dem Hinweis darauf, daß „die Gesellschaft mehr ist als die Summe ihrer Teile“ und wir uns deshalb „vor Situationen in Acht nehmen (müssen), in denen die Komplexität die einfachen Regeln außer Kraft setzt. Einfach ist schön und gut, aber die Komplexität geht vor.“ (Fischer 2010,.S.21) – Das kann man vielleicht als Hinweis darauf nehmen, daß die Schwarmintelligenz mit ihren drei bis vier Regeln der Anziehung, Abstoßung, Ausrichtung und der Zielorientierung zu einfach gestrickt ist, um das komplexe Gebilde der menschlichen Gesellschaft erklären zu können. Dem würde ich mich ohne weiteres anschließen wollen, wobei man aber sicher daran guttut, nicht zu vergessen, daß die komplexe Ordnung einer Gesellschaft durchaus ihre eigene Dynamik hat, die jederzeit in so etwas wie Schwarm-‚Intelligenz‘ umschlagen könnte, – wobei man hier wiedermal den Begriff der Intelligenz in Anführungszeichen setzen muß.

Die Gefahr, die dem Einzelnen von der Schwarmintelligenz droht, besteht eben im Wegfallen der gesellschaftlichen Schutzmechanismen, die Plessner in „Grenzen der Gemeinschaft“ beschrieben hat. (Vgl. meine Post vom 14.11.2010 bis 17.11.2010) – Fisher deutet diesen Zusammenhang an, wenn er von der Gefahr spricht, daß sich die Individuen der Gemeinschaft aufopfern: „Wenn man diese Vorstellung auf die gesamte Menschheit übertragen würde, wäre das Ergebnis der Schönen neuen Welt Aldous Huxleys sehr nahe: ... Glücklicherweise sind solche Opfer nicht nötig. Untersuchungen der Schwarmintelligenz zeigen, dass das Schwarmverhalten den Verlust der Individualität nicht voraussetzt. Stattdessen lernen die Angehörigen des Schwarms mit den Artgenossen in ihrer unmittelbaren Umgebung angemessen zu interagieren. Wenn wir uns richtig verhalten, entsteht die Schwarmintelligenz ganz von selbst.“ (Fisher 2010, S.191)

Da Fisher keinen eigenen Begriff von Gesellschaft hat, kann er von ihr nur im begrifflichen Rahmen der Schwarmintelligenz sprechen. So gesehen befindet er sich hier im Einklang mit Plessner, wenn er fordert, daß die „Angehörigen des Schwarms mit den Artgenossen in ihrer unmittelbaren Umgebung angemessen () interagieren“. Indem er auf diese Weise die Notwendigkeit ‚richtigen Verhaltens‘ einklagt, aus der die Schwarmintelligenz „ganz von selbst“ entstehen kann, bewegt er sich auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen, wie sie Plessner beschrieben hat und die das Individuum vor der Selbstpreisgabe an das Große Ganze einer schrankenlosen Gemeinschaftlichkeit schützen.

Trotz Fishers expliziter Stellungnahme zur Gesellschaft als ‚Schwarmintelligenz‘ möchte ich ihn also doch für das Gegenteil in Anspruch nehmen: Schwarmintelligenz ist nicht gesellschaftsfähig!

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen